IV.
Schwingungsdämpfer
Der zweite Tag begann. Denis öffnete die Augen. Hatte er sich das Leben auf einem Raumschiff so vorgestellt? Er wusste es nicht. Die Nacht war unruhig gewesen. Sie fehlte ihm. Auf dieser Reise zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden war ohnehin nur der Gewohnheit geschuldet. Draußen war es immer dunkel. Dennoch war er nicht allein. Jemand beobachtete ihn. Der Eindringling saß bereits auf seinem Bett.
»Dad.«
»Ja.«
»Bist du wach?«
»Ja.« Denis setzte sich auf. Mason war acht und vermisste sie nicht weniger als er.
»Ich kann nicht schlafen.«
»Das sehe ich …« Denis schaltete das Licht ein. Masons Augen waren rot. Er hatte geweint. Sie waren beide erst gestern aus dem Kälteschlaf erwacht. In ihrer Erinnerung hatten sie die Nacht zuvor noch zu Hause verbracht. Das war mittlerweile sieben Jahre her. Inzwischen hatten sie das heimische Sonnensystem bereits verlassen. Eine nicht einfach zu verdauende Tatsache.
»Darf ich bei dir bleiben?«
»Klar!« Denis nahm ihn in den Arm und machte das Licht wieder aus. Sie konnten noch zwei Stunden liegen bleiben.
Die Zeit wollte er nutzen. Die USS
London
hätte ihre gemeinsame Zukunft werden sollen. Aber das Leben interessierte sich nicht für die Pläne, die man machte. Sue war Pilotin, Offizierin und ihm in allen Dingen überlegen gewesen. Sie hatte immer von fremden Welten geträumt, er nur von einer bezahlbaren Wohnung in London. Alles in ihrem Leben hatte sich um diese Mission gedreht.
Er war fünfunddreißig und drei Jahre älter als sie. Als sie sich vor vierzehn Jahren kennenlernten, hatte sie frisch von der Schule beim Militär angeheuert. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits studiert. Sie war diejenige gewesen, die sich gegen Tausende andere Bewerber durchgesetzt hatte, er war nur ihr Partner gewesen. Für ihn galten vereinfachte Bedingungen, zudem sprach seine Eignung als Techniker für ihn. Elektronik, Mechanik, Chemie, der Kram lag ihm. Damit kam er klar. Mit dem Leben nicht.
Sue war vor sieben Monaten gestorben. Im Winter. So unnötig verdiente niemand abzutreten. Sie sei ausgerutscht und habe sich den Ellenbogen geprellt, hatte sie gesagt, am nächsten Morgen lag sie tot neben ihm im Bett. Die Ärzte hatten ihm später erklärt, dass eine Hirnblutung für den Tod verantwortlich war, sie musste sich bei dem Sturz den Kopf gestoßen haben.
Hätte er bleiben sollen, obwohl Sue und er auf der Erde bereits die Zelte abgebrochen hatten? Die Möbel waren verschenkt und die Wohnung gekündigt gewesen. Eigentlich hatte er zu diesem Zeitpunkt erwartet, wegen ihres Unfalls von der Besatzung aussortiert zu werden. Was aber nicht geschehen war. Er galt als nützlich. Der General hatte ihm sein Vertrauen ausgesprochen. Jedem anderen hätte Denis den Mittelfinger gezeigt. Jedem anderen, aber nicht Mellenbeck. Er glaubte ihm. Gebraucht zu werden half in solchen
Momenten. Mason hatte ihn gebraucht, und er brauchte einen Job, bei dem er nicht jeden Tag an Sue denken musste. Die Vorstellung, viele Jahre traumlos zu schlafen, hatte ihm gefallen. Mittlerweile ängstigte sie ihn. Egal, was auf ihn wartete, er musste sich dem stellen. Für Mason, für Sue, für den General und vor allem für sich selbst.
Carl war ein feiner Kerl, der über die Jahre sein bester Freund geworden war. Ein Single, der, solange er ihn kannte, scharf auf Jazmin Harper war. Doc Unnahbar, die, zugegeben, den schärfsten Hintern in der Flotte besaß. Jeder andere hatte bei ihr ebenfalls einen Treffer setzen wollen, allerdings war es niemandem gelungen. Denis hatte Sue gehabt. Sie lebte nicht mehr. In puncto Ehrgeiz hatten sich die beiden Frauen nichts geschenkt.
Er erwischte sich dabei, den Doc attraktiver zu finden, als er es bisher für möglich gehalten hatte. Er war erst fünfunddreißig und nicht für das Leben als Mönch geboren. Bei der Ankunft auf der neuen Welt würde er siebenundvierzig sein.
Sorry, Carl, du wirst das Rennen verlieren, dachte er. Das Date würde er sich holen. Dann döste er wieder ein.
»Dad!«, rief sein Sohn, der ihn nicht schlafen lassen wollte. »Aufstehen! Ich muss gleich zur Schule!«
»Ja … ja.« Denis rieb sich die Augen und blickte auf den Wecker, der erst in dreiundzwanzig Sekunden einen Laut von sich geben würde. Das war Timing. Diese Pünktlichkeit hatte der Junge nicht von ihm. Sue war der Offizier in der Familie gewesen, bei der sogar die Käsescheiben in korrekter Formation auf dem Toast zu liegen hatten.
»Du musst aufstehen!«
»Ich habe es verstanden …« Denis schaltete den Wecker aus, bevor er klingelte.
»Los, wir haben keine Zeit zum Trödeln!« Mason lachte und sprang auf ihm herum. Denis schnappte sich den Kleinen, warf ihn auf die Seite und kitzelte ihn. Beide lachten. Es war schön, seinen Sohn bei sich zu haben. Für ihn lohnte es sich zu kämpfen.
»Dad?«
»Ja.«
»Warum lebt Mum nicht mehr?« Die Frage musste früher oder später wiederkommen. Er hatte sie seinem Sohn bereits mehrfach beantwortet, ohne ihm damit Erleichterung verschaffen zu können.
»Es war ein Unfall … Sie ist gestürzt. In der Nacht begann sie, innerlich zu bluten. Daran ist sie gestorben.« Denis benutzte diese Worte jedes Mal wieder. Er wollte dem Tod den Schrecken nehmen, ihn aber auch nicht verharmlosen. »Wir haben sie begraben … weißt du noch? An dem Tag schien die Sonne.«
»Kommt sie wieder?« Die ausgelassene Laune schlug augenblicklich um, er begann zu weinen. Kinder erlebten Trauer auf ihre eigene Art. Das kam immer wieder.
»Nein.«
»Aber …«
»Wir werden immer an sie denken … aber sie kommt nicht wieder zurück. Der Tod beendet das Leben.« Denis hätte sich gewünscht, es weniger harsch sagen zu müssen. Mason musste allerdings lernen, die Realität zu akzeptieren.
»Dad?«
»Ja.«
»Warum hast du sie getötet?«
»Ich …« Denis verschlug es die Sprache, so hatte Mason noch nie reagiert.
»Warum?«
»Aber …«
»Hast du sie nicht mehr liebgehabt?« Die Mundwinkel des Jungen zogen sich trotzig nach unten. Das war keine Frage, sondern eine Anklage. Was war mit ihm los?
»Mason!«
»Sie hätte noch bei uns sein können!«
»Nein … das war ein Unfall!«
»Hast du es dir gewünscht?« Mason riss sich los, er schlug nach ihm. Denis steckte die Treffer regungslos ein.
»Mason! Ich habe deine Mutter geliebt!«
»Ich liebe sie immer noch! Du etwa nicht mehr?«, schrie der Kleine. Denis aktivierte das Licht. Masons Gesicht war vor Wut verzerrt. Speichel lief sein Kinn herab. Jähzorn erfüllte seine Augen. So kannte er seinen Sohn nicht.
»Mason! Hör auf damit!« Denis hielt die dünnen Arme fest, was seinen Sohn nicht davon abhielt, weiter zu toben.
»DU
HAST
SIE
GETÖTET
!«
»Nein!«
»DU
BIST
EIN
MÖRDER
!« Mason begann, nach ihm zu treten. Denis wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte doch nicht sein Kind niederschlagen. »MÖRDER
!«
»Mason! Halt den Mund!« Er sah sich völlig ratlos um. Das Familienapartment bestand aus zwei Schlafräumen, einer Nasszelle und einer Wohnküche. Eine Lösung war nicht in Sicht. Der Streit wirkte so unwirklich.
Dann war plötzlich Schluss. Als ob jemand den Schalter in dem Jungen umgelegt hätte. Mason nickte. Das kindliche Gesicht entspannte sich. Er lächelte sogar. Solche Stimmungsschwankungen kannte Denis bei seinem Sohn überhaupt nicht. Es war, als würde er einen Fremden im Arm halten. »Alles wieder gut?«, fragte Denis, der sich den zweiten Tag nach dem Kälteschlaf anders vorgestellt hatte.
»Ja.« Da war wieder das Kind, das er liebte.
Denis ließ ihn los, worauf Mason aufsprang und aus vollem Lauf gegen die Wand rannte. Der Aufschlag warf den Jungen zurück. Er landete besinnungslos auf dem Boden und blutete aus der Nase.
»MASON
!« Der Ruf erreichte ihn nicht mehr. Denis sprang hinterher und überprüfte am Hals den Puls. Er hatte noch einen. Das war doch verrückt! Kein Kind verhielt sich so! »MUTTER
!«
»Ja.«
»EIN
NOTFALL
, MEIN
SOHN
HAT
SICH
VERLETZT
!« Denis saß in Shorts am Boden und hielt Masons Kopf. »WIR
BRAUCHEN
SOFORT
HILFE
!«
»Er hat eine Fraktur des Nasenbeins … aber keine inneren Blutungen«, erklärte der Doc. Jazmin Harper saß auf dem Boden seines Schlafzimmers und versorgte seinen Sohn. Mit einem mobilen Scanner hatte sie Kopf und Wirbelsäule untersucht. So hätte ihr Treffen nicht ablaufen sollen.
»Das ist …« Denis suchte nach den richtigen Worten. Was war mit Mason los?
»Ich lasse ihn auf die Krankenstation bringen.« Jazmin stand auf und überließ es einer medizinischen Drohne, den Jungen auf einer schwebenden Trage aus dem Zimmer zu bringen. »Wir werden ihn im Auge behalten.«
»Danke.« Seine Finger zitterten.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Es war ein Unfall …«, stammelte er. So ein Blödsinn, wenn jemand mutwillig gegen eine Wand lief, war das kein Unfall. Aber was war es dann? Er wusste es nicht.
»Möchten Sie mir erzählen, was vorgefallen ist?« Jazmin legte die Hand an seinen Arm.
»Mason hat mich geweckt … Wir sprachen über seine tote Mutter.«
»Sue, richtig?« Jazmin kannte sie natürlich.
»Über ihren Tod … Er ist noch nicht darüber hinweg. Ich auch nicht. Als ob sie noch gestern bei uns gewesen wäre … Dann begann er plötzlich, mich zu beschimpfen. Er schlug auch nach mir … Ich habe es nicht verstanden.«
»Was haben Sie getan?«
»Ich habe ihn festgehalten.« Denis hätte ihn nicht wieder loslassen dürfen.
»Und dann?«
»Er beruhigte sich. Dachte ich zumindest … Na ja, für einen Moment war alles wieder gut. Ich ließ ihn los, worauf er aufsprang und mit voller Wucht gegen die Wand lief.«
»Einfach so?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Die Erklärung hörte sich auch selten dämlich an. Welcher Achtjährige rannte schon gegen Wände, nachdem er seinen Vater als Mörder tituliert hatte?
»Ich konnte es nicht verhindern … Dann habe ich Hilfe gerufen.«
»Verstehe …« Jazmin sah sich die Wand an, gegen die Mason gelaufen war. Ein feiner Blutfaden lief die helle Kunststoffverkleidung herab. Er würde es gleich wegwischen.
»Wirklich?« Die Zweifel in ihren Augen waren nicht zu übersehen. Glaubte sie etwa, dass er seinen eigenen Jungen gegen die Wand geschleudert hätte?
»Mason ist ein Kind.«
Er nickte.
»Die Welt sieht aus ihren Augen anders aus …«
»Das stimmt.«
»Sie müssen ihm mehr Zeit geben.«
»Ja.«
»Ich werde mich um ihn kümmern.« Jazmin nahm ihren Koffer und verließ sein Apartment.
»Danke.« Denis seufzte und schloss die Augen. Sue hatte ihn zurückgelassen, ihr gemeinsamer Junge forderte mehr, als er geben konnte, und Jazmin Harper hielt ihn offenbar für ein Monster, das seinen Sohn verprügelte.
Drei Stunden später. Denis machte Pause, die Arbeitsliste, die Mutter ihm gegeben hatte, war lächerlich. Er stand vor der Krankenstation. Er konnte Mason durch eine Glasscheibe beobachten, der Kleine schlief. Bei dem Stunt in seinem Schlafzimmer hatte er sich die Nase gebrochen. Das würde er überleben. Der Schrecken, den er Denis damit eingejagt hatte, würde länger anhalten. Warum hatte er das getan? Aus Trauer über den Tod seiner Mutter? Aus Wut auf ihn? Aus Angst vor der Zukunft? Warum nur?
»Hi …« Jazmin trat neben ihn. Dunkle Haut und weiße Haare, das sah echt spacig aus, sie passte auf dieses Raumschiff. Er weniger. Er war nicht mehr als ein Trittbrettfahrer.
»Wie geht es ihm?« Wenn Denis nur wüsste, was er hätte anders machen sollen.
»Er schläft …«
»Ist das gut?«
»Ja.« Sie lächelte.
»Warum hat er es getan?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie standen eine Weile schweigend nebeneinander, dann verabschiedete er sich. Er würde später wiederkommen.
Denis war mit dem Scooter zum Antriebssektor der USS
London
gefahren. Das war eine Strecke von fast achtzehn Kilometern. Die Kiste mit vier Sitzplätzen brauchte dafür
eine halbe Stunde. Das einundvierzig Kilometer lange Schiff bestand zur Hälfte aus Triebwerken und magnetisch gesicherten Antimaterie-Arrays. Da das Licht in einer Sekunde fast 300000
Kilometer schaffte, entsprachen 0
,44
c, also 44
Prozent der Lichtgeschwindigkeit, gerundet 475
Millionen Kilometern in der Stunde. Das war sauschnell. Mit der Geschwindigkeit hätte man die Erde in einer Sekunde mehr als dreimal umrunden können.
Um die fette britische Lady auf die gewünschte Reisegeschwindigkeit zu bringen, brauchten acht Triebwerke bei 17
g Schub neun Tage. Das Abbremsen dauerte ähnlich lange. Damit bei 17
g, also der siebzehnfachen Erdanziehungskraft, niemand seine Mandeln verschluckte, wurde der Aufenthaltsbereich der Crew wie auch der der Tiere einer räumlich begrenzten gegenläufigen Gravitation ausgesetzt. Ohne diese Technologie hätte das ansonsten niemand überlebt.
»Mutter, ich bin da …« Er bremste das Fahrzeug ab. Die endlosen Gänge waren in dieser Zone klaustrophobisch. Hier hielt sich niemand freiwillig auf. Licht gab es nicht mehr als nötig. Um sich zu identifizieren, legte er seine Hand auf eine Glasfläche vor einer Schleuse.
»Sicherheitscheck eingeleitet.«
»Ich bin dicht …« Denis kannte die Regeln. Ohne den Schutzanzug würde man nach dem Besuch der Antriebssektion leuchten wie ein Glühwürmchen. Das wäre sehr schlecht. Ein paar Tage später würden einem die Ohren und andere lose mit dem Torso verbundene Körperteile abfallen.
»Sicherheitscheck bestätigt. Beobachtung initiiert. Öffne die Schleuse. Sie haben ein Arbeitsfenster von dreißig Minuten.«
Mutter nahm es genau. Nacheinander öffneten sich mehrere jeweils ein Meter starke Sicherheitsschleusen. Während sich
die letzte Tür öffnete, war die erste schon wieder verschlossen.
»Yeah!« Denis fragte sich in diesem Moment, ob er das Kleingedruckte in seinem Arbeitsvertrag wirklich gelesen hatte.
»Das habe ich nicht verstanden.«
»Schon gut …« Er fuhr weiter. Ein Bildschirm am Scooter wies ihm den Weg. Das Ziel lag im nächsten Seitengang. Es galt, einen defekten Schwingungsdämpfer unter einem Antimaterie-Array zu tauschen. Während vorne im Schiff bis zu vierzig Decks den Rumpf füllten, wurde die Antimaterie in großen Hallen untergebracht. In diesem Aggregatzustand war das Zeug harmlos. Wenn man es zur Annihilation brachte, wurde mehr Energie freigesetzt als bei eine Atombombenexplosion.
Am Ziel angekommen, stellte er den Scooter ab und sah sich die Beschädigung an. Jeder der pechschwarzen Antimaterie-Arrays war zylinderförmig, sechzig Meter hoch und neun Meter breit. Vier Einheiten bildeten einen Verbund, sechs Verbünde einen Block und zwölf Blöcke einen Sektor. Acht Sektoren wurden von der Brücke jeweils als eine logische Einheit betrachtet. Von denen gab es zweiunddreißig. Es gab also 73728
solcher Tanks auf der USS
London
. Jeder Tank stand auf einer Grundfläche von hundert Quadratmetern. Die zweiunddreißig Brandschutzabschnitte verteilten sich auf einer Fläche von 17500
mal 450
Meter. Das war schon üppig hier. Denis liebte es, sich diese Zahlen ins Gedächtnis zu rufen.
»Mutter?«
»Ja.«
»Wie kann ein Schwingungsdämpfer kaputtgehen?« Denis löste zwei Wartungsdrohnen, die hinten am Scooter
mitgefahren waren. Die in dieser Zone benutzten Bauteile sollten nach Wartungsplan während der gesamten Reise nicht getauscht werden müssen. Verständlich, da Menschen in der Glühwürmchenzone nichts verloren hatten.
»Darüber liegen mir keine Informationen vor.«
»Aber du weißt, dass einer im Sack ist?« Wer diese KI
erfunden hatte, musste bei der Programmierung besoffen, auf Drogen oder beides gleichzeitig gewesen sein.
»Darüber habe ich allerdings exakte Informationen vorliegen.«
»Sehr gut.« Denis öffnete im Boden eine Revisionsklappe, damit die beiden tonnenförmigen Drohnen den Dämpfer tauschen konnten. Die Daten dazu hatten die Systeme bereits von Mutter erhalten. Das Loch war rattenduster und ging acht Meter nach unten. Da hatten sogar Menschen in Schutzanzügen nichts zu suchen. Die beiden Drohnen zögerten. »Auf was wartet ihr? Schönes Wetter?«
Die Dinger konnten nicht sprechen, aber Sprachbefehle verstehen. Beine hatten sie keine, dafür aber Schwebepads. Sie sahen aus wie blinkende Designermülltonnen. Ein System piepte leise.
»Echt jetzt?« Als R2
-D2
ging die Tonne nicht durch. Denis gab der ersten Drohne einen Tritt, die darauf mit einem langgezogenen Pfiff im Loch verschwand. Die zweite kam seinem Tritt zuvor und sprang selbst. Die Dinger sollten den Job erledigen. Er wollte diese Zone so schnell wie möglich wieder verlassen. Die Uhr tickte. Er hatte noch vierundzwanzig Minuten.
»Die Drohnen verfügen über eine Schutzschaltung zur Eigensicherung, die man für eine emotionale Reaktion halten könnte. Natürlich ist das nicht so.«
»Mutter, das sind nur Maschinen!« Denis sah auf die Uhr.
Er wollte weg hier. Die Reparatur des Schwingungsdämpfers, raus aus der Zone, zurückfahren, Krankenstation, Mason, das war der Plan. Ob er eine Chance haben würde, mit Jazmin Harper anzubändeln? Blödsinn, bei der arroganten Ziege garantiert nicht. Als Doktor von und zu Jagberg vielleicht, aber zu diesen Ehren hatte er es nie gebracht.
Nein, er hatte sogar sein Studium abgebrochen, um bei Sue sein zu können. Einen Teil ihrer ewig langen Ausbildung hatten sie gemeinsam in der Wüste, im Dschungel, in der Arktis, auf dem Mond und sogar auf dem Meeresboden verbracht. Mann, was hatte er diese Frau geliebt und sie dennoch nicht festhalten können.
»Das ist mir bewusst.«
»Piept da einer von euch?«, fragte er laut in den Schacht hinein. Mindestens eine Drohne gab keine Ruhe.
»Ich höre es auch.«
»Vergesst es! Ich lasse euch da erst raus, wenn ihr fertig seid!« Da kannte er keine Gnade.
»Den Drohnen ist der Auftrag bewusst.«
»Sehr gut!« Denis dachte nach. »Wieso bin ich überhaupt hier?« Mutter und die Drohnen brauchten ihn nicht. Die hätten das Bauteil auch ohne ihn tauschen können.
»Die integrative Kommandoführung auf der
USS
London sieht vor, dass möglichst viele Aufgaben von Mensch und Maschine gemeinsam gelöst werden.«
»Ähm …« Jetzt fühlte sich Denis richtig dämlich. Er war also der Quotenmensch?
Zwei Minuten später stieg die erste Drohne wieder aus dem Loch empor. Ihre weißen Verkleidungselemente waren voller Öl, verstaubt und mit roter Hydraulikflüssigkeit besudelt. Die Revisionsschächte unter den Antimaterie-Arrays waren
echte Dreckslöcher. Als ob da unten hundert Jahre niemand mehr saubergemacht hätte. Zum Glück hatte er nicht selbst dort runtergemusst.
»Wo ist der alte Dämpfer?« Die Beschädigung eines Bauteils, das angeblich wartungsfrei sein sollte, wollte er sich gern ansehen. Bei der stattlichen Anzahl von Antimaterie-Arrays gab es verdammt viele Schwingungsdämpfer, die er sicherlich nicht alle nach und nach austauschen wollte.
Die Drohne piepte leise und neigte sich ihrem Kumpel zu, der den Schacht noch siffiger verließ. An der Seite arretiert befand sich der defekte Schwingungsdämpfer, ein armdickes und achtzig Zentimeter langes Bauteil. Das Ding sah übel aus. Vermutlich war es schon defekt verbaut worden. Sieben Jahre genügten nicht, um den Dämpfer derart altern zu lassen.
»In Ordnung, aufsitzen, Männer!« Denis zeigte auf die beiden Halterungen am Scooter. Die Drohnen verbrachten sich selbst in die für sie vorgesehenen Halterungen, während sie zufrieden vor sich hin brabbelten. Das war schräg. Beim Training hatten die Drohnen nie einen Ton von sich gegeben.
Denis verließ die Antriebszone, nachdem Mutter ihm und dem Scooter noch eine gründliche Reinigung verpasst hatte. Die auf ihn einwirkende Strahlung lag weit unter dem Grenzwert. Der Job war erledigt. Die KI
hatte ihm aufgetragen, sich dennoch von Dr. Harper untersuchen zu lassen. Das war Vorschrift, passte ihm aber in den Kram. Dabei würde er nach Mason sehen können.
Die Fahrt dauerte. Der Scooter schaffte nicht mehr als 38
km/h. Zudem war die Strecke nicht gerade, an ein paar Ecken musste er abbremsen. In der Mittelzone des Schiffs
gab es Tausende Container. Aktive, die mit Energie versorgt wurden, um Embryonen tiefzukühlen, und passive, in denen sich alles Mögliche befand. Alles, was man für einen Neustart der Menschheit benötigte. Wegen der gigantischen Entfernung von der Erde würde es nicht jede Woche ein Raumschiff geben, mit dem man hin und her fliegen konnte.
Hinter ihm wurde ein Pfeifen lauter. Was war das? Denis sah sich um. Zu langsam. Der andere Scooter schoss bereits mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Verdammt, das war Carl. Wie hatte er so schnell einen Rennscooter auf die Beine stellen können? Der Arsch hatte die Kiste mindestens auf achtzig gebracht. Carl bremste vor ihm ab. Auch Denis stoppte.
»Hab kurz eine Testfahrt gemacht«, erklärte Carl. Das stimmte natürlich nicht. Was er wirklich sagte, war, sieh her, du Wicht, mit diesem Flitzer werde ich dich abziehen.
»Scheint gut zu laufen …« Denis zeigte mit dem Daumen nach oben. Er stieg aus und warf einen Blick auf die Aufhängung der Akkus. Daran hatte Carl nichts verändert. Das waren die originalen Lithium-Polymer-Einheiten. Billig in der Herstellung und zuverlässig in der Nutzung. Nicht die Wahl, die Denis getroffen hätte.
»Geht wie Sau!« Carl legte noch einen Zahn zu, vermutlich sah er Jazmin Harper bereits in Abendgarderobe und bei Kerzenschein vor sich sitzen.
»Wie ist die Kurvenlage?«, fragte Denis und legte bei dieser Frage die Hand auf die Motorabdeckung zwischen den hinteren Rädern. Auf dem Kunststoff hätte man Eier braten können. Carl hatte die höhere Leistung aus einer Übertaktung des Spannungswandlers bezogen. Das war der billige Weg.
»Spitze!« Carl lächelte. »Ich werde aber noch etwas an der
Aufhängung feilen. Mit einem negativen Sturz der hinteren Achsgeometrie werde ich die Kurven schneller nehmen können.«
»Guter Plan!« Denis hielt sich zurück. Sein Freund, der Physiker, hatte bisher nicht mehr gemacht, als die Betriebsspannung zu erhöhen. Damit brachte er die Akkus zum Glühen, die dafür nicht konzipiert waren, und verkürzte die Reichweite. Wenn er Pech hatte, würden ihm die Motoren durchschmoren, weil sie die höhere Spannung nicht länger als einige Minuten vertrugen.
»Man sieht sich!« Carl winkte noch, während er die Reifen des Scooters durchdrehen ließ.
»Bis später …« Denis fuhr weiter. Eine der Drohnen piepte, die würde er R2
nennen, die andere D2
. »Jungs, ihr habt recht. Carl hat keine Ahnung, was er tut.«
Ein paar Minuten später fuhr Denis winkend an Carl vorbei, der mit dem Feuerlöscher in der Hand seinen qualmenden Scooter einpulverte. Die Strecke war eine Piste durch die Hölle. Das Rennen war noch nicht entschieden.