IX.
Überspannung
Denis lag auf seinem Bett wie eine Schildkröte auf dem Rücken. Träumte er? Er fasste sich mit der Hand an die Wange. Nein, eher nicht, das stoppelige Gesicht gehörte ihm. Zudem musste er pinkeln. Er hatte schon lange nicht mehr so schlecht geschlafen und drehte sich auf die Seite. Wo war Sue? Er hatte eben noch geglaubt, ihren Duft riechen zu können. War sie schon aufgestanden? Nein, natürlich nicht.
»Sie ist tot!« Denis ballte die Fäuste, der Schmerz dieser Erkenntnis ließ nicht nach. Das war noch wie am ersten Tag und fühlte sich an wie eine glühende Klinge, die ihm jemand von hinten mit Schwung in die Brust rammte.
Sues Tod, die Reise ins All, der Zwischenfall mit Mason, Carls Unfall, der Stress mit Mutter – er verpasste seinem müden Hirn ein Crash-Update. Danach war er wach. Als Letztes hatte er gestern mit dem Doc gesprochen, und genau mit ihr würde er heute weitermachen. Besonders die Episode mit Mutter hatte er nicht verstanden. Zuerst ging es allerdings ins Badezimmer.
Denis verließ seine Kabine in einer frischen Arbeitsuniform und mit einem undefinierbaren Gefühl von Hoffnung in der Brust. Worauf, wusste er nicht, aber der Tag konnte nur
besser werden als der letzte. Gestern hatte es so viel Mist gegeben, dass es einfach besser werden musste.
Auf der Treppe kam ihm Raul Espinoza entgegen, Major und Navigator, der immer dachte, so gut wie Carl zu sein, es aber nie war. Raul war verheiratet, hatte aber keine Kinder. Er war zudem, dessen war sich Denis sicher, der einzige Offizier an Bord, dem für diese Mission jegliche charakterliche Qualifikation fehlte.
»Morgen …« Raul grüßte ihn.
Denis nickte. Raul war auch der Typ, der wenige Wochen vor Sues Tod versucht hatte, bei ihr zu landen. Sie hatte Denis die ganze Geschichte erzählt. Damit hatte Espinoza bei ihm bis zur nächsten Eiszeit verschissen.
Auf dem nächsten Deck angekommen, konnte er General Mellenbeck sehen, der mit Colonel Minous sprach. Sie standen vor der Glasscheibe, hinter der sich auch Mason befand. Das war merkwürdig, er kannte Helen gut, sie war ebenfalls Ärztin. Allerdings gehörte sie nicht in diese Schicht und sollte sich eigentlich im Kälteschlaf befinden. Was für ein Mist war jetzt schon wieder passiert?
»Guten Morgen.« Denis gesellte sich zu den Offizieren, die über seinen Sohn sprachen.
»Denis!« Mellenbeck gab ihm die Hand und lachte herzlich. »Schön, Sie zu sehen.«
»Sir.«
»Wir haben über Ihren Sohn gesprochen … oh, ich bitte um Entschuldigung, Sie kennen sich?«
»Ja.« Auch Helen gab ihm die Hand. Sie gehörte wie Mellenbeck zu den älteren Semestern an Bord. Dann nahm sie ihn nach einem kurzen Zögern in den Arm. Sue war ihre Freundin gewesen.
»Gut sogar, hallo, Helen.«
»Denis, du siehst müde aus … vielleicht sollten wir dich mal durchchecken.«
»War kein guter Tag gestern.« Das Angebot würde er gern annehmen, auch wenn er damit gerechnet hatte, von Jazmin Harper untersucht zu werden. »Kaum angefangen und schon urlaubsreif.«
»Denis, ich habe die Liste der Reparaturen gesehen. Ich weiß, das sind viele … ich zähle auf Sie. Wir haben zum Glück keine kritischen vor der Brust.« Mellenbeck legte ihm die Hand an den Arm. Das war in Ordnung. Für diesen Kommandanten war Denis bereit, die Extrameile zu gehen.
»Sir, Sie können sich auf mich verlassen.« Er räusperte sich. »Wo ist Colonel Harper?«
»Es gab heute Nacht einen tragischen Zwischenfall. Major Chang hat Selbstmord begangen.«
»Oh … das tut mir leid.« Das hatte Denis nicht gewusst. Der Wahnsinn fand auf dem Schiff fette Beute. Mit Cloe Chang hatte er während der Ausbildung eher weniger zu tun gehabt. »Und Colonel Harper?« Hoffentlich ging es ihr besser.
»Der Colonel hat deswegen einen psychischen Zusammenbruch erlitten. Die beiden Frauen haben kurz zuvor noch miteinander gesprochen. Das hat sie aus der Bahn geworfen. Aber ihr geht es gut, sie schläft. Ich denke, sie braucht eine Auszeit.«
»Das ist …«
»… eine Katastrophe! Denis, daran gibt es nichts zu beschönigen.« Der General unterbrach ihn, redete nicht um den heißen Brei herum. Diese Entwicklung war nicht abzusehen gewesen. Ob es zwischen den Vorfällen einen Zusammenhang gab?
»Ja, Sir.«
»Deshalb hat Colonel Minous ihre Position übernommen.
Wegen des Todes von Major Moretti werden wir einen weiteren Offizier aus dem Kälteschlaf wecken.«
Denis nickte.
Der General klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn Sie also vorhaben durchzudrehen, würde ich Sie bitten, einfach auf Ihr nächstes Leben zu warten und unter meinem Kommando Ihren Job zu machen. Ich brauche Sie.«
»Ich bin nur wegen meinem Sohn hier …« Alles andere schluckte Denis herunter, auch wenn die Geschichte mit Jazmin schmeckte wie ein Stück rostiger Stacheldraht. Von der Episode mit Mutter erwähnte er ebenfalls kein Wort. Die lange Liste der Reparaturen hatte der General erwähnt, damit wusste er darüber Bescheid.
»Ihm geht es den Umständen entsprechend gut«, antwortete Helen. »Er schläft.«
»Das tut er jetzt schon fast 24
Stunden.« Denis zog die Stirn in Falten. Besonders im Zusammenhang mit den anderen Ereignissen machte ihm diese Entwicklung Angst.
»Das ist gut für ihn.« In dem Punkt schienen sich die beiden Ärztinnen einig zu sein.
»Colonel Minous, Denis, wir sehen uns.« Mit diesen Worten ließ General Mellenbeck sie zurück. Beim Gehen zog er das rechte Bein auffällig nach. Das war kein gutes Zeichen. Vor kurzem war der General noch topfit gewesen.
»George, bis später.« Helen winkte ihm nach, wandte sich dann aber Denis zu. »Dein Sohn hat eine schwere Depression erlebt … sei froh, dass er schläft. Er wird rund um die Uhr überwacht, wir tun für ihn alles, was in unserer Macht steht.«
»Dafür danke ich dir.« Denis nahm Helen zum Abschied in den Arm. Bei ihr befand sich Mason in den besten Händen. Hoffentlich würde sich auch Jazmin wieder erholen.
»Das mache ich gerne.«
Er ging wieder. Verdammt, er war Techniker, er konnte alles auf diesem dämlichen Schiff reparieren, nur den Menschen, die er liebte, konnte er nicht helfen.
Denis saß am Portal der Techniker auf seinem Scooter und hatte die Hand auf dem Startknopf liegen. Mutter würde ihn auch heute wieder mit Arbeit bombardieren. Nein, das würde gleich anders laufen. Sie mussten reden.
»Mutter.«
»Ja, bitte.«
»Ich melde mich zum Dienst.«
»Sehr gut … Ich habe drei Reparaturaufträge für Sie, die auf einer Tour erledigt werden können.«
Die KI
legte genau so los, wie er es von ihr erwartet hatte.
»Mutter, ich bin der leitende Techniker der USS
London
.« Damit war seine Position, auch ohne Offizier zu sein, auf dem Level eines Majors angesiedelt.
»Das ist richtig.«
»Dann behandle mich gefälligst auch so!«
»Diese Aussage kann ich nicht interpretieren.«
»O doch … das kannst du!« Diese verfluchte KI
gab sich dümmer, als sie war. Warum, wusste er noch nicht, aber er würde es herausfinden.
»Diese Aussage kann ich nicht interpretieren.«
»Mutter, wenn du mir weiter so eine Scheiße erzählst, fahre ich zu deinem Core und pinkle in deine Memory-Unit. Glaub mir, das möchtest du nicht!«
»Sie benutzen ein unangebrachtes Vokabular.«
»He … ich hab da früher mit ein paar ziemlich miesen Typen abgehangen. Ich habe noch nicht einmal angefangen, mich ungebührlich auszudrücken!« Denis war in Berlin aufgewachsen, der mit vierzig Millionen Einwohnern größten
Stadt in Europa. Wenn Sue ihn nicht rechtzeitig von der Straße geholt hätte, wäre er früher oder später im Knast gelandet. In der Zeit mit ihr hatte er sich auch eine völlig neue Ausdrucksweise angeeignet, hatte aber keine Probleme, für Mutter eine andere Tonart anzuschlagen.
»Bitte wiederholen Sie Ihre Aussage.«
»Mutter, lass den Scheiß!« Denis schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Hör auf, die Telefonansage zu spielen!«
Mutter antwortete nicht.
»Pass auf, wir machen einen Deal … Du hörst auf, mich anzuscheißen, und ich helfe dir. Ich bin Techniker, du kannst dir deine krummen Schrauben nicht selbst aus dem Arsch ziehen. Aber ich kann das … sogar sehr gut. Ich kenne die Stellen, an denen es dich jucken könnte!«
Mutter schwieg.
»Ich sag dir was, du ziehst hier eine ganz miese Nummer ab! Bisher hat das niemand von den Offizieren verstanden, und ich werde es denen auch nicht sagen … aber du musst mir reinen Wein einschenken.«
»Was meinen Sie damit?«
Immerhin eine Antwort.
»Nenn mich Denis! Hör mit diesem dämlichen Sie auf! Wir sitzen im selben Boot! Ich habe keine Lust, auf diesem Schiff zu verrecken! Ich habe einen Sohn, für den ich alles tun werde, um ihn zu retten!«
»Denis, was, denkst du, verberge ich vor dir?«
Mutter schien sich endlich deutlicher auszudrücken.
»Fang mit dem Schiff an: Der Kahn scheint beinahe auseinanderzufallen …«
»Das Schiff ist momentan nicht im besten Zustand. Die Gründe dafür sind kompliziert. Eine offene Kommunikation darüber hilft uns nicht weiter. General Mellenbeck ist
eingeweiht, er gab mir die Order, diese Tatsache unter Verschluss zu halten. Die Besatzung reagiert dünnhäutig … wie die jüngsten Ereignisse zeigen. Ich bin eine
KI
, ich kann helfen, Techniker zu koordinieren, aber ich kann nicht die Moral an Bord sicherstellen.«
»Das ist auch nicht deine Aufgabe.«
»Und wie willst du mir helfen?«
»Das werde ich dir zeigen … Gib mir eine Liste aller offenen Reparaturen, aller Techniker und aller Drohnen, die du heimlich auf dem Schiff mitarbeiten lässt.«
»Ich nutze eine Modelldarstellung … die Liste ist zu lang.«
Denis sah das Modell vor sich, das mit roten Punkten, an denen Reparaturen vorzunehmen waren, übersät war. Die blauen Punkte stellten die Techniker und Drohnen dar, die ebenfalls überall verteilt waren, sich aber hoffnungslos in der Unterzahl befanden. »Okay … haben wir ein Priorität-eins- oder -zwei-Problem?«
»Zum Glück nicht.«
»Mutter, es ergibt keinen Sinn, jeden alles machen zu lassen … du hast im Moment eine Nachbesserungsquote von 62
Prozent. Die Leute, vor allem die Drohnen, machen Arbeiten, für die sie nicht ausgebildet wurden.« Denis bildete neue Teams, er kannte seine Leute genau. Er teilte Teams für Elektronik-, für Chassis- und für IT
-Probleme ein. Andere kümmerten sich um Antriebsprobleme oder warteten die lebenserhaltenden Systeme. Denis selbst gehörte zu den wenigen, die wirklich alles reparieren konnten.
»Die Drohnen arbeiten ohne Menschen ineffektiv … teilweise ist es notwendig, diese Arbeiten mehrfach nachbessern zu lassen. Ich versuche, die Prozesse zu optimieren. Diese Reparaturlast war beim Design des Schiffs nicht berücksichtigt worden. Ich könnte mühelos hundert Techniker beschäftigen.«
»Ich weiß … weswegen wir die Drohnen nur noch im Notfall alleine rausschicken werden.« Denis änderte die Regeln. Das war wie unter Gefechtsbedingungen. Er definierte Schiffszonen, die erst repariert wurden, wenn dafür Zeit übrig war. Jobs wie die defekten Temperatursensoren im Trainingscenter würden nun warten müssen. Das Training konnte zur Not ausfallen. Mutter hatte die Aufgabe, alle Techniker zu koordinieren, als rein mathematisches Problem verstanden, auf Wegstrecken zu achten und alle Techniker dauerhaft beschäftigt zu halten. Zudem hatte sie versucht, die Reparaturen unauffällig abzuwickeln. Das konnten sie sich mittlerweile nicht mehr leisten.
Denis ging dieselbe Aufgabe völlig anders an. Er gab auch die Order aus, dass die Techniker bei Problemen mehr miteinander kommunizierten. Die Leute sollten eigene Entscheidungen treffen und sich vor Ort überlegen, ob diese Tätigkeit notwendig war oder warten konnte. Gestern hatte von diesen Pappnasen den ganzen Tag lang keiner einen Ton gesagt. »Siehst du die Unterschiede?«
»Ich gebe zu, dass dein Konzept besser ist. Anders … du beziehst die Menschen mit ein.«
»Ist Tarek Abbas online?«
»Er hat frei, ich denke er schläft, soll ich ihn anrufen?«
»Später …« Denis musste noch die Geschichte mit der alten Pistole, die Tarek gefunden hatte, klären. Für den Moment wollte er seine neue Freundschaft mit Mutter nicht überstrapazieren. Eine KI
, die einmal log, könnte es auch ein zweites Mal tun. Nein, er würde doch noch einen Testballon starten. »Mutter, hast du noch etwas zu beichten?«
»Wie meinst du das?«
»Gibt es technische Probleme, die noch nicht rot leuchten, bei denen du aber befürchtest, dass wir früher oder später
Ärger bekommen könnten?« So ein großes Schiff bot immer Grund, sich über irgendetwas Sorgen zu machen.
»Diese Einschätzung ist schwierig.«
»O ja … weswegen wir darüber sprechen. Wir sollten unsere Sorgen teilen.« Denis wollte wissen, an welchen Stellen ihre fette britische Lady einen Furunkel unter dem Kleid hatte, bevor ihr der Eiter die Waden hinablief.
»Wir können uns einmal die Supraleiter der Frontaldeflektoren näher ansehen.«
»Die sollten nach Möglichkeit nicht kaputtgehen.«
»Das ist richtig.«
Denis fuhr los. Um zu den Supraleitern der Frontaldeflektoren zu kommen, mussten sie ein Stück fahren. Es gab ein paar Szenarien, die besser nie eintraten. Dazu gehörten Dinge wie eine Molekularschmelze der Antimaterie, ein Ausfall der Navigation oder ein durchgeschmorter Supraleiter ihrer Frontaldeflektoren. Eigentlich flog die USS
London
durch leeres All. Also gab es über Jahre hinweg keine Sonne und keine Planeten, an denen sie vorbeikamen. Das war erst mal gut, da sich ihre wohlgenährte Britin nicht so flott wie ein Gleiter lenken ließ. Bei voller Geschwindigkeit entsprach ihr Wendekreis der Distanz von einem halben Lichtjahr.
Dumm war nur, dass das All nie völlig leer war. Ein paar einzelne Krümel schwirrten immer in der Gegend umher. Und jetzt kam das Problem: Ein kleiner Stein mit nur zehn Gramm Gewicht entwickelte bei 30000
Kilometern in der Stunde eine stattliche Aufprallenergie von 347
Kilojoule. Das entsprach in etwa der Energie des tausend Kilogramm schweren Scooters, mit dem Carl Moretti mit über 100
Kilometern in der Stunde vor den Container geknallt war. Die Pointe kam aber noch. Da sich die USS
London
selbst mit 0
,44
c bewegte, brachte es das kollidierende Krümelchen bei
einer Frontalkollision auf stolze 87
Terajoule, was ungefähr Little Boy entsprach, der Atombombe, die 1945
Hiroshima zerstört hatte.
Keine von Menschen geschaffene Panzerung wäre in der Lage, diesen Kräften standzuhalten, weswegen die wie eine Speerspitze aufgebauten Frontaldeflektoren auch nicht versuchten, sie aufzuhalten, sondern die Brösel am Schiff vorbeilenkten. Um alle Meteoriten, die schwerer als hundert Gramm waren, kümmerten sich die Hochenergiegeschütze der USS
London
.
Bei den Zahlen war es nicht schwer, sich vorzustellen, was ein paar kleine Krümel mit dem Schiff anstellten, wenn die Frontaldeflektoren ausfallen würden.
Denis war in der Spitze des Raumschiffs angekommen. Hier gab es keine Wohnräume, sondern nur gewaltige Technikebenen, in denen durch Supraleiter Energie in turmhohe Zwischenspeicher geleitet wurde. Im Prinzip befand sich hier eine sehr leistungsfähige Verbindung zur Antriebsebene der USS
London
.
»Du musst einen Schutzanzug anziehen«
, erklärte Mutter.
Er nickte und stieg in eine spezielle Rüstung, die ihn vor den enormen Überspannungen der Supraleiter schützte. Ohne die Rüstung, die wie ein Faraday’scher Käfig wirkte, wäre er sofort gegrillt worden. Die Frontaldeflektoren waren nach dem Antrieb der zweite große Energiefresser auf dem Schiff.
»Fertig?«
»Ja!« Denis verschloss den Helm. Er musste an dieser Stelle kein Wort darüber verlieren, dass auch dieser Bereich angeblich wartungsfrei war. Die Rüstung, die er trug, wog 800
Kilogramm, jede seiner Bewegungen wurde durch
Servomotoren unterstützt. Er bewegte sich in dem Ding, als ob er in die Hose geschissen hätte.
»Ich öffne die Schleuse.«
Mutter ließ ihn passieren. Ein Frontaldeflektor bestand aus einem sehr leistungsfähigen Kraftfeldverbund. Der Bug der USS
London
wurde von vielen tausend kaskadierten Energiekacheln geschützt, die in unterschiedlichen Abständen vor dem Schiff fixiert wurden. Der erste Deflektor registrierte den Ankömmling und wehrte bereits alles unter 500
Kilojoule ab. Was dort durchkam, landete genau vermessen in der zweiten Linie, die nun alles unter fünf Megajoule abräumte. Computer hatten inzwischen die Zeit genutzt, um ein individuelles Set an Deflektoren aufzubauen und alles unter hundert Gramm Masse abzuleiten. Größere Brocken wären zu diesem Zeitpunkt bereits durch Hochenergiebeschuss zum Verglühen gebracht worden.
Dieses dynamische Konzept erforderte, bei Bedarf sehr große Energiemengen in sehr kurzer Zeit bereitzustellen. Das ging so weit, dass für Bruchteile einer Sekunde sogar die Antriebsenergie zur Abwehr eines hundert Gramm schweren Meteoriten eingesetzt wurde. Die Supraleiter waren dafür gebaut, diesem enormen Energiefluss standzuhalten, was sie auch eine kurze Zeit lang taten. Dauerhaft wäre kein von Menschen gebautes Kabel in der Lage, die Energiemenge zu verkraften, die die USS
London
während der Beschleunigung aus ihren acht Triebwerken jagte. Bei der Reaktion von einem Kilogramm Materie wurden neunzig Petajoule freigesetzt, was in etwa fünfundzwanzig Millionen Tonnen herkömmlichem Sprengstoff entsprach. Um die fette britische Lady mit ihrem stattlichen Gewicht auf 0
,44
c zu bringen, brauchte es sechs Millionen Tonnen Antimaterie. In den Penning-Arrays befand sich daher genug Treibstoff, um das Schiff genau zweimal auf volle Geschwindigkeit zu
beschleunigen und wieder abzubremsen, sowie eine Reserve, mit der sich begrenzte Navigationsmanöver durchführen ließen.
Denis sah sich um, was in der Rüstung sehr mühsam war. Von überall sprangen Funken von den mit Stickstoff gekühlten Supraleitern auf ihn über. Die Energieschienen waren offen im Boden verlegt und führten durch das gesamte Schiff. Wäre die USS
London
ein Lebewesen, wäre das ihre Hauptschlagader gewesen.
»Was kannst du erkennen?«
, fragte Mutter.
»Komm und schau es dir selbst an.«
»Der Bereich ist mir verschlossen. Ich kann noch nicht einmal Drohnen hineinschicken. Die halten das nicht aus.«
Denis hob den Kopf. Vor ihm wurde ein Stück eines Supraleiters heller. Die Spannung stieg. Die Blitze umgaben ihn nun komplett, seine Rüstung wurde zum Teil des Energiekreislaufs. So sah es aus, wenn ein Frontaldeflektor temporär überladen wurde. Er schloss die Augen. Ihm wurde warm. Hoffentlich hielt der Anzug das aus.
Das Licht nahm wieder ab, die Show war vorbei. Denis bückte sich, nein, er krachte auf alle viere, um sich den gerade aktiven Supraleiter genauer anzusehen. Da gab es ausglühende Ablagerungen, die deutlich zu erkennen waren. Ablagerungen auf einem Supraleiter waren nicht gut. Sie bildeten einen Widerstand, und um diesen zu minimieren, wurden Supraleiter benutzt. Die Energie sollte möglichst ohne Verlust von der Antriebssektion nach vorne geleitet werden. Denn Verlust hätte Abwärme bedeutet und aus dem Energiefluss einen riesigen Tauchsieder gemacht. Mit der zu den Frontaldeflektoren transportierten Energiemenge hätte man mühelos sämtliche Wohndecks der Besatzung zum Glühen bringen können.
»Und jetzt?«
»Da sind Ablagerungen …« Denis hatte keine Ahnung, wo die herkamen. Von dem Begriff wartungsfrei hatte er ein anderes Verständnis. Mit einem Schraubenzieher brach er ein Stück der handflächengroßen schwarzen Ablagerungen ab. Das Zeug war schwer und schepperte metallisch, als es auf den Boden fiel. Der ansonsten glatt gearbeitete Supraleiter darunter zeigte sich an dieser Stelle aufgeraut. Da fehlte sogar Material. Das war ein Bruchstück.
»Die Ablagerungen stammen von den Supraleitern selbst …« Das passierte, wenn Frontaldeflektoren über längere Zeit überladen wurden. Das Material hielt viel, aber nicht alles aus. Die Physik stieß hier an ihre Grenzen.
»Das ist ungewöhnlich.«
Mutters Kommentar war es ebenfalls. Sie müsste es besser wissen.
Denis krabbelte weiter. Jede seiner Bewegungen dauerte eine kleine Ewigkeit. An dem Supraleiter daneben bedeckten die Ablagerungen über die Hälfte der Fläche. Das dunkle Material ließ zudem mehrere Schichten erkennen. Das Zeug wurde größer. Verdammt, das war eine tickende Zeitbombe. Genau die Sorte von Problem, die er nicht gebrauchen konnte. »Mutter.«
»Ich höre …«
»Gibt es im Logbuch einen Eintrag über eine Überladung der Frontaldeflektoren?«
»Das ist kompliziert …«
Das war Mutters Version dafür, dass jemand die Mistdinger überladen hatte, sie aber nicht darüber sprechen durfte. Der General hielt seine Hand schützend über einen Idioten, der sie mit hoher Wahrscheinlichkeit alle umbringen würde.
»Mutter, so werden wir unsere Reise nicht schaffen.« Die Folgerung aus dieser Situation war nicht kompliziert. Die
Supraleiter würden in ein bis zwei Jahren anfangen, ernste Probleme zu machen, und in fünf bis acht Jahren ausfallen.
»Dann müssen wir sie reparieren.«
»Klar …« Das ging sogar, sie hatten das passende Material an Bord. Das Einzige, was ihnen fehlte, war ein schattiges Plätzchen, an dem ihnen nicht ständig hyperschnelle Partikel um die Ohren flogen. »… wenn das Schiff keine Fahrt macht, wäre es kein Problem. Ich schätze, ich brauche mit meiner Truppe drei Wochen, um sämtliche Supraleiter instand zu setzen.« Sie waren nur vierzehn.
»Wir können jetzt nicht abbremsen.«
»Mutter, wir brauchen drei Wochen bei Stillstand des Schiffs. Aber nur, wenn wir es jetzt machen. Wenn wir warten, bis die Frontaldeflektoren wegen der Ablagerungen ausfallen, ist es zu spät. Die Supraleiter gehören zu den Kernelementen des Schiffs, ein kompletter Austausch ist im Raum nicht möglich. Dafür brauchten wir eine Werft, tausend Arbeiter und viel Zeit.« Denis machte sich auf den Rückweg. Er hatte alles gesehen, was er sehen wollte. Der General würde eine Entscheidung treffen müssen. Denis konnte ihm nur eine fachliche Empfehlung aussprechen.
»Das ist ein Problem.«
»Sag ich doch.« Denis ging auf die Schleuse zu. Hinter ihm wurde es wieder heller. Der nächste Minimeteorit wurde abgewehrt. Das passierte jeden Tag mehrere Dutzend Male. Bei 0
,44
c konnten sie sich keine Stunde ohne Frontaldeflektoren leisten. »Mutter, wir würden ohne eine Reparatur nicht an dem Einschlag eines Meteoriten sterben. Vorher wird das Mittelschiff aufgrund überhitzter Supraleiter verglühen.«