XI.
Blind vor Wut
Jazmin stand in Cloes Kabine, alles um sie herum war dunkel. Nur Cloes nackter Körper wurde von einem ursprungslosen Licht erhellt. Als ob in ihrem Körper eine Kerze brannte und ihre Haut in vielen zarten Farbtönen zum Leuchten brachte. Im Hintergrund war ein leises Brummen zu hören. Weit entfernt, aber nicht zu ignorieren. Cloe kniete und sah ängstlich zu ihr auf. Eine unheimliche Hitze ging von ihr aus.
»Ich habe sie nicht gesehen …«, flehte sie. »Bitte, ich habe sie wirklich nicht gesehen!«
Jazmin reagierte nicht. Nicht weil sie es nicht wollte, sondern weil sie sich nicht bewegen konnte. Ihr gesamter Körper war wie versteinert.
»Das musst du mir glauben, ich habe sie nicht gesehen!« Cloe weinte. Jede Träne hinterließ dabei eine feine Vertiefung in ihrer Haut. Nichts passierte im Leben, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Jazmin war immer noch unfähig, etwas zu sagen. Noch nicht einmal den kleinen Finger konnte sie bewegen. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit war unerträglich. Der Wahnsinn hatte sie fest im Griff. Sie bäumte sich auf, war aber nicht in der Lage, ihre Fesseln zu sprengen.
»Bitte, ich lüge dich nicht an. Sie ist tot … Das weißt du. Wir waren bei ihrer Beerdigung.« Die Tränen liefen wie heißes
Wachs über ihre Wangen. Plötzlich schlugen Flammen aus ihrem Mund. Ihr Schlund glühte wie ein Kohleofen. Sie verbrannte innerlich. Die enorme Hitze ließ ihre Hülle binnen weniger Sekunden wie eine Kerze auf dem Boden zerfließen. Niemand konnte sie retten. Niemand konnte es aufhalten.
Jazmin wollte schreien! Kämpfen! Und sich gegen den Virus wehren, der auch in ihr Feuer gefangen hatte. Sie war verloren. Es war nicht mehr aufzuhalten. Niemand an Bord der USS
London
würde überleben. Alle würden sterben.
Jazmin schreckte schweißgebadet auf. Das war ein Traum gewesen. Nur ein Traum. »Keine Übung!«, flüsterte sie. »Keine Übung!« Cloe Chang war vor ihren Augen gestorben. Ein sinnloser Tod. Im Traum und noch mehr in der Realität. Dabei hatte die Crew gerade einmal sieben Jahre der langen Reise geschafft.
»Alles in Ordnung?«, fragte eine ältere Frauenstimme. Das war Helen, Colonel Dr. Helen Minous, Jazmin mochte sie. Jazmin erkannte auch, dass sie nicht in ihrer Kabine, sondern in einem Bett der Krankenstation lag. Warum war sie hier?
»Ich habe geträumt.«
»Das habe ich gemerkt.« Helen nahm mit einem kontaktlosen Thermometer die Körpertemperatur auf. »38
.2
… Sie haben leichtes Fieber.«
»Ich könnte sofort wieder einschlafen …« Jazmin wehrte sich allerdings dagegen. Sie wollte nicht schlafen. Nicht jetzt. Sie wollte nicht weitere Träume erleben.
»Tun Sie es.«
»Später …«
»Ich habe Zeit.« Helen zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Der Raum war nur schwach beleuchtet. Gerade hell genug, um den anderen zu erkennen oder nicht
gegen eine Wand zu laufen. Seitlich vom Bett hing ein Display, das geräuschlos ihre Vitalwerte überwachte. Sie konnte bei sich selbst eine erhöhte Temperatur, einen erhöhten Puls, einen höheren Blutdruck als sonst und extrem aktive Gehirnströme erkennen.
»Was ist mit mir?« Jazmin verstand nicht, warum Helen sie wie eine Patientin behandelte.
»Jazmin, Sie sind selbst Ärztin, helfen Sie mir, woran können Sie sich erinnern?«
»Ich saß in meiner Dusche auf dem Boden.« Das wusste Jazmin noch genau.
»Dort wurden Sie gefunden, das ist richtig. Was haben Sie davor getan?«
»Ich habe Cloe besucht.« Auch das wusste sie noch. Wie auch alles andere. Cloes angeblicher Selbstmord.
»Wen?«
»Captain Cloe Chang, sie ist Analystin, Sie kennen sie.« Jazmin war sich sicher, mit Helen und Cloe während der Ausbildung mehr als einmal gemeinsam Kaffee getrunken zu haben. Damals war alles ganz einfach gewesen.
»Natürlich tue ich das … Jazmin, über was haben Sie mit Cloe gesprochen?«
»Wir sprachen über Sue Jagberg.«
»Ihr Tod ist ein Verlust.«
»Das ist er …« Jazmin hatte keine Lust, Helen davon zu erzählen, Sue auf dem Schiff gesehen zu haben. Es würde das Gespräch in die falsche Richtung lenken.
»Jazmin, bitte erinnern Sie sich … kennen Sie noch den Wortlaut ihrer Unterhaltung?«
Den kannte sie, sogar Wort für Wort, sie hatte keines davon vergessen. Aber sie wollte nicht.
»Was haben Sie besprochen?«
»Das war privat.« Jazmin hatte nicht vor, darüber zu sprechen, bevor sie sich selbst ein klares Bild gemacht hatte.
»Es ist wichtig für mich zu erfahren, worüber Sie mit ihr gesprochen haben.«
»Nichts Wichtiges … Über den Tag, den wir beide hinter uns hatten.«
Helen nickte. Eine peinliche Stille entstand. Jazmin wollte nicht über Sue Jagberg reden. Das ging nicht. Ob sich Cloe deswegen umgebracht hatte? Das war doch Irrsinn! Warum sollte das ein Grund sein, sich selbst zu töten?
»Jazmin, wissen Sie, was aus Cloe wurde?« Helen blieb so ruhig wie zuvor.
»Sie ist tot.«
»Sie hat sich selbst getötet …«
»Das ist bedauerlich.« Jazmin spürte, wie ihre Sinne klarer wurden. Die Trauer, die sie zuerst empfunden hatte, war nun wie weggeblasen. Cloe hatte diese Entscheidung aus freien Stücken getroffen. »Aber unsere Unterhaltung kann nicht der Anlass gewesen sein.«
»Ich würde mir dazu gerne selbst ein Bild machen.« Helen blieb ihr auf den Fersen.
»Sie können mir vertrauen.« Jazmin spürte, wie sich das Gespräch in die falsche Richtung entwickelte. Sie setzte sich auf. In diesem Bett würde sie nicht bleiben. Nach der Dusche hatten sie ihr einen dieser hässlichen Patientenkittel angezogen. Aus dem Ding wollte sie heraus. »Ich möchte zu den Ermittlungen in diesem bedauerlichen Todesfall meinen Teil beitragen.«
»Jazmin, das geht nicht.«
»Wieso?«
»Ich denke, dass Sie krank sind. Ich werde General Mellenbeck empfehlen, Sie in den Kälteschlaf legen zu lassen.«
»Nein!« Das wollte Jazmin nicht.
»Glauben Sie mir, das ist das Beste für Sie.«
»Nein, Sie sollten …«
Nebenan polterte jemand gegen die Wand. Das war das Zimmer, in dem Mason lag. Einen Moment später öffnete jemand die Tür, die Frau von Major Espinoza, die als ausgebildete Krankenschwester bei Bedarf aushalf. Ihr Auftritt unterbrach Jazmin. »Dr. Minous, können Sie bitte kommen? Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Natürlich.« Helen stürmte aus dem Zimmer, die Tür blieb offen. Da musste etwas passiert sein. Das Poltern aus Masons Zimmer wiederholte sich. Was machte der Junge dort? Wer war bei ihm? Was ging hier vor?
Auf dem Flur wurde etwas gerufen, das Jazmin nicht verstehen konnte. Sie stand auf. Super, der Krankenkittel war hinten offen – nicht die beste Kleidung, um das Zimmer zu verlassen.
»Egal …« Jazmin schüttelte den Kopf. Das war wie bei der Übung mit Simmerkirk, falsche Scham konnte sie sich nicht leisten.
Nun polterte es zum dritten Mal. Jazmin glaubte, davor schnelle Schritte gehört zu haben. Nackte Füße, die über den Kunststoffboden liefen. Ihre Schritte hörten sich nicht anders an, sie waren nur langsamer und deswegen leiser. Sie musste an die Worte von Masons Vater denken, Denis Jagberg: Der Junge sei gegen eine Wand gelaufen, hatte er gesagt. Sie hatte an seinen Worten gezweifelt, aber genau so hätte es sich angehört. O nein, Mason lief wieder gegen Wände. Der Junge brauchte sofort Hilfe!
»Wir müssen die Tür öffnen!«, rief Helen. Jazmin verließ das Zimmer. Das Licht auf dem Korridor blendete sie. Es roch nach Desinfektionsmittel. In dem Krankenzimmer war
die Beleuchtung gedimmt gewesen. Sie hörte Helen schnell atmen.
»LOS
!«, brüllte Helen. »Wir müssen sofort die Tür öffnen!« Gemeinsam mit der Frau von Major Espinoza stemmte sie sich gegen die Tür zu Masons Krankenzimmer. Jazmin kannte ihren Vornamen nicht. Die manuelle Tür hatte einen Drehknauf und öffnete sich nach innen. Mason musste sie blockiert haben. Damit störte niemand seine Versuche, mit dem Kopf die Glasscheibe zu zertrümmern. Im Moment lag er benommen auf dem Boden. An der Scheibe klebte bereits Blut. Das war Sicherheitsglas, das würde der Junge niemals mit dem Kopf einschlagen können. Erste Risse zeigten aber, dass er die oberste Schicht bereits geschafft hatte.
»Er hat die Tür blockiert!«, rief Espinoza. Keine der beiden Frauen war sonderlich sportlich oder konnte auch nur ein paar Extrakilogramm Körpergewicht einbringen.
»Fester!« Helen setzte alles ein, was ihr zur Verfügung stand. Mason kam wieder hoch. Er schüttelte sich. Blut tropfte von seiner Nase auf den Boden. Auf den Boden, auf dem sich bereits eine verschmierte Blutlache gebildet hatte.
»Ich drücke von hier.« Jazmin musste helfen, sie war nicht schwerer, aber stärker. Das Kampftraining für Kommandooffiziere auf der Akademie war kein Ausflug ins Grüne gewesen.
»Colonel Harper?«, fragte Espinoza verwundert.
»Jazmin, nein!« Helen zog sie zurück. »Sie werden sofort wieder in Ihr Zimmer gehen!«
»Aber Sie brauchen Hilfe.« Es war offensichtlich, dass Helen und Espinoza mit der Tür nicht zurechtkamen.
Helen wischte sich den Mund ab. »Aber nicht von Ihnen. Es ist bereits Hilfe unterwegs. Jazmin, Sie sind krank, Sie
müssen sich erholen. Bleiben Sie in Ihrem Zimmer! Haben Sie mich verstanden!«
»Das ist doch Schwachsinn!« Jazmin verzog die Mundwinkel und schlug Helens Hände weg.
»Ich bin Ihre Ärztin! Sie gehen jetzt zurück in das Zimmer! Dort werden Sie die Tür schließen und auf mich warten!« Helen zeigte mit dem Finger auf die offene Tür.
»Dr. Minous … er wird erneut laufen.« Espinoza starrte Mason mit weit aufgerissenen Augen an. Der Junge stand wieder auf den Beinen und taumelte zurück zu seinem Bett. Von dort würde er den längsten Anlaufweg haben, um ein viertes Mal gegen die Glasscheibe anzurennen. Dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war, glich einem Wunder. Sein Gesicht war blutverschmiert, die Nase gebrochen, und an der Stirn klaffte eine fingerbreite Platzwunde. Trotzdem lächelte er. Ihm fehlten bereits mehrere Zähne. Kein Kind benahm sich so. Was war los mit ihm?
»Colonel Minous!« Jazmin wollte sich nicht in das Zimmer abschieben lassen. »Ich bin Ihre Vorgesetzte!«
»Jazmin, bitte, das ist doch keine Frage des Rangs … es geht um Ihre Gesundheit!« Helen blickte zu Jazmin und stemmte sich gleichzeitig gegen die Tür, die in diesem Moment nachgab. Egal, womit Mason sie blockiert hatte, man konnte diese Barriere jetzt brechen hören. Espinoza stolperte zuerst in den Krankenraum. Helen rutschte aus und blieb am Türrahmen hängen.
»ER
HAT
SIE
GETÖTET
«, brüllte Mason mit einer Lautstärke, die nicht zu einem Kind passte.
»Mason, bitte!« Espinoza bemühte sich, in den Raum zu kommen, steckte aber zwischen mehreren ineinander verschachtelten Stühlen fest. Einer davon war zerbrochen und blockierte den Weg. Zwei Kunststoffstücke ragten der Frau
wie Speere entgegen. Einer hatte sie bereits am Unterarm verletzt. »Mason, du musst keine Angst haben!«
Jazmin verfolgte die Entwicklung mit offenem Mund. Der Junge fürchtete sich nicht. Espinoza war diejenige, die vorsichtiger sein sollte. Dieser Blick – Jazmin konnte es in seinen Augen sehen, der Junge war völlig von Sinnen. In diesem Zustand stellte er eine Gefahr für sich und andere dar. Er war eine Zeitbombe!
»Vorsicht!«, rief Jazmin.
»Colonel Harper! Bitte seien Sie ruhig!« Helen versuchte weiterhin, sie kaltzustellen. Inzwischen stand auch sie wieder auf den Beinen und bemühte sich, den zerbrochenen Stuhl beiseitezuräumen. Aus einem nicht ersichtlichen Grund ließ sich weder die Tür weiter öffnen noch der kaputte Stuhl aus dem Weg schaffen.
»ER
HAT
SIE
GETÖTET
.« Mason wiederholte sich. Er ging mit langen Schritten auf Espinoza zu. Das Kind war über einen Kopf kleiner und zwanzig Kilogramm leichter als sie. Trotzdem packte er sie an den Haaren und zog sie mit einem Ruck in den Raum hinein. Dadurch, dass sie gegen die Barriere ankämpfte, flog sie förmlich durch die Luft und landete nach einem Überschlag auf dem Rücken. Dort blieb sie inmitten einer Blutlache benommen liegen. »HAST
DU
MICH
ETWA
NICHT
VERSTANDEN
?«
Espinoza rang nach Luft, drehte sich auf den Bauch und versuchte aufzustehen. Beim ersten Versuch rutschte ihr die Hand in der Blutlache weg, und sie prallte mit dem Gesicht auf den Boden. Beim zweiten Anlauf kam sie auf die Knie, um sich eine Sekunde später einen wuchtigen Tritt ins Gesicht einzufangen. Irgendetwas an ihrem Kopf knackte. Den Angriff hatte sie nicht kommen sehen. Der Junge hatte mit zwei Schritten Anlauf wie bei einem Fieldgoal voll durchgezogen.
»NEIN
!«, brüllte Helen, die nun endlich die Reste des zerstörten Kunststoffstuhls aus dem Türrahmen räumte und den Raum betrat. Dabei fielen mehrere Bruchstücke auf den Boden. An einem scharfkantigen Teil klebte noch Espinozas Blut. Jazmin, die noch vor der Glasscheibe stand, zögerte. »MASON
! ALLES
IST
GUT
!«
»GUT
? WAS
SOLL
HIER
GUT
SEIN
!« Der Junge trat der besinnungslos am Boden liegenden Krankenschwester ein weiteres Mal ins Gesicht. Und noch einmal. Espinoza hatte keine Chance. Sie blutete aus einem breiten Cut am Jochbein. »ER
HAT
SIE
GETÖTET
!«
»MASON
!« Helen holte einen Injektor aus der Tasche ihrer Uniform. Das sollte sie nicht allein versuchen, dachte Jazmin.
»NEIN
! NEIN
! ER
HAT
MEINE
MUTTER
GETÖTET
!« Dann rannte der Junge auf Helen zu, die versuchte, die Dosierung einzustellen. Sie hätte besser auf ihn geachtet. Er traf sie mit der Schulter in den Unterbauch, sie ging zusammengekrümmt zu Boden. Der Injektor flog im hohen Bogen durch die Luft.
»WIR
BRAUCHEN
HILFE
!«, brüllte Jazmin. Sie konnte nicht warten. Wenn sie den Jungen nicht aufhielt, würde er sie töten.
In der Ferne waren Schritte zu hören. Zu weit entfernt. Die Zeit lief gegen sie. Helen und Espinoza waren jetzt in Lebensgefahr.
Helen versuchte, auf dem Boden liegend, nach dem Injektor zu greifen. Mason stand über ihr und zog ihren Kopf an den Haaren in den Nacken. Die ältere Ärztin krächzte hilflos, da er ihr sein Knie in den Rücken drückte. In der anderen Hand hielt er ein Bruchstück des Kunststoffstuhls fest. Sehr fest, Blut quoll zwischen seinen Finger hervor. »HAST
DU
KEINE
OHREN
? HABE
ICH
ZU
LEISE
GESPROCHEN
? ER
IST
EIN
MÖRDER
! EIN
VERDAMMTER
MÖRDER
!«
»MASON
, HÖR
SOFORT
AUF
DAMIT
!« Jetzt stand Jazmin vor ihm. Sie war bereit, mit einem neunjährigen Kind zu kämpfen.
»Aufhören soll ich?«, fragte er wie ausgewechselt. Jazmins Gesichtszüge entspannten sich für einen Moment. Zu früh, in der nächsten Sekunde rammte er Helen das Bruchstück in das linke Ohr. Sie röchelte nach Luft. Blut lief ihr aus Mund und Nase. »Tiefer?« Mason drückte nach. Helen zuckte nur noch. Dieser Wahnsinn fand kein Ende. Das Kind hatte sie getötet.
»MASON
!« Jazmin machte einen Schritt auf sie zu und schlug den Jungen nieder. Mein Gott, das war ein Kind! Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie gehen sollte.
»DU
BIST
AUCH
EIN
MÖRDER
?« Mason stand sofort wieder auf und rannte auf sie zu.
Jazmin wich aus, rutschte jedoch, barfuß, wie sie war, auf seinem Blut aus und knallte mit dem Rücken auf die Bettkante. Scheiße, tat das weh. Der Sturz hatte ihr die Luft aus den Lungen gedrückt. Für einen Moment rang sie damit, nicht das Bewusstsein zu verlieren.
»MÖRDER
!« Mason raste auf sie zu. Halbnackt und im Liegen gelang es ihr, den Angreifer mit beiden Beinen wegzudrücken.
Sie schrie. Mason flog durch das halbe Zimmer und krachte zum vierten Mal gegen die Glasscheibe. Diesmal mit dem Rücken, was ihm augenscheinlich wenig ausmachte. Wieso hatte sich dieses Kind noch nicht jeden Knochen im Leib gebrochen?
Draußen kamen Schritte näher. Jazmin sprang wieder auf die Beine. Die Vorstellung, nur gegen ein Kind zu kämpfen,
sollte sie schnellstens hinter sich lassen. Das war ein Gegner, der sie töten wollte.
»MÖRDER
!« Mason zog Helen das Kunststoffstück aus dem Ohr und stürmte auf Jazmin zu.
»Dr. Minous, wo sind Sie?«, rief ein Mann vor dem Krankenzimmer. Noch war er nicht zu sehen. Egal, wer da war, er hatte keine Ahnung, was hier passierte.
Mason versuchte, ihr das blutige Bruchstück in die Kehle zu rammen. Jazmin wich aus. Sie nutzte seinen Schwung, packte mit der Hand sein Handgelenk und beförderte ihn mit einem Drehhebel gegen die Wand. Er prallte Kopf voran dagegen und sackte leblos zu Boden.
»Colonel Harper?«, fragte Captain Aayana, der als Erster in das Krankenzimmer lief. Überall war Blut. »Was um Himmel willen haben Sie getan?«
Jazmin sackte schnell atmend zu Boden. Sie konnte nicht antworten und rang nach Luft. Aayana fragte allen Ernstes, was sie getan hatte? Hatte er keine Augen im Kopf?
Aayana sah Helen an, deren leere Augen an die Decke starrten. Sie war tot. Er ging zu Espinoza und legte ihr die Finger an den Hals. »Sie ist tot«, sagte er erschrocken. Abschließend ging er zu Mason, der sich auch nicht mehr bewegte. »Tot …«
»Was ist hier passiert?« Jetzt kam Major Espinoza in den Raum und sah zuerst auf seine Frau.
»Nicht.« Aayana reagierte sofort und drängte den Major zurück. »Tun Sie das nicht …«
»Ich will zu meiner Frau!« Der Major fing an zu weinen. Was für ein Albtraum!
»Ja … aber nicht jetzt!« Aayana schob den Major aus dem Raum heraus. Jetzt drängte sich der General in die Tür. Mittlerweile hatten sich noch andere Zuschauer vor der
Glasscheibe eingefunden. Jeder konnte nun sehen, welche Tragödie sich hier abgespielt hatte.
»Colonel Harper!«, rief Mellenbeck. Sein Gesicht sprach Bände. Er sah sie an, als ob sie die beiden Frauen getötet hätte. Natürlich, sie überlegte, welches Bild sich ihm bot. Sie war die ausgebildete Soldatin, die in der Nacht zuvor einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Sie war auch diejenige gewesen, die als Letzte mit Cloe Chang gesprochen hatte. Kurz bevor sie sich das Leben genommen und den ganzen Irrsinn auf ein neues Level gebracht hatte. »Colonel, ich erwarte umgehend eine Erklärung von Ihnen!«
»Hat Harper meine Frau getötet?«, schrie Espinoza, der in diesem Moment von drei Männern festgehalten werden musste.
»NEIN
!«, brüllte Jazmin. »So war das nicht!« Das konnte sie auch beweisen. »Mutter, berichte, was hier geschehen ist.« Es war ohnehin merkwürdig, dass die KI
die ganze Zeit keine Silbe von sich gegeben hatte. Im Gegensatz zu privaten Wohnräumen wurde die Krankenstation von Kameras überwacht.
Die KI
schwieg.
»Colonel!« Mellenbeck zitterte am ganzen Körper. »Das ist ungeheuerlich!«
»MUTTER
!« Jazmin wiederholte sich.
Sie antwortete nicht.
»Colonel!« Mellenbeck zitterte weiterhin am ganzen Körper. »Das ist ungeheuerlich!«
Alle sahen ihn an. Wieso wiederholte er sich?
»Harper, haben Sie meine Frau getötet?«, rief Espinoza dazwischen. Er stand direkt hinter dem General. Bei der Stimmung hätte ein Funken genügt, um eine Explosion auszulösen.
»Nein, verdammt! Das habe ich nicht getan!« Jazmin begriff nicht, warum Mutter nichts tat, um die Situation zu entschärfen. Warum sie überhaupt nichts tat.
»Wer war es dann?«, fragte jemand anderes.
»Es war Mason!« Jazmin tat es nicht gern, aber das war die Wahrheit. »Er ist durchgedreht. Zuerst hat er die Frau des Majors und dann Dr. Minous umgebracht.«
Stille.
»Leute, seht mich an!« Sie zeigte auf den blutigen Kittel. »Ich stehe hier mit heruntergelassenen Hosen. Ich wollte helfen, aber Helen dachte, dass sie allein mit dem Kind klarkommt. Das war ein Irrtum. Als ich eingriff, war es bereits zu spät. Mason hätte auch mich um ein Haar getötet …«
»Und deshalb haben Sie Mason umgebracht?«, fragte Denis Jagberg, den sie bisher nicht gesehen hatte. Er drückte sich zwischen den anderen durch. »Sie sind seine Ärztin … Sie hätten ihn beschützen sollen!«
»Ich hatte keine andere Wahl …«
»Colonel!« Mellenbeck zitterte nach wie vor am ganzen Körper. »Das ist ungeheuerlich!«
»Was ist mit Mutter?«, fragte eine Frau.
»Der General braucht medizinische Hilfe!« Jazmin befürchtete einen Schlaganfall. Seine linke Gesichtshälfte hing bereits erschlafft herab.
»Nein!« Major Espinoza trat schützend vor den General. »Sie werden ihn nicht anfassen! Wir werden uns jetzt umgehend die Videoüberwachung ansehen.«
»Major!« Jazmin musste tatenlos mit ansehen, wie der General zu Boden ging. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. »Er braucht sofort Hilfe!«
Captain Aayana war als Erster beim General. Er schüttelte den Kopf. »Kein Puls mehr. Er ist tot.«
»Das ist doch alles eine fette Affenscheiße hier!«, brüllte Major Espinoza und stieß Jazmin zurück. »Warum sagt Mutter kein Wort? Wo ist Major Simmerkirk? Ich will umgehend von Mutter wissen, was hier für eine Scheiße gelaufen ist!«
Jazmin strauchelte und sackte erschöpft zu Boden, immer noch verwundert darüber, wie schnell der Wahnsinn um sich griff. Die Wut wegen des Verlusts seiner Frau hatte Espinoza blind gemacht. Er brauchte einen Sündenbock. Rufus Simmerkirk kam den Korridor entlanggerannt. »Hey, Leute, wir haben ein Problem. Mutter macht Ärger. Mit ihrem Index stimmt etwas nicht. Ich arbeite dran, aber sie ist immer noch offline.«
»Ich bin der ranghöchste Offizier! Ich übernehme das Kommando! Alle Leute sofort auf ihre Positionen!«, rief Espinoza. »Das ist ein Notfall! Jeder kennt seine Aufgaben!«
Denis betrachtete die ganze Szene und schien völlig neben sich zu stehen. Die Nachricht vom Tod seines Sohnes musste ihn in einen Schockzustand versetzt haben. Umso überraschender war es, dass er ihr beinahe automatisch eine Decke auf die nackten Beine legte.
»Jazmin Harper ist bis auf weiteres festzusetzen. Sie wandert in die Arrestzelle! Verdammt, ich will sofort mit Mutter sprechen!« Der Major zeigte auf Simmerkirk und Aayana. »Ihr beide sorgt dafür, dass sie im Loch landet. Ich werde mich später um sie kümmern!«
Jazmin schluckte, dieses Versprechen klang wie ein Todesurteil. Ein Tag, der bereits schlimm angefangen hatte, entwickelte sich zu einem verfluchten Höllentrip.