V.
Ausgebremst
Jazmin gähnte, sie war müde. Bereits am zweiten Tag ein Kind auf der Station liegen zu haben gefiel ihr nicht. Während der Ausbildung hatte sie wenig mit Denis Jagberg zu tun gehabt. Als Angehöriger von Sue war er erst nach ihrer Heirat ins Team gerutscht. Die Frau war gut gewesen: bissig, geradeaus und hochintelligent. Nach ihrem Tod hätte es Jazmin nicht gewundert, wenn Mellenbeck ihren Witwer aussortiert hätte. Was er jedoch nicht getan hatte. Für Kommandooffiziere waren Techniker oft nur Hilfskräfte. Eine arrogante Einschätzung, von der sie sich nicht freisprechen konnte.
Bei einer abschließenden virtuellen Übung vor dem Start hatte sie die Techniker in Aktion sehen können, die im Notfall lebensgefährlichen Situationen ausgesetzt waren. Denis Jagberg hatte damals Bestnoten erreicht, weil er das Schiff in- und auswendig kannte sowie in völliger Schwerelosigkeit und im defekten Druckanzug mit einem Pulsschlag von unter achtzig in der Minute komplexe Reparaturen an einer Platine vornehmen konnte. So abgebrüht war sonst niemand gewesen, weswegen er der einzige Partner eines zertifizierten und dann verstorbenen Besatzungsmitglieds war, dem es gelang, sich nicht nur einen Platz an Bord der USS
London
zu sichern, sondern auch zur Führungskraft befördert zu werden. Er war der leitende Techniker an Bord und
hatte damit sogar einen Offizier abgelöst, der bei derselben Übung weniger cool agiert hatte.
»Wie geht es dir?«, fragte Jazmin und legte Mason die Hand auf die Stirn. Aus medizinischer Sicht war das unnötig, da der Computer seine Körpertemperatur und andere Vitalwerte überwachte. Spüren konnte der Junge sie auch nicht, da er tief und fest schlief. Die Geste war für sie. Es fühlte sich gut an. Die lange Reise würde niemand von ihnen allein schaffen. »Ich habe deinem Vater versprochen, gut auf dich aufzupassen.«
Jazmin überflog die an dem Display neben dem Bett anzeigten Werte. Mit dem Kind war alles in Ordnung. Körperlich zumindest. Was war in der Kabine wirklich vorgefallen? Sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Die Schlafräume wurden nicht dauerhaft überwacht. Nur auf Befehl des Generals hätte Mutter der Besatzung unter die Bettdecke geschaut. So waren die Regeln.
»Was hat dein Vater mit dir gemacht?« Jazmin dachte wieder an Denis Jagberg, ein eher farbloser Typ, ruhig, zurückhaltend, man überging ihn leicht. Bestimmt ein guter Vater. Körperlich war er wie andere Männer an Bord, groß und sportlich. Ein Europäer mit deutschen Wurzeln, kurzen dunklen Haaren, dunklen Augen und gepflegten Händen. Sie lächelte. Wegen der Hände musste sie kurz an ihren älteren Bruder denken. Finch, der sich als Inspector bei der Londoner Polizei deutlich unter Wert verkaufte. Nichts war Finch wichtiger gewesen, als gepflegte Hände zu haben, das war eine richtige Marotte von ihm. Sie konnte sich an einige schräge Geschichten von früher erinnern.
»Was hast du mit deinem Dad gemacht?« Sie fuhr Mason durch die dunklen Haare. Er war seinem Vater ähnlich. Nein, ein Typ wie Jagberg würde nicht die Beherrschung verlieren
und seinen Sohn gegen die Wand schleudern. Das passte nicht zu ihm. Wie bei Rufus Simmerkirk, der in der Notfallübung aus der Spur geraten war. Es war nicht plausibel.
Jazmin senkte den Kopf, sie war jemand, der gern alles im Griff hatte. Den Job, ihr Leben, Männer und die Welt, in der sie lebte. Alles sollte sich wie ein riesiges Puzzle zusammenfügen. So war sie erzogen worden. Bei ihrem Vater hatte auch immer alles gepasst. Sie vermisste ihn.
»Warum bist du gegen die Wand gelaufen?« Jazmin erwartete keine Antwort. Manche Fragen ließen sich nicht beantworten. Jedenfalls nicht sofort. Sie würde deswegen nicht aufhören, nach Antworten zu suchen. Vor einigen Jahren, als ihr Vater noch sprechen konnte, hatte er einmal zu ihr gesagt: Wenn es nicht möglich war, einer Antwort näher zu kommen, sollte man darüber nachdenken, ob man die richtige Frage gestellt hatte.
Jemand klopfte an die Glasscheibe. Jazmin drehte sich um, es war Denis Jagberg in einer verschwitzten Arbeitsuniform. Sie hatte ihn erwartet. Er lächelte. Das galt nicht ihr, er sah zu seinem Kind. Sie verließ das Krankenzimmer.
»Etwa gearbeitet?« Jazmin war nach wie vor der Meinung, dass die Techniker zumindest bis jetzt sieben Jahre bezahlten Urlaub genossen hatten. Die 490
-köpfige Besatzung war in zwölf Teams aufgeteilt. Jedes Team hatte vierzehn von seiner Sorte. Es gab also 168
Techniker, die ihm unterstanden. Auch bei den Teams existierte eine Hierarchie. Mellenbecks Schicht gab bei vielen Dingen den Ton an. Der General war der leitende Kommandant, Carl Moretti der leitende Navigator, sie die leitende Ärztin, Rufus Simmerkirk der leitende Datenanalyst und Denis Jagberg der leitende Techniker. Wenn es in anderen Schichten zu schweren Problemen kam, hätte man sie auch außerhalb der Rotation geweckt.
»Ähm … ja.« Jagberg zeigte durch die Glasscheibe auf seinen Sohn. Jazmin wollte den Jungen nicht stören. »Wie geht es ihm?«
»Er schläft.«
»Das ist …« Er sah zu Boden. Mit dem Schraubenzieher konnte er eindeutig besser umgehen als mit Worten.
»… in Ordnung.« Erst in diesem Moment registrierte sie, dass Denis Jagberg der einzige Mann der aktiven Crew war, der noch nie versucht hatte, sie zu einem Bier zu überreden. Oder was sich Männer sonst noch ausdachten, um einen Stich zu machen. Sie waren achtunddreißig. Drei Kinder waren außen vor. Es blieben achtzehn Männer und siebzehn Frauen. Die meisten Beziehungen hatten sich bei der Ausbildung zwischen den Bewerbern ergeben. Mellenbeck machte bei dem Rennen nicht mit, da er sich aus religiösen Motiven für ein Leben ohne Partner entschieden hatte. Von den siebzehn möglichen Paaren waren dreizehn bereits liiert, ergo bestand der freie Markt aus Major Rufus Simmerkirk, Colonel Carl Moretti, Denis Jagberg und einem weiteren Techniker, dessen Namen sie sich nicht merken konnte. Dem gegenüber standen Captain Cloe Chang, Analystin, die Simmerkirk, ihrem Führungsoffizier, erfolglos nachlief, eine Technikerin mit dicken Schenkeln, eine weitere Analystin und sie. Bei ihnen hatte es bisher nicht gepasst.
»Mutter hat mir aufgetragen, dass ich mich untersuchen lassen soll. Ich habe einen Einsatz bei den Antimaterie-Arrays gehabt.«
»Im Glühwürmchenland?«
»Ähm … ja.«
»Na dann … bitte kommen Sie mit.« Jazmin ging vor. Mellenbeck selbst hatte den Begriff für diese Zone geprägt. War man drin, musste man hinterher die Strahlenbelastung
überprüfen. Natürlich hätte Mutter das auch selbst tun können, aber vermutlich wollte sie der Schiffsärztin nicht die Arbeit abnehmen.
Für die Energiegewinnung der USS
London
wurden Wasserstoff und Antimaterie basierend auf Wasserstoff mitgeführt. Sozusagen ein Antiwasserstoff, der in Penning-Arrays magnetisch gesichert wurde. Sobald man ein Wasserstoffatom auf ein Antiwasserstoffatom hetzte, reagierten beide Atome miteinander und zerstrahlten dabei vollständig. Das nannte man Annihilation. Ein sehr energiereicher Prozess, bei dem jede atomare Kollision 1
,88
Gigaelektronenvolt erzeugte.
Auf der USS
London
konnten 99
,78
Prozent dieser Energie für die Triebwerke umgesetzt werden. Die verbliebenen 0
,22
Prozent Abwärme genügten, um das gesamte Schiff zu heizen, die künstliche Gravitation entstehen zu lassen, sämtliche anderen Systeme zu betreiben, die Hochenergiewaffen mit Energie zu versorgen und mit den letzten frei umherirrenden radioaktiven Krümeln aus ihrer Antriebszone besagtes Glühwürmchenland zu eröffnen.
»Bitte ziehen Sie sich aus.« Jazmin hatte ihren Patienten in eine Messvorrichtung gesteckt, die nur für diese Aufgabe gebaut worden war. Eigentlich sollte es nicht notwendig sein, in der Antriebssektion Wartungsarbeiten durch Menschen vornehmen zu lassen. Die Praxis sah anders aus.
»Ja, Ma’am.« Jagberg strippte vor ihren Augen. Unwillkürlich zog sie die Mundwinkel nach oben. Er war gut gebaut. Der letzte nackte Mann in ihrem Leben war schon ein paar Tage her und hatte ihr nicht länger als eine Nacht Gesellschaft geleistet. Sex wurde überbewertet.
»Die Kleidung in die Klappe legen.«
Er folgte der Order. Die Kleidung wurde gesondert
abgetastet. Negativ, dem Stoff hafteten keinerlei radioaktive Teilchen an.
»Die Arme heben …« Der Scanner fuhr mehrfach um ihn herum. Der Schutzanzug hatte dicht gehalten. Auch er war frei von radioaktiven Teilchen.
»Und?«, fragte er.
»Noch einen kurzen Moment …« Jazmin zögerte und betrachtete einen Moment seinen nackten Hintern. Der war niedlich. Zwar etwas blass, aber wohlproportioniert. »Alles in Ordnung. Sie sind sauber und können sich wieder anziehen.«
»Ähm … danke.«
»Ich melde mich bei Ihnen, wenn Ihr Sohn aufwacht.« Der Kleine hatte den ganzen Tag geschlafen, obwohl er keine Medikamente bekommen hatte.
»Meine Schicht endet um 19
Uhr … Ich komme dann wieder.«
»Tun Sie das.« So ging es natürlich auch.
Zwei Stunden später. Jazmin ging in die Kantine, um sich frisches Obst zu holen. Die Äpfel waren hervorragend, sie hatte einen zum Frühstück gegessen.
»Hi, Rufus …« Sie wartete bereits auf die nächste Einladung zum Bier. Ob er wusste, dass sie lieber Wein trank? Vermutlich nicht, sie kannten sich schließlich erst acht Jahre.
Nichts. Er lief an ihr vorbei, als ob sie nicht existieren würde.
»Rufus?«
Keine Reaktion.
»Geht es dir gut?«, fragte sie ihn, hinterherblickend. Er hatte nicht reagiert. War er sauer auf sie? Dazu hatte er eigentlich keinen Grund. Was sollte dieses merkwürdige Verhalten?
Er lief schweigend eine Treppe hinab und verschwand aus ihrem Blickfeld. Jazmin blieb stehen. Sah sie jetzt schon Gespenster? Auch wenn er es in acht Jahren nicht begriffen hatte, dass eine Dose Bier nicht der passende Schlüssel zu ihrem Herzen war, war das kein Grund, sie jetzt zu ignorieren.
Sie ging weiter. Na ja, man sollte nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen. Im medizinischen Logbuch des Schiffs hatte sie gelesen, dass die sechs Schichten vor ihnen jeweils die vierzehn Monate Dienst ohne kritische Zwischenfälle absolviert hatten. Inzwischen waren sogar 491
Personen an Bord. In der dritten Gruppe hatte es eine Geburt gegeben. Ein Mädchen, Kind und Mutter waren wohlauf.
In der Kantine schnappte sie sich einen Apfel und biss herzhaft hinein. Bis auf zwei Frauen war der Raum leer. Die Reinigungsarbeiten wurden von Drohnen erledigt.
»Hallo, Jazmin.« Das war Cloe. Captain Cloe Chang, mit der sie sich auf der Akademie gut verstanden hatte. Sie war die inoffizielle Datenbank für alle Beziehungsfragen. Neben ihr stand eine Frau, Anfang dreißig, die sie nicht kannte. Das konnte passieren. Zu den 490
Personen, die beim Start dabei gewesen waren, waren in den zwei Wochen zuvor noch drei Nachrücker dazugekommen. Sie ersetzten Personen, die abschließende Tests nicht bestanden hatten.
»Cloe.« Jazmin gab ihr die Hand.
»Das ist Sue …« Cloe lächelte und legte die Hand an Sues Schulter. Eine schlanke Blondine mit schulterlangen Haaren, die ebenfalls lächelte und das Rangabzeichen eines Majors trug. »Sie ist Navigator.«
»Hallo.« Sue gab Jazmin die Hand. Sue Jagberg stand auf dem Abzeichen. »Schön, Sie wiederzusehen.«
»Ähm …« Jazmin wusste für einen Moment nicht, was sie
sagen sollte. Das war schräg. Es war tatsächlich Sue, die Frau von Denis Jagberg, sie kannten sich.
»Alles in Ordnung?«, fragte Cloe, als ob nichts wäre. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Nein, nein …« Jazmin überlegte, ob das wieder eine dieser dämlichen Übungen sein konnte? Wenn ja, war das ein ziemlich geschmackloses Szenario.
»Jazmin, Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen«, spaßte Sue. Womit sie sogar den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Wie konnte das sein?
»Der Kälteschlaf … Ich brauche immer zwei Tage, bis ich wieder online bin.« Jazmin hatte keine Ahnung, wie sie in dieser Situation reagieren sollte. Sie stand einer Toten gegenüber, deren Leiche sogar auf der Erde begraben worden war. Das wusste sie genau, da sie auf Sues Beerdigung gewesen war. Wie auch Cloe und zahlreiche andere Offiziere der Crew. Es war eine beeindruckende Zeremonie gewesen.
»Geht mir auch so.« Cloe pflichtete ihr bei. »Ich habe jedes Mal Kopfschmerzen.«
»Ich komm damit ganz gut klar.« Diese Person, diese Sue, dieses Ding, das vor ihr stand, hatte offensichtlich keinen blassen Schimmer, dass sie bereits vor Monaten gestorben war. Jazmin schrie sich in Gedanken an, Ruhe zu bewahren. Das war eine gefährliche Situation. Jede verwirrende Lage ging auf mangelhafte Informationen zurück und war potentiell gefährlich. Hier lief etwas aus dem Ruder. Sie hatte keine Ahnung, was, aber sie musste es herausfinden. Überraschungen wie diese sollten sie nicht erschrecken, sondern dazu motivieren, die richtigen Fragen zu stellen.
»Ihr Mann war vorhin bei mir.« Jazmin ging auf das Spiel ein, nur so konnte sie der Auflösung näher kommen.
»Denis?« Sie lächelte erneut. Immerhin kannte sie ihn.
Jazmin wollte nicht wissen, wie er reagieren würde. Das war Wahnsinn. Das konnte nicht die Realität sein. Ob das Übungsszenario einen Datenfehler hatte? Das mochte eine Erklärung sein.
»Eine Schutzuntersuchung … es war alles in Ordnung.« Jazmin beobachtete jede Geste. Die Augen, die Lippen, die Finger, alles behielt sie im Blick.
»Er ist Techniker und kommt immer mit schwarzen Fingern heim.« Sue legte den Kopf auf die Seite, das hatte sie früher auch getan. Sie war es, eindeutig, daran gab es keinen Zweifel.
»Wie geht es Ihrem Sohn?« Jazmin entschied sich, in die Offensive zu gehen und Sue in einen offenen Widerspruch zu treiben. Ob sie wusste, wo sich Mason gerade aufhielt?
»Kinder sind offener für Neues als wir.« Was für eine nette Glückskeksweisheit.
»Das stimmt!« Cloe nickte.
»Das ist eine Notfallmeldung für Colonel Harper. Es gibt einen medizinischen Notfall erster Priorität. Bitte finden Sie sich umgehend auf Deck sieben ein«
, tönte es aus dem Lautsprecher. Mutter rief nach ihr. Es ging um Menschenleben.
»Entschuldigung …« Jazmin hatte keine Zeit zu verlieren.
»Selbstverständlich.« Sue nickte.
Jazmin sprintete los. Auf Deck sieben befand sich ihre Krankenstation. Ob etwas mit dem Jungen passiert war? Sie sprang die Treppe herunter. Noch ein Deck.
»Das ist eine Notfallmeldung für Colonel Harper. Es gibt einen medizinischen Notfall erster Priorität. Bitte finden Sie sich umgehend auf Deck sieben ein.«
»Mutter, ich bin unterwegs!«
»Es gab einen Unfall. Colonel Carl Moretti ist verunglückt.«
Jetzt sprach Mutter über ihr Kommunikationssystem. Das hätte sie auch bereits bei der ersten Meldung benutzen können. Die KI
hatte doch sonst nicht so eine lange Leitung.
»Besteht Lebensgefahr?«
»Das Fahrzeug wurde noch nicht geborgen. Zwei Techniker sind auf dem Weg, um Sie zu unterstützen. Der Unfallort ist
5
,
2
Kilometer von Ihnen entfernt.«
»Ist er mit dem Scooter Rennen gefahren?« So weit hinten gab es nur Frachträume und die Antriebssektion. Was hätte er dort sonst tun sollen? Das durfte nicht wahr sein! Bei dieser Spinnerei von Mellenbeck war jemand zu Schaden gekommen!
»Darüber liegen mir keine Informationen vor.«
»Na klasse!« Jazmin war bei der Krankenstation angekommen. Ein Blick durch das Fenster zeigte, dass Mason schlief. Gut so. Das Überwachungssystem hätte sich auch gemeldet, wenn der Junge aufgewacht wäre. Bei einer Gehirnerschütterung, die er zweifelsfrei hatte, waren längere Schlafphasen nicht ungewöhnlich.
»Ich habe Ihren Scooter vorbereiten lassen«
, erklärte Mutter, während Jazmin ans Steuer sprang. Jetzt würde sie ein Rennen fahren, um so schnell wie möglich zu Carl Moretti zu kommen. Die unglaubliche Größe der USS
London
stellte bei medizinischen Notfällen eine echte Herausforderung dar.
»Ich möchte mit ihm sprechen!« Hoffentlich war er noch ansprechbar.
»Das ist nicht möglich.«
»Ist er wach?«
»Darüber liegen mir keine Informationen vor.«
»Lebt er überhaupt noch?«
»Darüber liegen mir keine Informationen vor.«
Mist, das war doch zum Haareraufen. »Ist schon jemand bei ihm?«
»Techniker sind in drei Minuten vor Ort.«
»Welche Techniker?« Jazmin pfiff mit dem Scooter um die Ecken. Ein Zweisitzer, der zudem Platz für eine Trage bot. Hinten angehängt waren zwei medizinische Drohnen, die ihr beim Transport helfen oder sie bei lebensrettenden Maßnahmen unterstützen konnten. Ein Blick auf das Display zeigte ihr die Fahrstrecke und die verbleibende Zeit an. Knapp sieben Minuten.
»Denis Jagberg und Tarek Abbas«
, antwortete Mutter.
»Verbindung schalten!«
»Doc, wir sind auf dem Weg zum Unfallort.«
Denis Jagberg war hörbar selbst, so schnell es ging, auf einem Scooter unterwegs.
»Hier ist Harper. Denis, wann sind Sie vor Ort?« Sie brauchte mehr Informationen. Offenbar musste Colonel Moretti bereits minutenlang ohne Hilfe ausharren. In solchen Situationen kam es auf jede Sekunde an. Um über Sue zu sprechen, blieb keine Zeit, das hätte er ihr ohnehin nicht geglaubt.
»Etwas mehr als zwei Minuten.«
»Ich sieben. Denis, wissen Sie etwas über den Unfall?«
»Zu wenig … Ich habe ihn vorhin gesehen. Er fuhr mit einem getunten Scooter umher, hatte dann aber eine Panne. Zu diesem Zeitpunkt ging es ihm noch gut.«
»Wir sehen uns gleich. Ich lasse den Channel offen.« Jazmin überlegte, wie sie die Fahrzeit nutzen konnte, um weitere Informationen in Erfahrung zu bringen. Es kam auf jedes Detail an. »Mutter, ich brauche eine Videoaufklärung des Unfallvorgangs!«
»Auf diese Daten habe ich nur bedingten Zugriff.«
»Dann hol dir die Freigabe!« Die KI
hatte heute wirklich ein Brett vor dem Kopf. »Die Daten überträgst du sofort an den Scooter der Techniker und an meinen.«
»Order bestätigt. Vorgehen valide. Anfrage beim General gestellt.«
»Jetzt mach schon!« Es war ein Witz, bei solchen Dingen nachfragen zu müssen.
»Freigabe erteilt. Übertrage Stream.«
Mutter war eigentlich dafür konzipiert, derartige Entscheidungen eigenständig zu treffen.
Jazmin sah über den Stream, wie Colonel Moretti mit hoher Geschwindigkeit durch die Containertrasse bretterte. Mutter schnitt die Daten mehrerer Kameras in Echtzeit zusammen. Sie fand allerdings keine Einstellung, die den Colonel aus kurzer Distanz zeigte. Auf der Strecke gab es durch eine versetzt stehende Reihe Container eine Schikane. An dieser Stelle hätte Jazmin gebremst. Moretti tat es nicht und knallte mit voller Wucht gegen eine Stahlwand. Durch den Aufprall zerriss es den Scooter. Die hintere Achse löste sich vom Chassis und zerbarst an der Wand. Die Position der Kamera und die schlechte Beleuchtung ließen nicht eindeutig erkennen, was aus dem Fahrer wurde. Gut konnte es ihm kaum ergangen sein. Jazmin rechnete mit dem Schlimmsten.
»Colonel, das sieht nicht gut aus.«
Denis Jagberg sah dieselben Bilder wie sie. »Er ist auf die Wand geknallt, als ob er durch sie hindurchfahren wollte.«
»War er zu schnell?«
»Zu schnell?«
»Hat er die Kontrolle über den Scooter verloren?« Jazmin war beileibe keine Rennfahrerin, aber bei Tempo achtunddreißig konnte selbst sie den Scooter sicher steuern.
»Vermutlich. Er hätte bremsen müssen, einlenken und wieder beschleunigen … Das hat er nicht getan.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht … Die Wand aus Containern kann er kaum übersehen haben.«
»Nein …« Jazmin fuhr selbst an einigen vorbei und musste ab und zu ausweichen. Die roten, gelben und blauen Container, die sich hier turmhoch stapelten, konnte man wirklich nicht übersehen. Ein Suizid war bei Carl Moretti ebenfalls nicht vorstellbar.
»Ich bin jetzt bei ihm … Mutter soll Ihnen ein Livebild senden«
, meldete Denis Jagberg betroffen. »Colonel, Sie müssen sich nicht beeilen. Er ist tot.«
»Mutter!«
»Schaltung des Livebilds erfolgt.«
Jazmin sah den Scooter von Colonel Moretti brennen. Denis und Tarek, der zweite Techniker, standen daneben. Das war verwirrend. Sie sah Carl nun ein zweites Mal sterben. Dieses Szenario machte als Übung keinen Sinn. Hier war ihre Entscheidungsfähigkeit nicht gefordert. Das musste die Realität sein. Und Sue Jagberg, was war mit ihr? Jazmin verstand es nicht. Dieses Rätsel konnte sie nicht auflösen.
Jazmin dachte an die Leiche des Colonels, die bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Weder Denis noch sie hatten ihm helfen können. Sie waren zu spät gekommen. Wenn man die Nummer zwei strich, wurde die drei zur neuen Nummer zwei. Sie war jetzt der Erste Offizier an Bord. Auf diese Beförderung hätte sie gern verzichtet. Carl, dieser Spinner, hätte das Risiko nicht auf sich nehmen dürfen. Die Schnapsidee, aus Scootern Rennwagen zu machen, hatte ihn das Leben gekostet.
»Colonel Dr. Jazmin Harper. Der Anlass ist unerfreulich, dennoch müssen wir weitermachen«, erklärte General Mellenbeck. Sie befanden sich in seinem Büro. Auf einem Regal stand sich ein kleines Modell der USS
London
. Der General hatte es selbst gebaut. Dahinter hing eine historische Pistole, ein Colt Government M1911
, Kaliber .45
ACP
, mit fein verzierten Holzintarsien im Griff in einem Glaskasten in der Wand. Das verchromte Magazin und acht Patronen waren ebenfalls dekorativ arrangiert zu sehen. Ein Familienerbstück der Mellenbecks.
»Ja, Sir.«
»Sie sind jetzt der Erste Offizier an Bord.«
»Ja, Sir.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie die Beförderung annehmen.«
»Das ist selbstverständlich, Sir.« Jazmin hätte nein sagen können, als ein Date mit ihr für den Gewinner ausgerufen wurde, aber bestimmt nicht, wenn es um die Sicherung des Kommandos für das Raumschiff ging.
»Ich hätte damit rechnen müssen …«
»Ja, Sir.« Jazmin gab dem General eine Mitschuld und hatte nicht vor, ihre Meinung zurückzuhalten.
»Sie hätten es nicht getan, oder?«
»Vermutlich nicht, Sir.« Vielleicht eine andere Dummheit, aber vermutlich hätte sie Colonel Moretti und Denis Jagberg nicht motiviert, ein Rennen auf einer ungesicherten Rennstrecke zu fahren. Auf der Trasse zwischen den Containern gab es keinerlei Auslaufzonen. An vielen Stellen hätte ein Fahrfehler leicht zu einem Unfall führen können. Mutter hatte anhand des Streams berechnet, dass Carl mit 107
Stundenkilometern gegen den Container geknallt war. Das war wie ein Sturz aus elf Metern Höhe auf eine Stahlplatte. Ohne einen Sicherheitsgurt hatte er das nicht überleben können.
»Sie haben recht.« Mellenbeck sah den Fehler ein. Die Größe dazu hatte er.
»Mutter …«
»Ja, General.«
»Aktiviere das Gefechtsprotokoll C3
.«
»Übertragung der Kommandocodecs initiiert.«
»General?«
»Jazmin … das ist notwendig.«
»Sir … George, was ist mit Ihnen?« Jazmin hörte ein Zittern in seiner Stimme. So klang nicht der General, den sie kannte. So klang ein alter Mann, der wusste, wann es vorbei war.
»Eine reine Vorsichtsmaßnahme.«
»Sir, ich danke Ihnen für das Vertrauen.« Das Gefechtsprotokoll C3
sah vor, dass neben dem Kommandanten auch der Erste Offizier der zentralen KI
weitreichende Befehle erteilen durfte. Im Notfall würden damit zwei Offiziere ohne Verzögerung in der Lage sein, elementare Entscheidungen treffen zu können.
»Ich danke Ihnen.«
Jazmin hatte vor dem Gespräch geplant gehabt, über Sue Jagberg zu sprechen. Das konnte sie nicht ignorieren. Aber was hätte sie sagen sollen? Dass eine Leiche quicklebendig an Bord umherlief? Das war verrückt. Zu verrückt, um es anzusprechen, ohne über mehr Informationen zu verfügen.
Jetzt war Jazmin allerdings in der Lage, diesem Mysterium auf den Grund zu gehen. Für jede Antwort gab es die richtige Frage, und jetzt war sie befugt, Mutter ebendiese zu stellen.