XIII.
Rote Schuhe
Jazmin lief in einem weißen Kleid über eine Wiese voller Blumen. Die Sonne schien. An diesem Tag, es war ein Montag, hatte es nicht geregnet wie sonst an typischen schottischen Spätsommertagen. Sie konnte sich deswegen so gut erinnern, weil sie an diesem Tag ihren neunten Geburtstag gefeiert hatte. Das war im Jahr 2697
gewesen, vor dreißig Jahren, von denen sie allerdings sieben verschlafen hatte.
Ihr Dad hatte ihr am Morgen rote Schuhe geschenkt. Wunderschöne rote Lederhalbschuhe zum Schnüren. Oh, wie hatte Jazmin diese Schuhe geliebt. Als Kind sah man den Wert von Geschenken mit anderen Augen. Sie war damit über die Wiese gelaufen und hatte sich wie eine Prinzessin gefühlt. Die sie im Prinzip auch war. Es hatte ihr während ihrer Kindheit an nichts gemangelt. Ihr Dad hatte ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Eigentlich hätte aus ihr eine verwöhnte Göre werden müssen. Was aber nicht passiert war. Ihr Vater hatte ihr auch beigebracht, neugierig zu sein, auf Details zu achten und hart an sich zu arbeiten. Aber nun saß sie in dieser Zelle.
»Helen …«, flüsterte Jazmin und sah herab auf ihre blutverschmierten Finger. Das war nicht ihr Blut, aber das machte keinen Unterschied. Major Espinoza hatte sie in eine Arrestzelle stecken lassen. Davon gab es vier auf der USS
London
. Sie überlegte, wie man bei einer Mission wie dieser den passenden Bedarf an Arrestzellen festlegte? Was sich ihr Vater wohl bei der Planung gedacht hatte?
Nein, er hatte natürlich nicht jedes Detail auf dem Schiff selbst entworfen. Wenn man es genau nahm, hatte er sogar nur an einer Sache gearbeitet. An Mutter, der zentralen Bord-KI
, ihrer speziellen Datenbank und der Software, mit der die KI
das Schiff steuerte. Wenn sie es denn selbst tat, gekonnt hätte sie es, sogar völlig ohne menschliche Hilfe. Die USS
London
wurde stattdessen von Menschen geflogen. Mutter benahm sich wie ein Erster Offizier, der stets in der Lage war, das Kommando zu übernehmen, es aber, ohne dass es dafür einen besonderen Grund gab, nicht tat.
Die Tür der vier Quadratmeter großen Zelle öffnete sich. Jazmin lag auf dem Bett. Die Toilette aus Edelstahl hatte noch nie jemand benutzt. Sie war die Erste, die in diesem Loch gelandet war. Major Raul Espinoza betrat den Raum. Knapp ein Meter neunzig groß, sportlich und mit kurzen dunklen Haaren. Er und Denis hatten beide eine kraftvolle Ausstrahlung, Denis war aber Nordeuropäer und der Major Latino.
»Darf ich eintreten?«
Wollte er auf diese Frage wirklich eine Antwort haben? Jazmin setzte sich auf und zog die Beine an. Sie trug immer noch diesen dämlichen Patientenkittel.
»Ich bitte, mein Eindringen zu entschuldigen.« Er brachte sich seinen eigenen Stuhl mit. In der Zelle gab es keinen. Genauso wenig wie einen Tisch.
»Was wollen Sie von mir?« Jazmins Wunsch, sich mit ihm zu unterhalten, hielt sich in Grenzen.
»Reden.«
»Sie können mich mal …«
»Es ist wichtig.«
»Bitte …« Sie sah auf die Seite und verzog den Mund. Sie konnte ihn nicht daran hindern.
»Sie wissen, was passiert ist?«
»Wollen Sie überprüfen, ob ich verrückt bin?« Genau darauf lief diese Frage hinaus. Sie verspürte Lust, ihm einen auf die Nase zu geben.
»Ja.« Er war zumindest ehrlich. Der Major nahm auf dem Stuhl, mit dem Rückenteil zu ihr gerichtet, Platz.
Sie verdrehte die Augen und antwortete. »Ich bin Colonel Dr. Jazmin Harper, 32
Jahre alt. Ich habe sieben Jahre geschlafen, und seit ich aufgewacht bin, habe ich schlechte Laune!« Das stimmte zwar nicht, aber es war die richtige Antwort für diesen Idioten.
»Und?«
»Wir befinden uns auf einem Raumschiff, ich bin Ärztin … die es nicht verhindern konnte, dass Carl Moretti, Cloe Chang, Mason Jagberg, Helen Minous und Ihre Frau starben.« Jazmin zögerte, obwohl sie wütend war, sprach sie die Namen ohne Groll aus. Keiner der fünf hatte den Tod verdient. Es war nur seit dem Schichtwechsel alles schiefgelaufen, was hätte schieflaufen können.
»In Ordnung … Sie sind wach.«
»Arschloch!«
Er nahm die Beleidigung hin. »Das bin ich … Hätten Sie an meiner Stelle anders gehandelt?«
Jazmin verzog erneut den Mund.
»Colonel Harper … ach, drauf geschissen … Jazmin, wissen Sie, was mein Problem ist?«
»Was?« Sie stutzte.
»Sie tragen am Tod meiner Frau keine Schuld. Das weiß ich, auch ohne das Überwachungsvideo gesehen zu haben … Mutter ist offline … aber Sie haben kein Motiv. Sie sind
vielleicht gestresst, das sind wir alle, aber Sie sind keine Mörderin und auch nicht verrückt.«
Jetzt hörte Jazmin ihm zu.
»Das sagt mir mein Verstand … Mein Gefühl hingegen hält Sie für eine Psychopathin, die zuerst Cloe in den Tod trieb, dann Mason den Verstand raubte und abschließend ein Blutbad anrichtete, bei dem Helen und meine Frau starben.«
»Das ist nicht wahr …« Egal, wie es ausgesehen hatte, so war es nicht gewesen.
»Das weiß ich … Sie hätten Mutter niemals genau im passenden Moment aus dem Spiel nehmen können und mussten davon ausgehen, das alles aufgezeichnet wurde …«
Jazmin schluckte. Auch Raul Espinoza war verwundet, seine Seele blutete, aber er nahm sich keine Zeit, um zu trauern. Natürlich stimmte alles, was er sagte. Jeder Mensch reagierte unterschiedlich auf solche Situationen. Einige flippten sofort aus, andere später.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich trage jetzt die Verantwortung für unser aller Leben. Es gibt technische Probleme. Darunter einige, für die ich, für die wir alle, dringend Lösungen benötigen. Ich brauche eine Ärztin, und Sie sind die letzte, die ich habe …«
Sie verstand, was er sagte. Das Schiff war in Schwierigkeiten, und er nutzte jede Chance, die er hatte. Selbst wenn das hieße, sie freizulassen.
»Aber wir haben doch Ärzte, die Sie …«
»Nein.« Er unterbrach sie. »Ich kann keinen anderen Arzt aufwecken lassen. Die Steuerung der Kältebetten verweigert den Zugriff. Klar … sie sollte auch ohne Mutter funktionieren, was sie aber nicht tut. Sie sind im Moment die einzige.«
»In Ordnung …« Genau diese Lektion blieb bei den ganzen virtuellen Notfallübungen hängen. Die gedrillten
Kommandooffiziere der USS
London
ließen sich auch mit zerschmetterten Kniescheiben nicht von ihrem Weg abbringen. »… ich helfe.«
»Unter meinem Kommando!«
»Natürlich.« Jazmin hatte als Colonel den höheren Rang, sie würde sich allerdings auch unter weniger dramatischen Umständen nicht darum reißen, das Schiff zu kommandieren. Das konnten andere besser.
»Colonel, willkommen zurück.« Der Major stand auf und gab ihr die Hand. Sie tat es ihm nach und schlug ein.
»Sir.«
»Ich denke, Sie wollen sich frisch machen.«
Sie nickte. Das war dringend notwendig. An ihren Beinen haftete auch noch verkrustetes Blut. »Womit soll ich anfangen?«
»Wir haben Probleme mit der Navigation, unsere Frontdeflektoren zicken herum, und mein leitender Techniker bringt alle fünf Minuten weitere schlechte Nachrichten.«
»Das ist bedauerlich, aber daran kann ich nichts ändern. Ich bin Ärztin.«
»Das stimmt allerdings.« Er lächelte. »Colonel, wir haben sechs Leichen. Sechs Todesfälle, die ich mir nicht erklären kann. Helen und meine Frau starben durch Fremdeinwirkung, die Probleme von Mellenbeck, Moretti, Chang und dem kleinen Jagberg scheinen aber anderer Natur zu sein. Es gibt zudem weitere Besatzungsmitglieder, bei denen mir Verhaltensänderungen aufgefallen sind. Dabei klammere ich mich nicht aus. Ich habe seit drei Tagen Kopfschmerzen. Die Tabletten wirken kaum noch.«
»Der General ist tot?«
»Ein Schlaganfall … Entschuldigung, das hätte ich Ihnen bereits früher sagen sollen.«
»Nein … schon gut. Ich habe es gesehen.« Jazmin hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Aber Rauls Worte zeigten eine mögliche Verbindung an. Sie hatte vier Todesfälle an Bord, die auf mögliche neuronale Probleme hinwiesen: Carl, ein ausgebildeter Kampfpilot, der mit einem Scooter aus der Kurve flog, Cloe, die sich ohne Grund selbst tötete, Mason, der gegen Wände lief, und Georg Mellenbeck, der einen Schlaganfall bekommen hatte. Waren das alles Zufälle? »Ich werde die Todesfälle untersuchen.«
Jazmin stand auf der Krankenstation. Drohnen hatten das Blut aufgewischt und die Leichen fortgebracht. Nur die beschädigte Glasscheibe erinnerte an die schrecklichen Ereignisse. Sie strich sich mit der Hand über die frische Uniform an ihrem Bauch. War sie noch dieselbe wie vor dem schrecklichen Ereignis? Nein, danach wäre niemand mehr dieselbe wie zuvor.
»Ma’am.« Eine der jüngeren Kommandooffiziere meldete sich bei ihr. First Lieutenant Adele Lefevre. Die sportliche Dame überragte Jazmin deutlich und hätte so manchem Kerl beim Armdrücken eine Niederlage beigebracht.
»Was kann ich für Sie tun?« Jazmin war nicht entgangen, das Lefevre am Oberschenkel eine Waffe trug. Ansonsten gehörte sie zur Gruppe der Navigatoren. Auf der Akademie hatte sie oft die Pausen gemeinsam mit Raul und Carl verbracht.
»Major Espinoza hat mich zu Ihrem Schutz eingeteilt«, antwortete sie, ohne Jazmin anzusehen.
»Das ist doch eine nette Geste.« Jazmin ging einen Schritt auf sie zu. »Schutz wovor?
»Ähm …« Natürlich wusste sie auf diese Frage keine Antwort.
»Ist in Ordnung. Bleiben Sie einfach bei mir und
beschützen Sie mich vor allem … was mir zustoßen könnte.« Jazmin biss sich auf die Unterlippe. Raul Espinoza brauchte sie zwar, was aber offenbar nicht bedeutete, dass er ihr auch vertraute. Die Dame mit den stattlichen Oberarmen war ihr persönlicher Wachhund, der sie vermutlich davon abhalten sollte, weitere Besatzungsmitglieder zu töten.
»Ja, Ma’am.«
»Wissen Sie was … ich werde mit Ihnen anfangen.«
»Womit Ma’am?«
»Ich brauche Blutproben.« Jazmin ging zu einem Raum mit medizinischem Equipment und legte die Hand auf eine Scanner-Oberfläche. Aus einer Schublade holte sie sich einen Mehrfachextraktor, der wie eine dicke Pistole aussah, sich aber nicht zum Erschießen von unliebsamen Zeitgenossen eignete. Damit konnte sie in kurzer Zeit vielen Besatzungsmitgliedern eine Blutprobe abnehmen.
»Ähm …« First Lieutenant Lefevre verstand es, mit wenigen Worten zu verdeutlichen, warum ihre militärische Karriere möglicherweise recht überschaubar verlaufen würde.
»Ich zeige es Ihnen.« Jazmin tippte sich mit dem Extraktor an ihr eigenes Rangabzeichen. Eine kleine grüne Diode bestätigte die Datenübertragung.
»Harper, Jazmin,
32
Jahre, weiblich«
, erklärte eine Stimme in ihrem hinter dem Ohr implantieren Kommunikator. Die Verbindung mit dem Extraktor baute sich eigenständig auf. Das System erkannte sie und würde die Blutprobe mit ihrer Kennung markieren.
»Es ist egal, an welcher Stelle man das Blut abnimmt.« Jazmin setzte sich den Extraktor an den Hals und drückte ab. Sie spürte einen kurzen Stich. Der Oberschenkel hätte es auch getan, aber wegen der Uniform vermutlich einen kleinen Blutfleck hinterlassen. Das wollte sie nicht.
»Harper, Jazmin, Blutprobe valide.«
»Bitte …« Lefevre hielt ihr ebenfalls den Hals ihn. Ähnlich wie ein alter Trommelrevolver hatte der Extraktor automatisch die winzige Nadel und das Blutröhrchen gewechselt.
»Lefevre, Adele,
33
Jahre, weiblich.«
Jazmin nahm zuerst an ihrem Rangabzeichen die Daten. Dann das Blut. »Lefevre, Adele, Blutprobe valide.«
Jazmin hatte noch ein weiteres Magazin eingesteckt. Mit einem Magazin konnte sie zwanzig Blutproben nehmen. Die große Runde durch das Schiff dauerte einige Zeit. Adele dabeizuhaben erwies sich als praktisch, da allein ihre bewaffnete Präsenz jegliche Diskussion über die Notwendigkeit einer Blutprobe erübrigte.
»Guten Tag!« Jazmin betrat die kreisrunde Brücke, deren Wände und Decke komplett aus Displays bestanden. An der Seite wurden diverse Tabellen und Daten eingespielt, vorne und oben erlaubten die Bildschirme eine freie Sicht ins All.
»Colonel …« Der Major, der auf General Mellenbecks Platz saß, stand auf. Weitere sechs Kommandooffiziere blieben sitzen, alle sahen sehr beschäftigt aus.
»Darf ich einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten.« Jazmin blieb neben Raul stehen. Adele befand sich nur einen Schritt hinter ihr. Einige Besatzungsmitglieder drehten ihr die Köpfe zu. »Es geht um eine wichtige medizinische Vorsorgeuntersuchung.«
»Wir haben heute einiges zu tun … aber fangen Sie einfach mit mir an.« Der Major ging mit gutem Beispiel voran, er wusste genau, warum sie das tat.
»Sir, wir bekommen neue Messwerte. Das Schwarze Loch ist erheblich größer, als wir zuerst angenommen haben. Mutters Gravitationsmodell ist nur partiell korrekt … ich
versuche, die neuen Daten zu integrieren«, meldete Captain Aayana, der sich ansonsten nur um die Kommunikation kümmerte.
»Es geht ganz schnell.« Jazmin tippte mit dem Extraktor Espinozas Rangabzeichen an.
»Espinoza, Raul Felix,
31
Jahre, männlich«
, quittierte das System nur für sie hörbar. Sie hatte bisher weder seinen zweiten Vornamen gekannt noch sein Alter. Er war sogar jünger als sie. Dann drückte sie an seinem Hals ab. »Espinoza, Raul Felix, Blutprobe valide.«
»Das war es schon.« Sie gab ihm ein steriles Pad. Er nickte und rieb sich die Stelle, an der sie ihn gestochen hatte. Die Wunde war so klein, dass kaum Blut austrat.
»Captain, ich brauche sofort eine Hochrechnung!«, rief er Aayana zu und setzte sich wieder.
»Sorry … die könnte Ihnen nur Mutter aus der Hüfte geschossen liefern … Ich brauche dafür einen Rechenschieber.« Der Captain wirkte gereizt, die an sich flapsige Bemerkung hatte er ohne jeglichen Humor gemacht.
»Aayana, ist gut … tun Sie es einfach!« Auch der Major hatte seine Nervosität bemerkt.
Rufus Simmerkirk hob seinen Arm, sein Kopf blieb unten. Er trug ein geschlossenes Headset, mit dem er in den Tiefen von Mutters digitalen Eingeweiden agierte. »Ich will keinen Ton hören … jeder von euch kann rechnen. Eure Workstations arbeiten alle ohne Probleme. Mutter ist offline … und je mehr ihr mir auf den Sack geht, desto länger wird es dauern, sie wieder flottzumachen.«
»Major Simmerkirk, das wissen wir.« Ihr neuer Kommandant verdrehte sichtlich angefressen die Augen.
»Wollte es nur noch einmal gesagt haben …« Rufus sah aus, als ob er beim Kirschenpflücken wäre. Das System
tastete seine Handbewegungen in der Luft ab und übertrug die Kommandos.
Jazmin schnappte sich als Nächstes Captain Aayana. Er arbeitete weiter, ohne sie zu beachten. Auf seiner holographischen Arbeitsumgebung waren unzählige Fenster geöffnet. Es gab eine schematische Ansicht des Schwarzen Lochs und zahlreiche Diagramme, an denen endlose Zahlenreihen visualisiert wurden. Ihr waren die Zusammenhänge nicht unbekannt, allerdings wollte sie gerade nichts davon wissen. Sie tippte sein Rangabzeichen an.
»Aayana, Christoph,
29
Jahre, männlich.«
Und abdrücken. »Aua!«
»Aayana, Christoph, Blutprobe valide.«
»Sir, ich habe einen neuen Wert … 5
,102
Grad. Genauigkeit 98
,7
Prozent«, rief Aayana wie von einer Tarantel gestochen. Jazmin, die direkt neben ihm stand, schreckte zurück.
»Über fünf Grad?« Dem Major gefiel die Zahl auch nicht. Jazmin sah genauer hin. Das war der Vektor, mit dem sich die USS
London
gegen das Schwarze Loch stemmte. Ein extrem hoher Wert für eine Kurskorrektur wenn man mit 0
,44
c durchs All flog. Das Schwarze Loch war ein ganz schön fetter Klops.
»Ja, Sir.« Captain Aayana arbeitete, ohne aufzusehen. »Die zweite Modellrechnung liefert ein ähnliches Ergebnis: 5
,101
Grad. Die Werte sind valide.«
»Jenkins!«, rief der Major. »Haben Sie die Werte übernommen?« Die Stimmung war zum Bersten gespannt.
»Ja, Sir!« Jenkins war die Frau an der Triebwerkssteuerung, sie hatte auch die Deflektoren unter ihrer Kontrolle. »Sir … das ist zu viel. Viel zu viel. Wenn wir mit dem Tempo weiter gegensteuern müssen, fliegen wir gleich quer!«
»Das ist mir klar.« Raul tippelte mit den Fingern auf der
Lehne. Mutter wäre in dieser Situation eine wichtige Ratgeberin gewesen.
»Jagberg für Espinoza … können Sie mich hören?«
, fragte Denis über den Lautsprecher der Brücke. Bei ihm waren im Hintergrund laute Geräusche zu hören.
»Ja, sprechen Sie.«
»Wo zur Hölle bringen Sie uns hin?«
Denis klang genauso angepisst, wie der Major aussah.
Jazmin fiel es schwer, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Als Nächstes ging sie zu der rothaarigen Jenkins, die, ohne ein Wort zu sagen, den Kopf auf die Seite legte. Mit beiden Händen wirbelte sie weiter durch ihre Arbeitsumgebung. Bei ihr saß jeder Handgriff. Eine KI
hätte ihre Arbeit kaum schneller erledigen können.
»Jenkins, Elvira,
37
Jahre, weiblich.«
Dann nahm Jazmin die Blutprobe. »Jenkins, Elvira, Blutprobe valide.
»Das Schwarze Loch ist stärker als erwartet … wir fliegen mit einer Korrektur von 5
,1
Grad«, erklärte Raul und zeigte Aayana an, seine Charts zu teilen. »Sie erhalten dazu Daten.«
»Mir geht das Schwarze Loch am Arsch vorbei … was mir allerdings den Tag versaut, ist das Zeug, das bei uns seit zwei Minuten in den Frontaldeflektoren landet.«
Denis hustete kurz. »Ich habe zwei Techniker in Schutzanzügen bei den Supraleitern. Die sehen nichts mehr, weil die Spannung extrem schwankt.«
»Warten Sie … Jenkins, von was redet er da?« Raul ging zu ihr. Jazmin stand noch neben ihr und sah auf einen anderen Bildbereich ihrer Arbeitsumgebung.
»Sir, wir registrieren seit zwei Minuten eine Zunahme der Teilchen, die wir abwehren. Bisher sind es knapp 400
Prozent, aber der Wert steigt schnell.«
»Sieht von euch auch mal jemand zwischendurch auf die Bildschirme vor eurer Nase?«
»Jagberg! Das tun wir!«, fauchte Raul zurück. Mutter fehlte an allen Ecken. Jenkins hatte nichts gemeldet. »Jenkins, haben wir dafür einen Trend?«
»Nein, Sir.«
»Sie stehen doch auf Zahlen, oder?«
Denis hielt dagegen. »Ich gebe Ihnen ein paar. Um die volle Einsatzbereitschaft der Frontaldeflektoren für fünf Jahre zu garantieren, dürfen die Ablagerungen den Energiefluss um nicht mehr als sechs Prozent behindern. Wenn wir weiter Staubsauger spielen, können Sie das vergessen. Natürlich schicke ich Ihnen dazu auch gerne meine Daten.«
»Danke.« Raul wirkte sauer, er zeigte auf den Bildausschnitt, auf dem die gestiegenen Energiewerte der Frontaldeflektoren angezeigt wurden. Jenkins hatte sich bisher offenbar auf die Triebwerke fokussiert und deswegen die Veränderungen am Bug nicht bemerkt. »Auf den Schirm damit!«
»Ja, Sir.« Elvira Jenkins ließ in der Mitte der Brücke eine animierte Bug-Sektion der USS
London
entstehen, an der die Partikel und die durch sie ausgelösten Deflektorkacheln wie ein kleines Feuerwerk zu leuchten begannen.
Jazmin ging weiter. Jetzt war Rufus an der Reihe. Die aktuellen Ereignisse machten allen zu schaffen. Als Erstes nahm sie seine Daten.
»Simmerkirk, Rufus,
37
Jahre, männlich.«
Dann legte sie die Hand an die Stelle seines Halses, in die sie stechen wollte.
Rufus nickte. Sein virtueller Helm war teiltransparent, er konnte nach Bedarf zwischen der realen Ansicht seiner Workstation und der virtuellen Ansicht von Mutters Datenbank wechseln. Dann drückte sie ab.
»Simmerkirk, Rufus, Blutprobe valide.«
Da waren noch drei weitere Kommandooffiziere, denen sie Blut abnehmen musste. Das erste Magazin war voll. Sie wechselte die Einheit und sah kurz zu Adele. Der First Lieutenant behielt jeden ihrer Handgriffe im Auge.
Mitten in diese gesellige Runde ertönte ein einzelner dumpfer Brummton. Jazmin schreckte auf. Nein, jeder auf der Brücke fuhr kurz hoch. Für diesen Alarm gab es nur einen Grund: Das Teilsystem, das Feuerleitlösungen für den Waffeneinsatz koordinierte, erwachte zum Leben. Das war wie ein Notbremsassistent, der fragte auch nicht, wenn er gebraucht wurde. Die Hochenergiegeschütze feuerten, ohne nachzufragen, mehrere Salven ab. Auch dafür gab es nur einen Grund: Meteoriten.
»Nilsson!«, rief Raul quer über die ganze Brücke. Holger Nilsson war ihr Waffensystemoffizier, der aber gerade bei Aayana stand, um ihm zu helfen. Er lief zu seinem Platz zurück. »Was haben Sie?«
»Sir, drei Meteoriten, sieben, zwölf und einunddreißig Kilogramm schwer, wurden abgefangen. Inmitten der höheren Staubkonzentration betrug die Vorwarnzeit nur sechs Sekunden.«
Genau aus dem Grund schossen die Geschütze, ohne zu fragen. Bei 0
,44
c war es nicht leicht, einen nur wenige Kilogramm schweren Stein zu orten. Und orten allein reichte nicht, die Waffensysteme mussten die Streuner erfassen, schießen und treffen. Wenn die Systeme auch nur einen Meteoriten dieser Größenordnung verfehlten, würde von der USS
London
nur noch glühend heißer und ultraschneller Staub übrig bleiben.
»Hallo … geht’s noch! Was war das denn?«
, brüllte Denis über den Lautsprecher. Verständlich, fünfzig Kilo
zerschossener und teilweise verglühter Meteoritenstaub brachte die Frontaldeflektoren zum Glühen wie ein Stück Eisen im Feuer.
»Drei Streuner, Vorwarnzeit sechs Sekunden!«, antwortete der Major und zeigte Nilsson an, weitere Meteoriten zu melden. In der animierten Darstellung mitten auf der Brücke gab es umgehend weitere Meteoriten, die mit ihrer jeweiligen Vorwarnzeit zwischen vier und zwölf Sekunden angezeigt wurden. »Jagberg, da kommt noch mehr … wir geraten mitten in einen Meteoritenschwarm.«
»Sofort weg von den Supraleitern!«
, brüllte Denis. Jeder auf der Brücke konnte ihn hören, auch wenn er mit den Technikern sprach, die für ihn arbeiteten. »Sofort weg da!«
»Sir, ich habe einen Brocken von 745
Kilogramm. Kontakt in neunzehn Sekunden«, meldete Nilsson. Jazmin stand bereits hinter ihm, traute sich aber nicht, ihn in dem Moment zu stören. Das waren Killer. Sie hatte auch die Notfallübung zur Meteoritenabwehr nicht vergessen. »Ziel bereits anvisiert. Aktiviere zusätzlich zwölf Railgun-Batterien, um mit einem Sperrfeuer die Deflektoren zu unterstützen.« Seine Daten gingen automatisch an alle beteiligten Workstations.
Railguns verschossen elektromagnetisch beschleunigte, ultraschnelle Geschosse, die bereits, ohne 0
,44
c schnell zu fliegen, 45000
Meter in der Sekunde schnelle Kupferkerne abfeuerten. Die Waffen waren zwar langsamer als Hochenergiegeschütze, hatten dafür aber eine Masse. Und genau durch diese Masse entwickelte jedes nur zehn Gramm schwere Projektil die Energie einer nach vorne gerichteten Nuklearexplosion. Die Kadenz einer Railgun lag bei 9000
Schuss in der Minute. Sie brachten also mit zwölf Geschützen in jeder Sekunde das Äquivalent von 1889
Petajoule starken Atombomben zur Zündung. Das war reichlich Feuerkraft.
»Sir, wir überladen die Frontaldeflektoren! Maximale Spannung für drei Sekunden«, meldete Jenkins. Das bedeutete für drei Sekunden eine nahezu vollständige Umleitung der Antriebsenergie, um den Bug des Schiffs zu schützen.
Von Denis hörte man in diesem Moment über die Lautsprecher nur noch diverse Schimpfwörter und unfreundliche Aufforderungen für die beiden Techniker, die sich noch im Gefahrenbereich der Supraleiter befanden. In den Schutzanzügen konnte sich niemand schnell bewegen. Sie schützten zwar vor der Hochspannung, aber nur begrenzt vor der Hitze, die dort bei Volllast der Systeme entstand. Der Bereich war nicht ohne Grund abgeschottet.
»Aktiviere Railguns. Jetzt. Wir schießen«, rief Nilsson. Die Waffensysteme der USS
London
schossen den 745
Kilogramm schweren Meteoriten und seine Bruchstücke in immer kleinere Teile. Das ganze All vor ihnen begann zu glühen. Für drei Sekunden mussten die Deflektorkacheln mehrere Millionen Grad heißem und ultraschnellem Staub trotzen.