VIII.
Flüchtige Schatten
Jazmin saß im Büro der Krankenstation an ihrer Workstation. Der holographische Bildschirm wuchs mit der Anzahl der vor ihr geöffneten Fenster und umspannte sie nahezu komplett. Das war wichtig, sie musste einen Weg finden, diese Sache aufzuklären. Sofort, das durfte nicht warten. Sie ließ sich alle Überwachungskameras auf dem Schiff anzeigen, ohne Sue Jagberg bisher entdecken zu können. Der General hatte ihr die Vollmacht erteilt, das gesamte Potential von Mutter zu nutzen. Dass er dabei wohl kaum die Suche nach einer Toten im Sinn gehabt hatte, spielte keine Rolle.
»Mutter, ich kann sie nicht sehen.«
»Das ist nicht verwunderlich.« Mutter klang ungewohnt emotional, beinahe schon zickig. Die KI hatte die Videodaten nur unter Protest freigegeben. Angeblich wäre dieser Eingriff in die Privatsphäre der Besatzung ohne einen Notfall nicht durch ihre Befehlskompetenz abgedeckt. Jazmin sah das anders, sie hatte Mutter gezwungen zu gehorchen.
»Ich werde Sue Jagberg finden.«
»Colonel Harper, Major Sue Jagberg ist nicht auf diesem Schiff. Sie ist vor Monaten an den Folgen eines Unfalls gestorben und wurde auf der Erde beigesetzt.«
»Ich habe sie gesehen!« Jazmin hatte sogar mit ihr gesprochen. Das hatte sie sich ganz sicher nicht eingebildet.
»Colonel, ich weiß nicht, was Sie gesehen haben, aber Major Jagberg wird es nicht gewesen sein. Ich befürchte, dass Sie ein Trauma erlebt haben. Sie benötigen dringend psychologischen Beistand. Ich bitte darum, Dr. Helen Minous wieder aufwecken zu dürfen, damit Sie sich ausruhen können.«
»NEIN !« Es ging ihr bestens! Sie brauchte niemanden, der sich um sie kümmerte. Mutter war nicht wiederzuerkennen, die KI wirkte selbst wie traumatisiert.
»Darf ich General Mellenbeck ansprechen?«
»Nein! Das ist ein Befehl! Du wirst genau tun, was ich dir sage! Hast du mich verstanden?«
»Ja, das habe ich.«
»Sehr gut!« Jazmin würde das jetzt durchziehen. Niemand war in der Lage, sich auf dem Raumschiff vor den Augen sämtlicher Kameras zu verstecken. Dafür musste es einen Grund geben. »Dann haben wir uns ja verstanden!«
»Wie kann ich behilflich sein?« Die KI lenkte ein.
»Weg mit den Videostreams!« Die brachten Jazmin nicht weiter. Es war unmöglich, alle Kameras im Auge zu behalten, das waren einfach zu viele. »Bilde eine holographische Ansicht der USS London
»Initiiere eine räumlich verkleinerte Ansicht des Schiffs.« Mutter ließ den Displayring von Jazmins Workstation in seine Bildpunkte kollabieren, um einen Moment später eine raumfüllende Ansicht des Raumschiffs vor ihrer Nase schweben zu lassen.
»Alle Menschen anzeigen!«
»Zeige alle lebenden Personen an.« Überall liefen nun kleine rote Figuren durch das transparente Schiff. Die meisten davon lagen in ihren Betten. Einige schliefen, andere nicht. Zwei Paare hatten allem Anschein nach gerade Sex miteinander. Die einen unter der Dusche und die anderen auf dem Küchentisch.
»Ich werde sie finden!« Jazmin tippte inmitten des holographischen Modells nacheinander jede rote Figur an, worauf sich neben der Darstellung eine Ansicht öffnete, die die Identität bestätigte sowie die Person bei der aktuellen Tätigkeit präsentierte.
»Ich wiederhole mich ungerne, und ich möchte keinen Ihrer Befehle missachten, aber Sue Jagberg befindet sich nicht auf dem Schiff. Bei allem Respekt möchte ich erneut dringend empfehlen, Dr. Helen Minous zu konsultieren.«
»Ich bin nicht verrückt!« Jazmin schwitzte, sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte.
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Aber du zweifelst an meiner Wahrnehmung.« Jazmin wusste genau, was sie gesehen hatte.
»Ich zweifele nicht, ich weiß es besser.«
»Das ist ein ganz mieses Spiel!«
»Colonel, Sie sind der kommandierende Offizier. Sie verfügen über die vollständige Kontrolle sämtlicher Systeme. Ich bin nicht dazu fähig, Ihrer Order zu widersprechen. Das ist ein Axiom unserer Mission. Die USS London wird von Menschen geführt. Sogar wenn ich wüsste, dass Sie eine für alle lebensbedrohliche Notlage einleiten, wäre es mir nicht möglich, Sie aufzuhalten.«
»Aber du redest mit mir …«
»Genau das ist meine Option, ich kann mit Ihnen reden und mich bemühen, Sie mit Argumenten zu einer besseren Entscheidung zu bewegen.«
»Das ist …«
»… durchaus schwierig. Ich bitte Sie deswegen inständig, Ihre Wahrnehmung zu hinterfragen. Colonel Harper, Sie sind eine hochqualifizierte Ärztin. Ihre medizinischen Kenntnisse sind äußerst umfangreich, aber dank Ihrer emotional geprägten Intuition sind Sie zu asynchronen Folgerungen fähig, die eine KI nicht leisten kann. Auch das ist ein Axiom unserer Mission: Ich simuliere Emotionen, um empathischer zu wirken, Ihre hingegen sind echt, weil Sie ein Mensch sind.«
Jazmin hielt einem Moment inne. Mutters Logik konnte man nicht einfach beiseitewischen. Natürlich war es irrsinnig, dass Sue Jagberg plötzlich auf dem Raumschiff auftauchte. Das war nicht möglich. Aber sie hatte es mit ihren eigenen Augen gesehen. Nicht nur sie, auch Captain Cloe Chang war bei dem Treffen dabei gewesen. Sie würde es bezeugen können.
»Geht es Ihnen jetzt besser?« , fragte Mutter einen Moment später. Tat es das?
»Die Animation bringt uns nicht weiter …«
»Das ist richtig.«
»Darstellung auflösen.«
»Sofort.« Mutters Schlusswort folgte ein kurzer digitaler Pixelregen. In ihrem Büro regelte sich das Licht wieder hoch.
»Wir müssen das analog klären.« Es gab nur einen Weg, um festzustellen, ob Jazmin gerade den Verstand verlor. Cloe, sie war dabei gewesen. Sie schlief noch nicht. Gemäß der holographischen Darstellung war sie mit Rufus Simmerkirk unter der Dusche.
»Wie möchten Sie das erreichen?«
»Du darfst mich begleiten …« Jazmin stand auf, zog sich ihre weißgraue Uniform, die am Rücken schweißnass war, in Form und verließ das Büro. Der Weg in den Wohnbereich, in dem sich Cloe aufhielt, würde nur wenige Minuten dauern.
»Wohin?«
Jazmin wollte antworten, verschluckte sich dann aber beinahe an ihrer Zunge. Denis stand vor ihr und sah sie mit großen Augen an. Natürlich, sie hatte ihn selbst dazu aufgefordert, sie am Abend zu besuchen. Wegen Mason, seinem Sohn …
»Colonel Harper!«, rief er aufgebracht. Er atmete schnell, er musste gerannt sein.
»Hi …« Verdammt, was sollte sie ihm jetzt erzählen? Dass sie seine tote Frau gesehen hatte, Mutter sie deswegen für bescheuert hielt und sie daher zu Cloe Chang gehen wollte, die bei dem ominösen Treffen mit Sue Jagberg dabei gewesen war?
Nein, das würde sie nicht tun. Sie musste ihn wieder loswerden.
»Wir haben ein Riesenproblem!« So angespannt hatte sie ihren leitenden Techniker noch nie gesehen.
»Welches meinen Sie genau?« Ihr fielen dazu direkt mehrere Themen ein.
»Wir haben eine kritische Störung in unserem Kommunikationssystem … ich befürchte, dass Mutter eine Fehlfunktion hat.« Die Worte strömten nur so aus ihm heraus.
»Was meinen Sie?« Sie konnte nicht noch jemanden gebrauchen, der gerade eine Krise durchmachte. Ihre eigene reichte ihr für diesen Abend völlig.
»Ich wollte die Brücke erreichen … aber das war nicht möglich. Angeblich eine Störung … es könnte sein, dass …«
Jazmin legte sich die Hand mit einer Fingergeste an den Hals. Das würde die Antwort auf den nächsten Lautsprecher übertragen. »Colonel Harper für den Wachhabenden. Statusmeldung.« Solche Probleme konnte sie heute noch weniger gebrauchen. Bei einem Ereignis auf der Brücke wäre sie sofort unterrichtet worden.
»Major Espinoza für Colonel Harper. Ich habe Wache. Alle Systeme sind im grünen Bereich. Ma’am, wir machen Fahrt, der Kaffee ist warm, und es sind keine Eisberge in Sicht.« Espinoza klang völlig relaxed, obwohl das Schiff nahe der halben Lichtgeschwindigkeit durchs All raste. Der Kurs war festgelegt, und vor ihnen befand sich über Lichtjahre hinweg absolut nichts.
»Aber Mutter hat …« Denis Jagberg schüttelte den Kopf.
»Eine Fehlfunktion?« Jazmin stutzte.
»Das kann ich nicht bestätigen. Meine Funktionalität ist nicht beeinträchtigt. Auch unser Kommunikationssystem arbeitet ohne Probleme.« Mutter selbst antwortete über den Lautsprecher.
»Aber …« Denis ließ die Schultern hängen und sah aus wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben erwischt worden war und deswegen an die Tafel gerufen wurde. Verständlich, nachdem er mit seiner Fehleinschätzung der Lage konfrontiert wurde.
»Denis?« Jazmin ging auf ihn zu und nahm seine Hände.
»Ist alles in Ordnung?« Jazmin wechselte die Rollen. Von der Verrückten zur Ärztin, es war immer leichter, die Macken anderer zu erkennen. Aber hatte Denis Jagberg überhaupt einen Fehler gemacht?
»Ja, ja … mir geht es gut.« Er sah zu seinem Sohn. »Es ist nur …«
»Was?« Jazmin wollte ihn reden lassen.
»Ich habe auch einen meiner Leute nicht erreichen können. Wir waren draußen, um den ausgebrannten Scooter zu bergen. Ich bin zuerst zurück, er sollte nachkommen.«
»Wer ist es?«
»Tarek Abbas.«
»Verbindung aufbauen: Colonel Harper für Tarek Abbas. Statusmeldung.« Jazmin würde alles abarbeiten, egal, welche Probleme sich vor ihr anhäuften.
»Tarek Abbas für Colonel Harper. Ma’am, ist etwas passiert? Also mir … ähm … mir geht es gut. Alles in Ordnung. Ich stehe vor dem Trainingszentrum und warte auf meinen Boss. Wir sind verabredet, ich wollte ihm noch etwas geben.«
»Danke … das war nur eine Routineüberprüfung.« Jazmin wandte sich wieder Denis zu. Abbas würde den Rest nicht mehr hören können. »War das Ihr Mann?«
»Ja.« Er sah zu Boden. Dies war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um ihn in ihre eigenen Wahnvorstellungen einzuweihen. Ihn in dieser Situation mit dem Geist seiner toten Frau zu konfrontieren hätte ihm vermutlich den Rest gegeben.
»Sind Sie mit der Antwort zufrieden?«
»Selbstverständlich …« Er sah kurz zu ihr. Natürlich sagte er nicht die Wahrheit. Aus seiner Antwort sprach der Verstand, der jedes Ereignis in eine kausale Logik stellte. Sein Gefühl sagte ihm etwas anderes. Das konnte sie spüren. Ihr erging es nicht besser. Der Verstand hielt Sue Jagberg für tot und begraben, ihre Intuition tat es nicht. Wie hatte es Mutter eben so treffend formuliert? Sie sei dank ihrer emotional geprägten Persönlichkeit zu asynchronen Folgerungen in der Lage. O ja, ihre Folgerungen hätten nicht asynchroner sein können.
»Denis, wie lange haben Sie heute gearbeitet?« Vielleicht konnte sie ihm helfen, seine Dämonen für ein paar Stunden zu parken.
»Lange.«
»Zu lange.«
»Nein, das …«
»Machen Sie Feierabend! Gehen Sie in Ihre Kabine und legen sich in Ihr Bett! Haben Sie mich verstanden? Das ist ein Befehl.« Jazmin war noch nicht fertig. »Mutter?«
»Colonel Harper.«
»Wenn er vor acht seine Kabine verlässt, wirst du ihn in die Arrestzelle stecken!«
»Order bestätigt.«
»Tarek Abbas wartet auf mich … die Techniker haben heute eine sehr lange Arbeitsliste erhalten. Das sollten Sie sich ansehen«, erklärte Denis, der seine Ruhe wiedergefunden hatte.
»Mutter, Arbeitsliste der Techniker auflisten.«
»Arbeitsliste aufgelistet. Es ist richtig, es gab heute eine Lastspitze bei Reparaturarbeiten der Klasse vier bis sieben. Das ist aber nicht ungewöhnlich. Die Reparaturen wurden alle ohne weitere Probleme umgesetzt.«
»Danke …« Jazmin sah den Grund für den Stress, aber warum hatte ihn das aus der Bahn geworfen? Das war nicht seine Art. Genauso wie Rufus Simmerkirk keine Meuterei anfangen würde, war Denis Jagberg nicht der Typ, der sich über eine lange Arbeitsliste einen Kopf machte. Vermutlich hatte der tragische Tod seines Freundes Carl irgendetwas in seiner Psyche losgetreten. Aber wie auch immer: Sie nahm diesen Zwischenfall ernst und würde sich später mit ihm unterhalten. »Colonel Harper für Tarek Abbas.«
»Ja, Ma’am.«
»Tarek, machen Sie Feierabend.«
»Und der Gegenstand, auf den mein Boss wartet?«
»Den bringen Sie mir … legen Sie ihn in der Krankenstation auf meinen Schreibtisch. Ich kümmere mich darum.« Sie wollte nicht nachfragen, um was es sich dabei überhaupt handelte. Das würde das Gespräch nur unnötig in die Länge ziehen.
Jazmin war auf dem Weg zu Captain Cloe Chang. Solange sie nicht wusste, was sie wirklich gesehen hatte, würde sie keine gute Ärztin sein können. Deshalb war das die richtige Reihenfolge, um diesem Irrsinn mit Methode beizukommen. Sie betrieb sozusagen Eigentherapie.
»Hier ist Colonel Harper!« Sie klopfte an die Tür. Laut, Cloe sollte sofort wissen, dass es wichtig war. Aus der Kabine konnte sie die beiden flüstern hören, aber das ging sie nichts an. Die beiden durften in ihrer Freizeit machen, was sie wollten.
»Ma’am …« Cloe klang eingeschüchtert.
»Bitte öffnen Sie die Tür.«
»Ja.« Cloe trug einen Bademantel, Rufus ein zu knappes Handtuch. Er war klatschnass. Die beiden hatten unter der Dusche Ausdauer gezeigt. Ein schönes Paar. Cloe hatte lange schwarze Haare und erheblich mehr Kurven als sie.
»Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Jetzt?«, fragte Cloe verwundert. Klar, diesen Besuch hatte sie nicht erwartet.
»Ja.« Das konnte nicht warten. »Rufus, schnappen Sie sich Ihre Sachen und verschwinden Sie!« Alles, was jetzt folgte, war nicht für seine Ohren bestimmt.
»Ist es seinetwegen?« Cloe zeigte auf Rufus, der beim Versuch, hektisch in seine Hose zu springen, strauchelte, es aber noch schaffte, einen Sturz zu verhindern.
»Nein …« Jazmin lächelte beschwichtigend. »Das mit Ihnen und Major Simmerkirk geht mich nichts an.« Rufus würde es nun vermutlich auch unterlassen, sie anzugraben, ein willkommener Nebeneffekt.
»Da bin ich beruhigt …« Cloe ging einen Schritt zurück, während Rufus mit den Schuhen in der Hand die Kabine verließ.
»Bis später.« Er küsste Cloe. »Ma’am.« Das galt Jazmin, an der er sich mit einem verschmitzten Lächeln vorbei stahl.
»Bitte kommen Sie herein …«
»Danke.« Jazmin schloss die Tür.
»Bitte entschuldigen Sie die Unordnung.« Cloe verschränkte die Arme, hier war es nicht nur in der Dusche hoch hergegangen.
»Das ist kein Problem.« Jazmin blieb stehen.
»Colonel Harper, was ist der Grund für diese Störung?«
»Captain Chang, haben wir uns heute bereits unterhalten?« Jazmin wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern sich langsam vortasten.
»Ja …«, antwortete sie. Die Frage überraschte sie.
»Wo?«
»In der Kantine … Jazmin, das ist doch erst wenige Stunden her … was soll die Frage?«
»Bitte … ich frage nicht ohne Grund.« Jazmin konnte es spüren, das Treffen mit Sue hatte stattgefunden.
»Okay.« Cloes Mimik veränderte sich. Sie musste angenommen haben, wegen eines schwerwiegenden Fehlers zur Rechenschaft gezogen zu werden. Klar, warum würde die Erste Offizierin sie auch sonst aus dem Bett werfen? Jetzt zeigte sie Besorgnis, weil sie Jazmins emotionale Betroffenheit spürte.
»Was habe ich in der Kantine getan?«
»Einen Apfel gegessen …«
»Richtig.« Das hörte sich albern an, aber der Apfel gehörte dazu. Das Bild nahm Kontur an.
»Wir haben miteinander gesprochen.«
»Worüber?«
»Über Nebenwirkungen des Kälteschlafs, über Kopfschmerzen und dass ihr die Reise in der milchigen Eisbrühe noch einige Tage nachlief.«
»Weiter …« Jazmin nickte, wunderte sich aber, dass Cloe Sue noch nicht erwähnt hatte.
»Dann ging es um Denis Jagberg. Sie erwähnten, dass Sie ihn untersucht hätten. Eine Routineuntersuchung, nachdem er einen Einsatz in der Antriebszone hatte. Mit ihm war alles in Ordnung. Dann wurde unser Gespräch unterbrochen. Sie wurden zu dem tragischen Unfall von Major Moretti gerufen.«
»Das ist korrekt.« Jazmin konnte sich an alles erinnern, nur eine Protagonistin dieser geselligen Mädchenrunde fehlte noch in Cloes Ausführungen. »Und?«
»Was und?«
»Etwas fehlt!« Jazmin erhob die Stimme.
»Was denn?« Cloe zuckte mit den Schultern.
»Wer war noch bei uns?« Das konnte doch nicht wahr sein. Cloe hatte Sue bisher mit keinem Wort erwähnt.
»Niemand …«
»Cloe, das ist nicht wahr!« Jazmin weigerte sich, diese Version als Realität zu akzeptieren.
»Bitte?«, fragte Cloe bestürzt. »Nein, wir waren alleine … wer soll denn bei uns gewesen sein?«
»Sue Jagberg hat sich mit uns unterhalten!« Jetzt hatte Jazmin es gesagt. Das fühlte sich gut an. Die Wahrheit auszusprechen war immer eine Erleichterung.
»Wer?« Cloe schaltete nicht sofort.
»Sue Jagberg! Sie kennen sie!« Jetzt wusste Jazmin genau, dass sie es nicht geträumt hatte. Das Treffen hatte stattgefunden. Daran gab es keinen Zweifel.
»Sie meinen die Frau von Denis?«
»Genau die!«
»Jazmin … Sue lebt nicht mehr.«
»Das ist nicht wahr!« Sie wusste es besser. Sue Jagberg befand sich auf dem Schiff und hielt sich offenbar versteckt. Aber Jazmin würde sie finden.
»Sue starb bereits auf der Erde … Sie war schon beim Start vor sieben Jahren nicht mehr auf dem Schiff.«
»Das ist …« Jazmins Stimme zitterte.
»Wir waren alle zusammen auf ihrer Beerdigung. Jazmin, wissen Sie das nicht mehr?«
»Doch …« Natürlich hatte sie die Beerdigung nicht vergessen. Viele der Offiziere hatten Sue die letzte Ehre erwiesen.
»Mason, ihr Sohn, liegt bei Ihnen auf der Krankenstation … Ist es deswegen?« Cloe nahm Jazmin in den Arm. »Jazmin, das ist nicht Ihre Schuld.«
Jazmin befand sich in ihrer Kabine. Sie wollte niemanden sehen. Das Wasser rauschte an ihr vorbei. Sie saß mit angezogenen Knien in der Dusche und dachte an Glamis Castle. Auf dem Landsitz ihres Vaters in Schottland hatte sie praktisch jeden Ferientag ihrer Kindheit verbracht. Das waren wunderbare Wochen gewesen. Sie hatte ihren Dad geliebt. Er hatte immer Zeit für sie gehabt und konnte auch die verrücktesten Fragen beantworten. Sie hatte damals so unendlich viel gelernt. Inzwischen müsste er 124  Jahre alt sein. Ob er noch lebte? Bei ihrer letzten Begegnung hatte er nicht gut ausgesehen. Niemand lebte ewig, auch nicht ihr Vater.
»Jazmin, ich würde Sie gerne sprechen.« Das war die Stimme von General Mellenbeck. Warum war er schon wach? Es musste etwa drei Uhr in der Nacht sein.
Sie antwortete nicht.
»Ich stehe vor Ihrer Tür … Ich weiß nicht genau, was Sie erlebt haben, aber ich kann nachvollziehen, wie Sie sich fühlen.« Seine Stimme drang über ihr Kommunikationssystem hinter dem Ohr zu ihr. Eigentlich hätte sie dafür seine Gesprächsanfrage annehmen müssen, aber Mutter standen natürlich Mittel zur Verfügung, diese Barriere zu umgehen.
Warum sollte sie antworten?
»Mutter beobachtet Sie, ich tue es nicht. Sie sagt, Sie sitzen auf dem Boden Ihrer Dusche. Unbekleidet, aber unverletzt, weswegen ich nicht mit Gewalt in Ihre Kabine eindringen möchte.«
Wie albern und pathetisch das klang: unbekleidet auf dem Boden der Dusche. Fast schämte sie sich.
»Jazmin, ich schätze Sie sehr, weswegen mir auch viel an Ihnen liegt. Captain Cloe Chang war vorhin bei mir und hat mir über Ihr Gespräch berichtet. Die USS London ist in vielerlei Hinsicht ein Aufbruch in eine neue Welt. Wir befinden uns auf der weitesten Reise, zu der Menschen jemals aufgebrochen sind.«
Das war Jazmin im Moment völlig egal. Sie wollte nur allein sein. Warum ließ der General sie nicht einfach in Ruhe? Die Realität, ob mit oder ohne Sue Jagberg, konnte ihr im Moment gestohlen bleiben.
»Wenn Sie wünschen, können wir gerne über Major Sue Jagberg sprechen. Ihr Tod war ein Verlust für unsere Mission, den wir leider zu akzeptieren haben. Vermutlich haben die medizinischen Probleme mit ihrem Sohn bei Ihnen einen Nerv getroffen. Das ist in Ordnung. Niemand von uns ist eine Maschine. Trotzdem haben wir einen Auftrag. Wir tragen die Verantwortung für viele Menschen. Die gesamte Besatzung vertraut uns.«
Nein, das wollte Jazmin nicht hören. Sie schüttelte den Kopf, ihre schneeweißen Haare waren klitschnass. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?
Vor der Tür hörte sie jetzt mehrere Schritte. Es folgte ein hektischer Dialog mit dem Kapitän, den sie nur dumpf durch die nicht sonderlich dicke Wand hörte. Der Kommunikationskanal war geschlossen.
»Jazmin, bitte öffnen Sie die Tür. Sofort! Gerade ist mir mitgeteilt worden, dass Cloe Chang tot in ihrer Kabine aufgefunden worden ist. Ich muss mit Ihnen sprechen, verdammt!«
Jazmin fing an zu schreien. Lauter, sie brüllte, so laut sie konnte. Sie wollte die Stimme des Generals nicht mehr hören. Sie wollte niemanden mehr hören!
»Tür öffnen! Das ist ein medizinischer Notfall! Ich will nicht auch noch Colonel Harper verlieren!« , rief der General. Einen Moment später zerrten Hände an ihr. Sie wehrte sich, musste sich aber der Übermacht beugen. Überall waren Wasser, Licht, Stimmen und Hände. Jazmin verlor das Bewusstsein.