XVII.
Ruhe in Frieden
Denis saß auf seinem Scooter und fuhr zur Lagerzone der Kältebetten. Seine beiden Drohnen R2 und D2 begleiteten ihn. Dieser Bereich befand sich zentral im Schiff und war besonders gut geschützt. Dort schliefen genau 451  Menschen und drei Millionen Embryonen. Es wäre nicht möglich gewesen, so viele erwachsene Menschen mitzunehmen. Jedes dieser Kinder würde später in einer künstlichen Gebärmutter heranwachsen und auf einer neuen Welt leben.
Kritiker auf der Erde wurden nicht müde, vor den langfristigen Folgen dieser angeblich unmenschlichen Zucht zu warnen. Besonders weil es möglich war, die Kinder erst im Alter von fünf oder sechs Jahren auf die Welt zu bringen. Davor konnten sie komplett virtuell betreut werden. Ein bizarrer Gedanke, aber es funktionierte. Diese unglaubliche Technik ermöglichte es, junge Menschen auch unter widrigsten Bedingungen wohlbehalten in einem fortwährenden Traum aufwachsen zu lassen.
Denis hatte eine richtige Mutter gehabt, und darüber war er froh, er kannte aber auch die Argumente der Befürworter, die behaupteten, dass dies eben der Preis für das langfristige Überleben der Menschheit sei, weil man nur so neue Welten erobern könne. Die Mehrheit und der stetig wachsende Bevölkerungsdruck auf der Erde gaben ihnen recht. Die Kritiker hatten die USS London nicht aufhalten kön nen.
»Jagberg, kannst du mich hören?« Espinoza hatte Sehnsucht nach ihm. Über einen Anruf von Jazmin hätte er sich mehr gefreut.
»Klar und deutlich.« Die Trasse zu den Kältebetten war nur spärlich beleuchtet, und die Fahrt verlief ruhig. Hier glaubte man von allem, was auf dem Schiff passierte, weit weg zu sein. Eine wohltuende Illusion.
»Fährst du zu den Kältebetten?«
»Das war die Order.«
»Sehr gut … Jagberg, hör mir zu. Es ist wichtig. Wir sind zu wenige. Es ist mir völlig egal, wie du es anstellst, aber du musst einen Weg finden, mehr Techniker aufzuwecken.«
»… und das ist der Plan.« Auch wenn Denis weder wusste, was das Problem mit den Kältebetten war, noch eine Lösung parat hatte. Die Fehlermeldung stammte noch von Mutter, die erklärt hatte, dass die komplette Steuerung nicht reagieren würde.
»Und wenn du nackt um ein Lagerfeuer tanzen und Blutopfer abliefern musst … bring unsere Crew zurück!«
Denis bremste ab, er war da. Er sah auf das Display, das Espinoza anzeigte. Sein Major sah nicht gut aus. Der Tod seiner Frau hatte ihn offenbar arg mitgenommen. Denis bemerkte seine tiefen Augenringe und ein nervöses Zucken des Lids. Als würde Espinoza gleich mit Schaum vor dem Mund umkippen. »Ich hab’s verstanden!« Dann trennte er die Verbindung. Auf diesem Schiff schien inzwischen jeder den Verstand zu verlieren.
»Verbindung aufbauen: Tarek Abbas.« Denis wollte wissen, wie weit er war. Das mit den Navigationstriebwerken war wichtig. Er setzte das mobile Head-up-Display auf seine Nase und verließ den Scooter. Die beiden Drohnen lösten sich aus ihren Halterungen und folgten ihm wie zwei junge Hunde.
»Hi, Boss.« Tarek sah wieder aus wie ein Schwein. Der Dreck in seinem Gesicht und er bildeten bereits eine natürliche Symbiose. »Wie läuft es bei dir?«
»Sag du es mir …« Denis wollte Tarek nicht sprechen, um Smalltalk zu machen. Er hatte ihn und fünf weitere Techniker zur Reparatur besagter Navigationstriebwerke eingeteilt. Die USS London verfügte steuerbords über sechzehn davon. Keines arbeitete mehr fehlerfrei. Um unter Einfluss der ganzen Erschütterungen eine Überhitzung zu verhindern, hatte sich eines nach dem anderem abgeschaltet.
»Die Triebwerke sind in Ordnung. Na ja, mehr oder weniger … Die Druckwellen haben ein paar Beulen hinterlassen. Wir ärgern uns gerade mit der Steuerung herum.« Tarek sah scheiße aus, auch wenn der Dreck in seinem Gesicht einiges kaschierte. Er wirkte übermüdet. »Die Abschaltung war ein Fake … Die Triebwerke liefen nicht heiß. Es gab Sensorfehler, die wir gerade reparieren. Einige dieser kleinen Scheißer sind extrem schwer zugänglich.«
»Melde dich, wenn du Hilfe brauchst.«
»Geht klar, Boss.«
Denis beendete das Gespräch. Er stand vor der Sicherheitsschleuse und legte seine Hand auf einen Scanner. Normalerweise hätte Mutter sich jetzt gemeldet, es blieb aber ruhig, und die Schleuse öffnete sich auch so. Unter der Glasfläche des Scanners konnte er sein grünumrandetes und ziemlich dumm dreinschauendes Gesicht erkennen. Es war während der Ausbildung gemacht worden. Damals hatte Sue noch gelebt. Zugang gewährt , stand darunter.
Im Prinzip war diese Zone ein extrem stabiler Bunker. Ein fünfzig Meter langer und zwanzig Meter hoher scheißkalter Korridor. Die Lufttemperatur betrug nur zehn Grad. Er fror. Das System hatte eine autarke und mehrfach redundante Energieversorgung. Die Luft roch muffig.
Er sah sich um, auf jeder Seite gab es Kältebetten. Zehn in der Höhe und fünfundzwanzig in der Tiefe. Die drei Millionen Embryonen befanden sich an der Stirnseite und benötigten nur einen zwei Meter hohen und drei Meter breiten Froster.
Wo drückt der Schuh?, fragte er in Gedanken. Seine beiden Drohnen warteten brav hinter ihm. Vielleicht würde er sie überhaupt nicht brauchen. Er ließ sich in seinem Head-up-Display bekannte Fehler als Overlay über sein Sichtfeld legen. Zehn Meter vor ihm war ein Leuchtelement ausgefallen, an der Stelle befand sich eine dunkle Bodenfliese, die jetzt in seinem Display schwach rot leuchtete. Nicht gerade ein dramatischer Fehler. Um solche Kleinigkeiten kümmerte sich bei der aktuellen Krise niemand. Ansonsten wirkte hier alles so wie immer: gemütlich wie ein Tiefkühlfach. Die Technik funktionierte, und die Besatzung schlief.
»Administrationskonsole öffnen …« Es gab keinerlei Arbeitsplätze oder weitere Displays im Raum. Vor Denis’ Augen entstand eine animierte Arbeitsumgebung, die ihn vollständig umgab. Die Sprachsteuerung funktionierte noch. »Status der Besatzung anzeigen.«
Vor ihm visualisierten sich persönliche Kacheln. Es sollten 451 sein, er zählte sie nicht. Bei jeder Kachel konnte er ein Bild, den Namen und den Vitalzustand erkennen. Niemand hatte Probleme, denen ging es bestens. Überhaupt machte das System einen tadellosen Eindruck. Von einem Ausfall der Steuerung war nichts zu erkennen. Wenn hier ein wichtiges Teilsystem offline wäre, hätte ihn eine Flut von Fehlermeldungen überhäuft.
»Systemdiagnose starten.« Er musste tiefer graben. Die Analyse dauerte nur wenige Sekunden. Dann meldete das Diagnosesystem, keine Fehler gefunden zu haben: System zu 100  Prozent einsatzbereit, wurde als schwebende Schrift in seinem Sichtfeld eingeblendet.
»Jagberg für Espinoza. Verschlüsselte Verbindung.« Das sollte auf der Brücke nicht jeder hören. Espinoza bekam in diesem Fall mitgeteilt, dass es vertraulich war.
»Ich kann reden.«
»Ich bin bei den Kältebetten.«
»Und?«
»Nichts … es gibt hier keine Fehler!« Denis hatte keine Ahnung, was das sollte.
»Aber Mutter hat doch …«
Denis fiel ihm ins Wort. »Mir ist gleich, was Mutter gesagt hat, ich finde keinen Fehler, den ich reparieren könnte. Die Hardware läuft sauber, und eine Systemdiagnose meldet volle Funktionalität.«
»Dann wecke jemanden auf!«
»Wen?«
»Ist mir egal … am besten jemanden mit dicken Titten, aber melde mir, wenn es geklappt hat. Dann schicke ich Leute, um alle Techniker manuell aufzuwecken.«
»Befehl bestätigt.« Denis knipste ihn ab. Er tippte auf eine beliebige Kachel. Seine Wahl fiel auf keine vollbusige Schönheit, sondern auf Sven Benush. Ein Captain und Navigationsoffizier. Sven war 27 , ein Meter zweiundneunzig groß und hatte ihn auf der Akademie immer beim Basketballspielen abgezogen. Der Sack! Denis kannte ihn, die beiden hatten öfter ein Bier zusammen getrunken. Seine Frau schlief im Kältebett neben ihm. Die beiden hatten sogar ihren Hund mitnehmen dürfen.
»Aufwachroutine Sven Benush aktivieren.« Normalerweise wurde niemand in der Lagerhalle aus dem Schlaf geholt. Da man nackt in dieser milchigen Suppe lag, hätte das bei einem Schichtwechsel für den einen oder anderen peinlich werden können. Es gab gesonderte Auswachräume in der Nähe des Wohnbereichs. Die waren gemütlicher und auch besser geheizt.
Keine Reaktion.
»Aufwachroutine Sven Benush aktivieren.« Denis wiederholte den Sprachbefehl. Es passierte trotzdem nichts.
»Systemdiagnose starten: Sprachmodul.« Konnte ihn das System plötzlich nicht mehr verstehen? System zu 100  Prozent einsatzbereit, flatterte umgehend in beigen Lettern in sein Sichtfeld. Die Kiste verstand sehr wohl, was er sagte.
»Hey, so nicht! Ich kann auch anders.« Denis begann, die passenden Menüs mit Fingergesten zu aktivieren. Er bekam einen Anruf. Tarek wollte ihn sprechen.
»Ich höre.«
»Boss, das ist schräg …«
»Drück dich deutlicher aus.« Die Technik der USS London erlaubte es ihm immer noch nicht, Gedanken zu lesen.
»Wir tauschen Sensoren aus. Es ist mühsam, aber wir kommen voran. Das erste Navigationstriebwerk wird gleich wieder funktionieren.«
»Das ist gut.«
»Ist es nicht …«
»Weil?«
»Weil ich einen kaputten Hitzesensor in der Hand habe, der bereits ausgetauscht wurde. Man kann das an der Fertigungstechnik sehen. Ab Werk werden die kleinen Chassis aus einem Titan-Verbundstoff gegossen, wenn wir die Teile nachbauen, drucken wir sie aus … du kennst den Unterschied.«
»Okay, dann gab es vielleicht bereits einen Fehler an der Stelle.« Während Denis mit Tarek sprach, navigierte er weiter durch die Menüs. Ohne die automatisierte Routine musste er unzählige Knöpfe drücken und Regler neu justieren.
»Dachte ich auch. Ich habe unsere Reparaturprotokolle kontrolliert. Fehlanzeige. Dann habe ich die Fingerabdrücke auf dem Teil gecheckt, man muss das kleine Ding anfassen, um es in die Halterung zu drücken. Keine Drohne kriegt das hin.«
»Und, wer war es?« Natürlich waren Fingerabdrücke und DNA sämtlicher Besatzungsmitglieder gespeichert. Vermutlich hatte jemand vergessen, den Austausch zu protokollieren.
»Du …«
»Tarek, verarsch mich nicht! Das ist nicht lustig!« Denis’ Herz schlug schneller. Das war er nicht gewesen. Er hatte niemals einen Hitzesensor an einem Navigationstriebwerk ausgetauscht.
»Ich lache nicht.«
»Tarek, das habe ich nicht getan!«
»Dachte ich mir.«
»Okay … ich komme gleich zu dir. Sichere weitere Beweise, wenn du welche findest!«
Espinoza meldete sich. Er wollte Tarek und Denis gleichzeitig sprechen und schaltete sich in die offene Verbindung.
»Meine Herren … ich hoffe, ich störe nicht.«
Doch, das tat er, Denis war noch nicht damit fertig, seinen Mann für den Einsatz zu briefen.
»Abbas, Jagberg, ich brauche in den nächsten dreißig Minuten steuerbords mindestens vier Navigationstriebwerke!«
»Sir, wir arbeiten daran. Eines ist gleich fertig. Für vier Triebwerke brauchen wir noch eine Stunde« , antwortete Tarek.
»Dreißig Minuten. Nicht in vierzig, nicht in fünfzig und nicht in sechzig Minuten. Ich brauche sie in verfickten dreißig Minuten! Wir drehen uns immer schneller aus unserer Flugrichtung heraus und werden von einem verflucht großen Schwarzen Loch angezogen!«
»Sir, wenn wir die Sensoren nicht reparieren, kann es beim Start zu einem Triebwerksbrand kommen. Deshalb gab es die Notabschaltung …«
»Tarek, nutze zur Not einen manuellen Anlauf der Triebwerke. Dein Team kann dich mit manuell gemessenen Temperaturen unterstützen.« Das hatte Denis bereits bei einer virtuellen Übung gemacht. Der Weg war umständlich, aber er funktionierte.
»Geht klar, Boss!«
»Danke, meine Herren!« Espinoza machte die Leitung dicht. Tarek tat es ihm gleich.
Denis schüttelte den Kopf. Das war verrückt, er hatte ganz sicher nie einen Sensor an einem Navigationstriebwerk ausgetauscht. Er wandte sich wieder der Aufwachroutine von Sven Benush zu. Noch etwas mehr als sechzig Sekunden. Es funktionierte. Das System verarbeitete alle Befehle, die er manuell eingegeben hatte. Wo befand sich Sven? Linke Seite, vierte Reihe, siebtes Schubfach. Er hätte sich jemanden aussuchen sollen, der nicht so weit oben eingelagert war.
»Platz 147 . Los, holt mir die Kiste mit Sven Benush herunter.« Immerhin war er so vorausschauend gewesen, die Drohnen mitzunehmen. R2 und D2 piepten zufrieden und gewannen an Höhe. Auch Drohnen wollten beschäftigt werden. Jede dieser milchig glasigen Kryo-Kapseln war einen Meter breit und drei Meter lang, und jede einzelne Einheit verfügte über ein komplett autarkes Lebenserhaltungssystem. Die Drohnen zogen den Quader aus der Halterung und senkten sich mit ihm ab. Auf dem Head-up-Display bekam er laufend Svens aktuelle Vitaldaten angezeigt. Ihm ging es gut. Allerdings stieg seine Körpertemperatur nicht an, wie es bei dem Aufwachprozess üblich war. Der Computer sollte eigentlich schrittweise den Stoffwechsel, den Herzschlag und die Atmung zurück auf Normalwerte bringen.
»Sven, du bist zu kalt, mein Freund.« Denis legte die Hand auf den verglasten Kasten. Es war nicht möglich, ins Innere zu sehen. Dafür sollte auf der Oberfläche ein Display zu erkennen sein, das die Abläufe beim Aufwachen anzeigte. Dem war nicht so. Ihn beschlich ein ganz mieses Gefühl. Über das holographische Overlay seines Head-up-Displays versuchte er, den Verschluss manuell zu entriegeln. Nichts passierte, das System ignorierte ihn einfach.
»Dreckskiste!« Denis rief einen Kommando-Interpreter auf und gab den Befehl als Textzeile ein. Damit steckte er mit seinen Fingern tief im Betriebssystem. Er umging die graphische Benutzerführung. Nach einem lauten Klack-Geräusch zischte es. Er drehte sich weg, es stank bestialisch. Es gab nur eine Sache, die so roch.
»Scheiße!« Denis öffnete den Deckel und sah, was er bereits wusste. In dem Kältebett schwamm eine Leiche in der Transportflüssigkeit. Diese braune Pampe stank widerlich. Das Gesicht war teilweise skelettiert. Man musste kein Arzt sein, um den Tod dieser Person festzustellen. Ob es Sven Benush war, konnte er beim besten Willen nicht erkennen.
»Was soll das?« Denis konnte im Overlay immer noch seine aktiven Vitaldaten erkennen. Angeblich ging es ihm bestens. Ein offensichtlicher Fehler. »Nein …« Seine Gedanken rotierten. Was war mit den anderen, die sich hier noch in Kältebetten befanden? Lebten sie auch nicht mehr?
»Jagberg für Espinoza. Vertrauliche Verbindung aufbauen. Sofort!« So ein Mist! Denis begann, mit dem Fuß zu tippeln. R2 , der neben ihm schwebte, gab einen tiefen Brummton ab. Sogar die Drohne verstand, was hier passiert war.
»Das ist jetzt schlecht!« Bei Espinoza waren mehrere Offiziere im Hintergrund zu hören, die hektische Kommandos riefen. Die hatten auf der Brücke eine echte Krise.
»Ich habe hier ein Problem!« Es war nicht einfach, diesen Fund in einem Satz zu verpacken. So wie: Hab ’ne Leiche gefunden. Hey, kein Thema, auch wenn sie gemäß Computer noch putzmunter sein sollte.
»Das haben wir hier auch! Jagberg, ich bin kein Arzt, geh Harper damit auf den Sack!«
»Ähm …«
»Jenkins! Wir müssen sofort unsere Rotation beenden! Jetzt!« Das galt nicht Denis. Dann beendete Espinoza die Verbindung. Okay, der wollte nicht mit ihm sprechen. Auf der Brücke brannte der Busch. Jazmin war für dieses Problem ohnehin die bessere Ansprechpartnerin.
»Verbindung mit Jazmin aufbauen.« Er ging einige Schritte zurück. Der Gestank war nicht auszuhalten.
»Ich vermiss dich …«
»Ähm … hi … ich dich auch. Hör zu.« Die Kurve musste er erst mal kriegen. Nachdem er bei den letzten drei Gesprächen Süßholz mit ihr geraspelt hatte, ging es nun um Leben und Tod.
»Was ist passiert?« Zum Glück war sie klug genug, um direkt umzuschalten.
»Ich bin bei den Kältebetten.«
»Ich weiß.«
»Ich konnte das System mit einer Befehlszeile im Kommandointerpreter austricksen … und habe eine Leiche gefunden.« Denis hätte besser den einfachen Job übernommen und Tarek hergeschickt. Dann würden die Triebwerke mittlerweile laufen, und Tarek hätte gekotzt. Eine Sekunde später übergab er sich.
»Hey! Hey! Atmen nicht vergessen!«
»Mir geht es gut.« Jedenfalls besser als Benush, der schon ein paar Tage länger in der Suppe vor sich hin moderte. Das war nicht zu erklären. »Es ist nur der Geruch.«
»Ich komme sofort zu dir.«
Fünfzehn Minuten später bremste Jazmin den Scooter ab. Am Heck hatte sie zwei große Taschen medizinisches Equipment dabei. Denis hatte vor dem Bunker auf sie gewartet. Der Gestank der Leiche war unerträglich. Er stand auf.
»Hi … wie geht es dir?« Sie legte die Hand an seine Wange. Es war schön, sie zu spüren.
»Damit habe ich nicht gerechnet …«
»Der Tod fragt uns nicht um Erlaubnis.« Jazmin steckte sich selbst und ihm eine Filtereinheit in die Nase, die den bestialischen Geruch wegfilterte. »Damit geht es besser.«
»Danke.« Er half ihr, die beiden schweren Taschen abzuladen. Eine bekam R2 , die andere D2 aufgeladen, die Drohnen quittierten die Last mit einem vielsagenden Doppelton.
Jazmin ging zielstrebig auf die Leiche zu. Auch sie trug ein Head-up-Display auf der Nase. »Kannst du mir deine Umgebung spiegeln?«
Er nickte und gab seine Arbeitsumgebung mit dem gehackten Zugriff auf die Kältebettensteuerung für sie frei. Damit sah sie auch alle anderen Personalkacheln der Besatzung. Hoffentlich waren sie nicht alle tot.
»Sven Benush, kanntest du ihn?« Jazmin steckte der Leiche eine lange Nadel in den Kopf.
Er nickte.
»Er ist bereits seit vielen Jahren tot. Den genauen Todeszeitpunkt kann ich hier nicht feststellen.« Jazmin zeigte in Gegenwart der Leiche keinerlei Gefühlsregung.
»Wie soll das gehen?« Sie waren doch erst sieben Jahre unterwegs. Sieben Jahre. Mittlerweile hatte er den dringenden Verdacht, dass mit dieser Vorannahme etwas nicht stimmte. Er verdrängte das ganz miese Gefühl, das ihn beschlich.
»Gute Frage, oder?« Jazmin navigierte geschickt durch die Menüs der Steuerung. »Sämtliche Routinen klemmen, oder?«
»Ja.«
»Sie wurden gesperrt.« Sie sah ihn an. »Wir sollten die Toten nicht so schnell finden.«
»Die Toten?« Denis wünschte sich inständig, dass Sven Benush nur ein unglücklicher Zufall war.
»Ich denke, es gibt noch mehr.« Sie ließ die beiden Drohnen ein weiteres Kältebett aus dem Regal ziehen. Diesmal öffnete sich der Deckel sofort. Das Bild, das sich ihnen bot, war dasselbe. In dem Kältebett lag eine Frau, die ähnlich verwest aussah wie Benush. Nein, das war kein Zufall. »Wir müssen alle Betten öffnen, aber das schaffen wir nicht allein.«
»Doc, ich habe da einen wirklich ganz miesen Verdacht. Ich glaube, wir sind länger als sieben Jahre unterwegs. Ich kenne die genaue Flugdauer nicht, aber ich habe Hinweise gefunden, dass es einige Jahre mehr sein müssen.«
»Was für Hinweise?«
»Spuren an Carls Scooter zeigten, dass einzelne Bauteile bereits älter als hundert Jahre sind.« Dabei hätte der Dichtungsring des Stoßdämpfers noch erheblich älter sein können. »Es gibt auch Reparaturen, die nicht im Logbuch stehen, aber definitiv durchgeführt wurden.«
»Das sind keine guten Neuigkeiten.«
»Nein, leider nicht. Einer meiner Leute, Tarek Abbas, hat einen alten Colt M1911 gefunden, der vergammelt in einer Ecke nahe Carls Unfallstelle lag.«
»Bitte?«
»Er liegt jetzt auf deinem Schreibtisch.«
»Das Ding habe ich ganz vergessen …«, erklärte Jazmin betroffen.
»Der läuft uns nicht weg. Komisch ist nur, dass dieselbe Waffe bei Mellenbeck im Büro an der Wand hängt.«
»Das ist ein Einzelstück.«
»Dachte ich bisher auch.«
»Denis, ich habe in den Blutproben Hinweise auf Krankheiten gefunden, die Menschen normalerweise erst im Alter bekommen. Dein Sohn hatte krankhafte Veränderungen im Gehirn … deswegen veränderte er sich.«
»Wie kann das sein?«
»Nicht nur das Schiff ist älter, als wir denken … wir sind es auch.« Sie legte die Hand auf Svens Kältebett. »Diese Leichen zeigen uns, dass unsere Zeit begrenzt ist.«
»Aber wir leben noch!«
»Die Frage ist, wie lange … bei einigen ist die Gefahr eines Schlaganfalls akut. Leider auch bei dir. Ich habe dir ein Medikament mitgebracht, das helfen sollte.« Sie küsste ihn und setzte ihm dabei einen Injektor an den Hals. Von dem Stich spürte er kaum etwas.
»Noch bin ich da.« Denis spürte, dass seine Zeit begrenzt war, dass er sein Limit schneller erreichen könnte, als ihm lieb war.
»Wir müssen dem Major erzählen, was wir wissen.« Sie schloss die Tasche mit ihrer Ausrüstung. »Für die zwei kann ich ohnehin nichts mehr tun.«
»Ich habe es gerade probiert … Espinoza hat Ärger auf der Brücke. Die versuchen, mehrere Steuerbordtriebwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Dabei gibt es Schwierigkeiten.«
Jazmin legte sich zwei Finger an den Hals. »Harper für Espinoza. Verbindung aufbauen und mit Denis Jagberg spiegeln.« Sie ließ ihn mithören.
»Hey … geht es auch später?«
»Nein. Das ist ein Prio-eins-Problem!«
»Colonel Harper, wenn wir diese verfickten Navigationstriebwerke nicht zum Laufen bekommen, haben wir ein echtes Prio-eins-Problem! Abbas, das ist ein Befehl! Sie werden jetzt umgehend die Triebwerke manuell anfahren.« Espinoza klang außer sich vor Wut. Seine Stimme überschlug sich. Souveräne Menschenführung ging anders.
»Abbas! Wenn mich Ihre Meinung interessiert, lasse ich es Sie es wissen! Ich will keine Ausreden hören! Sie bekommen nicht mehr Zeit! Starten Sie die Triebwerke! Jetzt! Das ist ein Befehl! Ich stecke Sie sonst in die Arrestzelle!«
Denis wollte gerade etwas sagen, als eine Erschütterung Jazmin und ihn von den Beinen riss. Diese Explosion war nah, sehr nah, viel zu nah. Das war keine Druckwelle, die von außen gegen die Deflektoren drückte, die kam aus dem Inneren.
»Abbas! Machen Sie sofort eine Meldung!«
Denis schloss die Augen, er konnte sich denken, was geschehen war. Verdammt, das hätte nicht passieren dürfen. Er hätte sich selbst um die Triebwerke kümmern müssen.
» ABBAS ! ICH WILL EINE MELDUNG HÖREN Espinoza würde auf diesen Befehl keine Antwort bekommen. Tarek hatte vermutlich die Triebwerke wider besseres Wissen gestartet. Und sie waren explodiert. Raul Espinoza hatte beim Wendemanöver inmitten der Meteoriten alles richtig gemacht, aber jetzt entglitt ihm das Schiff.