XVIII.
Sie weiß es nicht
Finch fühlte sich wie ein Popstar. Der er nicht war und auch nicht sein wollte. Er erachtete sich eher als Connaisseur menschlicher Schwächen, die er am liebsten aus der Stille heraus mit einem Glas Rotwein genoss. Mit etwas weniger Talent oder Selbstsicherheit wäre aus ihm nur ein Spanner geworden. Bei der Polizei konnte er damit seinen Lebensunterhalt verdienen.
Die Reise zu seinem Vater führte ihn zurück ins Rampenlicht. Ein unangenehmes Gefühl, das er noch nie gemocht hatte. Vom grellen Licht geblendet, konnte man nur schwer erkennen, wer vor einem stand. Er schritt die wenigen Stufen auf den Rasen vor Glamis Castle herunter und winkte. Was für eine alberne Show. Die auslaufenden Triebwerke des Tempelton-Gleiters brummten noch. Martin hatte es sich so gewünscht, sein Producer, der neben dem Kameramann stand.
»Willkommen zurück, Sir«, tönte es wie auf Ansage aus vielen Mündern vom Eingang des Schlosses zu ihm herüber. Das gesamte Personal stand vor dem Hauseingang, deren Kleidung wie aus einem anderen Jahrhundert wirkte. Was auch daran lag, dass die Butler wirklich historisch anmutende Anzüge mit Westen, Bindern und klassischen weißen Hemden trugen. Die Dienstmädchen zeigten sich in hellen Kleidern, Schürzen und am Kragen mit blauen Einstecktüchern. Aus dem Bild hätte man einen Bildschirmschoner machen können.
Finch lächelte und ging auf den Eingang zu. Martin tanzte wie ein Kind um ihn herum und gab dem Kameramann seine Befehle. Dieser steuerte über ein holographisches Head-up-Display auf seiner Nase zahlreiche tennisballgroße Videodrohnen, die wie kleine Vögel an Finchs Kopf vorbeirauschten. Den Producer, den Kameraoperator und die anderen aus ihrem Team würde man später digital aus dem Stream herausfischen. Nichts von dem, was Menschen später im halben Sonnensystem verteilt von diesem Affenzirkus sehen würden, war echt.
»Atticus, es ist mir eine unbeschreibliche Freude, dich auf Glamis Castle begrüßen zu dürfen. Im Namen deines Vaters, des Personals und natürlich von meiner Seite heiße ich dich herzlich willkommen. Fühl dich wie zu Hause. Ach, was sage ich … dies ist dein Zuhause.« Lady Henriette Leicester persönlich richtete die ersten Worte an ihn. Sie war die Freundlichkeit in Person. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid, kaum Schmuck und wirkte wie eine Adlige aus einem alten Kinostreifen.
»Dafür danke ich dir von Herzen. Ich bin nicht alleine gekommen.« Finch hatte die ganze Welt mitgebracht. Die heutigen Aufnahmen würden zu Beginn des Live-Interviews eingespielt werden. Seine Worte standen im Skript, er hätte nie so einen Blödsinn von sich gegeben.
»Das ist doch wunderbar.« Eine Drohne schwebte nur einen Meter vor ihrem Kopf. »Ich heiße jeden willkommen, der diesen besonderen Moment mit uns teilen möchte. Der Start der USS London ist für uns alle der Start in eine neue Ära.«
Finch sah zu Alex, die sich einen dicken Schal um den Hals gelegt hatte. Sie strahlte und zeigte mit beiden Daumen nach oben. Sonderlich sommerlich war das Wetter nicht mehr, zum Glück regnete es heute nicht.
»Bitte … komm herein.« Ihre Familienanwältin wies auf die Tür, die in diesem Moment von einem Butler geöffnet wurde. Eine der Drohnen flog als Erstes in das inzwischen 1348 Jahre alte Gebäude. Sein Vater hatte vor Jahren jeden Stein, jeden Balken und jede Fuge mit Epoxidharz versiegeln lassen. Glamis Castle würde auch in den nächsten tausend Jahren sein mittelalterliches Antlitz nicht verändern. Dieses Haus war ein Symbol für die Ewigkeit.
»Cut! Sehr gut! Die Szene ist im Kasten!«, rief Martin. Das war erfreulich, Finch hätte wenig Lust gehabt, die Begrüßungsszene zu wiederholen. Das hier war kein Filmset, das war ein Teil seines Lebens. »Wir machen in einer Stunde weiter!«
»Hast du dir es so vorgestellt?«, fragte Henriette, die sich bei ihm einhakte und mit ihm ins Haus ging.
»Nein …« Finch hatte ehrlicherweise nicht erwartet, diesen Tag überhaupt zu erleben. Weder allein noch mit den Vandalen im Schlepptau, die er mitgebracht hatte. »Wo ist mein Vater?«
»Er liebt es nicht, im Rampenlicht zu stehen … das weißt du doch.« Sie stupste ihn an.
»Das tue ich auch nicht, aber genau das wird passieren. Das ist der Deal.«
»Ist das so?«
»Bitte … » Er verstand die Frage nicht.
»Atticus, du bist doch nicht hier … wegen des Starts eines Raumschiffs.«
Finch zögerte. »Nein.«
»Geld hat dich auch nie interessiert.«
Finch zuckte mit den Schultern. Worauf lief das Gespräch hinaus? Ihm schwante nichts Gutes.
»Oh, bist du etwa hier, weil dir Chief Inspector Campbell damit gedroht hat, dich wegen deines nicht abgestimmten Ausflugs nach Marrakesch an die Anwälte des Kensington-Mörders zu verfüttern?«, fragte sie mit dem beiläufigen Charme einer englischen Lady. So hätte sie ihn auch fragen können, ob der Tee nach seinem Geschmack war.
»Nun, wenn du es weißt, warum fragst du dann?« Er lächelte und bat sie mit einer Geste voranzugehen. Sie betraten gemeinsam einen mit wunderschönen antiken Möbeln eingerichteten Besprechungsraum. Das war das besondere Flair von Glamis Castle, ein Ort wie eine Insel in einer anderen Zeit.
Sie zeigte auf einen der dunklen Stühle. »Bitte nimm Platz.«
Finch folgte ihrer Einladung.
»Tee?«
Er nickte.
Ohne dass sie etwas sagte oder ein Zeichen gab, öffnete sich die Tür, und ein Dienstmädchen brachte ein Tablett mit zwei dampfenden Tassen Tee in den Raum. Sie servierte ihn, verbeugte sich und verschwand wieder.
»Ist das Wetter nicht wunderbar heute?«, fragte sie und hob die Tasse.
»Henriette …« Finch holte tief Luft. »Ich würde gerne mit meinem Vater sprechen.«
»Natürlich.«
»Wann ist es möglich?«
»Ich habe bereits alles vorbereiten lassen.«
»Was bitte hast du vorbereiten lassen?«
»Atticus, dein Vater ist nicht mehr der Jüngste …«
»Er ist 117 .« Eigentlich kein Alter im Jahr 2720 . Zumindest wenn man über die passenden liquiden Mittel verfügte, und die hatte er. Warum er einen Rollstuhl benutzte, wusste Finch nicht.
»Ja.«
»Ihr habt dem Interview zugestimmt. Deshalb sind wir alle hier. Ich würde gerne vorher mit ihm darüber sprechen.« Er beschloss, seine nicht angebrachte Höflichkeit abzustreifen und zum Angriff überzugehen.
»Das ist richtig.«
»Und?«
»Natürlich wird das Interview stattfinden.« Sie setzte die Tasse Tee in aller Ruhe wieder ab. »Aber bitte verstehe, deinem Vater ist es sehr wichtig, so gesehen zu werden, wie er wirklich ist.«
»Keine Sorge … das liegt mir ebenfalls am Herzen.« Jeder sollte hinter seine Maske sehen dürfen.
»Dein Vater denkt, und ich bin ebenfalls dieser Meinung, dass ein Auftritt im Rollstuhl und die Kommunikation über einen Sprachcomputer nicht die richtigen Akzente setzen könnten.«
»Ach ja?« Als ob es seinen Vater je gekümmert hätte, wie andere ihn sahen. Ihn hatte noch nicht einmal die Meinung seines Sohnes interessiert. Finch erachtete die Aussicht, ihn der Welt als halbtotes Wrack vorzuführen, das nur noch von einem Klumpen Technik am Leben gehalten wurde, als durchaus reizvoll.
»Ja.« Henriette ignorierte den Spott in seiner Frage. »Deshalb habe ich deinem Vater vorgeschlagen, dir als der Mann gegenüberzutreten, der er immer war. Und alles zu zeigen, wofür er einstand. Ein großer Geist, der nicht an die Fesseln seines Körpers gebunden ist.«
»Bitte?« Finch schüttelte den Kopf. Was meinte sie damit?
Die Tür öffnete sich. Ein Butler hatte die Klinke benutzt, aber ein Hologramm betrat den Raum. Das war Duncan Harper. Älter, als Finch ihn in Erinnerung hatte, aber es war unzweideutig sein Vater. Etwas kleiner als früher. Grauhaarig, ohne Bart und mit einer Brille. Ein modisches Statement, niemand musste in ihrer Zeit eine Brille tragen. Ein älterer Herr, wie es in London viele gab. Gutgekleidet, ohne aufzufallen.
»Hallo, Atticus.« Duncan verzichtete darauf, ihm die Hand zu geben. Das wäre auch sinnlos gewesen. Er setzte sich und der Projektor verdichtete seine bislang teiltransparente Darstellung. Jetzt war er kaum mehr von einem lebenden Menschen zu unterscheiden. »Willkommen zurück auf Glamis Castle.«
»Ich denke, dass ihr beide mich nicht mehr benötigt.« Henriette stand auf und verließ den Raum. Finch wusste nicht, was er sagen sollte. Das musste ein Scherz sein, er redete mit einem Stück Software.
»Ich bin da.«
»Das freut mich.« Dieses Ding sah aus wie sein Vater, hörte sich so an, aber war er es auch? »Ich sehe Bedenken in deinen Augen.«
»Ich hätte es begrüßt, dich persönlich zu sehen.« Von Angesicht zu Angesicht, analog und ohne solche technischen Spielereien.
»Ich auch.«
»Ähm …« Finch schluckte.
»Mein Körper ist leider nicht mehr in der Lage, meinem Willen zu folgen. Mir ist es wichtig, möglichst natürlich mit dir zu reden. Aber keine Angst … ich werde mich zeigen. Du und von mir aus auch die ganze Welt sollt mich sehen.«
»Gut.« Finch hatte keine Ahnung, was daran gut sein sollte, aber ihm fiel keine bessere Antwort ein. Das Hologramm war im Prinzip nur eine digitale Prothese. Trotzdem fand Finch den Gedanken gewöhnungsbedürftig, dass sein Vater zu einem Geist wurde, der mittels Technologie mit anderen interagierte. Aber bei Duncan Harper galten eben andere Maßstäbe.
»Es hat mich gefreut, dich bei der Verabschiedung von Jazmin zu sehen. Ich war positiv überrascht.«
»Ich war nicht freiwillig dort.«
»Ich weiß.« Duncan lächelte. »Was meine Freude darüber, dich mit eigenen Augen wiederzusehen, nicht getrübt hat.«
»Warum hast du diesem Interview zugestimmt?« Finch wollte endlich verstehen, was sein Vater hier tat. Dass alles aus Reue geschah, kaufte er ihm nicht ab.
»Es ist die richtige Zeit …«
»Das ist keine Antwort.«
»Die Welt ist sehr einfach, wenn man allen Ballast über Bord wirft.«
»Ballast hinter dir lassen, das konntest du schon immer gut.« Kinder, Freunde und sogar das Leben. Duncan Harper hatte es geschafft, über Jahre alles hinter sich zu lassen, was er nicht brauchte.
»Du hast dich nicht geändert.«
»Nein.«
»Deine Augen funkeln vor Zorn wie früher.«
»Ich bin älter geworden und habe ebenfalls gelernt, Unwichtiges hinter mir zu lassen.« Wie den Ballast, der Sohn eines sehr erfolgreichen und milliardenschweren Monsters zu sein. Alles, was damit zusammenhing, hatte er bereits im Sumpf seiner Erinnerungen versenkt. Dort war es gut aufgehoben.
»Doch … ich muss mich korrigieren, du bist reifer geworden. Das ist gut.«
»Warum hast du diesem Interview zugestimmt?« Finch würde diese Frage zur Not den ganzen Tag lang wiederholen. Er störte sich auch nicht daran, dass sein Vater seine Hände in aller Seelenruhe auf den Tisch legte. Ein alter Siegelring war das einzige Schmuckstück, das er trug.
»Du achtest auf Details …« Ihm entging nichts.
»Ja.«
»Es ist wichtig, auf die Kleinigkeiten zu achten. Glaub mir, es kommt immer nur auf die kleinen Dinge im Leben an.« Er weigerte sich erneut, die Frage zu beantworten. Eine Reaktion, die Finch verdeutlichte, dass seine Motivation nichts mit ihrer kaputten Beziehung zu tun hatte. Sein Vater wollte ihn vermutlich nur als Sprachrohr benutzen, um etwas für ihn Relevantes in die Welt herauszuposaunen.
»Warum weichst du mir aus?«
»Das tue ich nicht …«
Finch verzog den Mund. »Auf meiner Seite des Tisches hört es sich aber genau so an.«
»Ich weiß.«
»Was weißt du?«
»Henriette hat es mir erzählt. Ich war zuerst unsicher, aber sie ist eine kluge Frau. Ich höre auf ihren Rat. Sie hat recht gehabt … mit jedem Wort, das sie mir über dich berichtet hat.«
»Ach ja?« Das ließ seine Frage nicht weniger dringlich erscheinen. Warum zur Hölle hatte ihn sein Vater nach Glamis Castle geholt?
»Das ist eine Frage der Perspektive. Ich würde dir gerne meine zeigen. Wenn ich darf? Nein … entschuldige … ich möchte sie dir und der ganzen Welt präsentieren. Wenn du mich lässt … du bist mein Sohn. Glaub mir, es geht nicht ohne dich.«
Finch schluckte seine Wut herunter. Sie schmeckte bitter. Sein Vater widerte ihn an und faszinierte ihn zugleich. Er war ein charismatischer Mann, dem man sich, sogar wenn man ihn hasste, nur schwerlich entziehen konnte.
»Ich werte dein Schweigen als Zustimmung. Auch wenn am Ende des Tages die Dinge einfach sind, möchte ich dir einen Einblick in mein Schaffen gewähren, den die Öffentlichkeit nicht kennt.«
»Um mich zu beindrucken?«, fragte Finch.
»Nein … um dich vorzubereiten.«
»Vorzubereiten? Worauf?«
»Auf den Tag nach dem Interview. Komm mit.« Ein Butler öffnete die Tür. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Sein Vater ging vor, Finch folgte ihm. Eine Szene, die sich vor Jahren oft so zugetragen hatte. Wie nah es ihm ging, auch noch nach so langer Zeit. Glamis Castle war ein imposantes Gebäude mit großen Hallen und langen Korridoren. Es gab alte Rüstungen, alte Bilder und weitere Antiquitäten, die einer ganzen Division von Zimmermädchen einen sicheren Job boten. Keine schlechte Arbeit, sein Vater hatte das Personal immer besser behandelt als ihn.
»Bitte hier entlang …« Duncan ging eine Treppe hinab. Vor einer alten Tür stand ein Butler.
»Sir.«
»Atticus, er redet mit dir …«, sagte sein Vater und wartete. Der Butler schien das Hologramm wie auch seine Stimme nicht wahrzunehmen.
»Ja?«
»Sir, bitte identifizieren Sie sich.« Der Butler bat ihn, seine Hand auf einen Scanner zu legen, der sich unter einer Holzklappe verbarg. Das System tastete seine Hand, ein weiteres sein Gesicht ab. »Sir, bitte sagen Sie Ihren vollen Namen.«
»Atticus Finch Harper.«
»Danke, Sir.« Der Butler öffnete eine schwere Holztür, hinter der sich eine weitere automatische Tür befand. Auch diese öffnete sich und glitt lautlos zur Seite.
»Bitte erlaube mir voranzugehen.«
Finch folgte dem Hausgeist auf der privaten Führung. Hinter ihm schlossen sich beide Türen wieder. In diesem Tiefgeschoss verbarg sich ein modernes Labor. Er konnte verwaiste Bildschirmarbeitsplätze und 3 -D-Drucker sehen, die das Volumen eines Gleiters hatten. Mit diesen Dingern konnte man so gut wie alles herstellen. Es gab weitere Geräte, die er nicht erkannte.
»Wie hast du es hinbekommen, dass ich dich überall sehe?«, fragte Finch.
»Oh, entschuldige … damit ein Hologramm laufen lernt, müsste man das gesamte Herrenhaus mit Projektoren versorgen. Aber das wäre keine elegante Lösung. Du siehst mich, weil eine fingernagelgroße Drohne direkt deine Augen anstrahlt. Deswegen können mich andere nicht sehen.«
»Ich verstehe …«
»Hier habe ich oft gearbeitet.« Das Labor war sauber, es waren aber keinerlei Geräte aktiv. »Früher zumindest. Jetzt brauche ich das Labor nicht mehr.«
»Das würde sich im Stream gut machen …« Finch wollte seinen Vater aus der Reserve locken. In der Öffentlichkeit war nicht bekannt, dass sich hier eine Forschungseinrichtung verbarg.
»Deine Entscheidung. Atticus, du darfst der Welt alles zeigen. Alles, was du auf Glamis Castle findest. Ich halte nichts zurück. Für dich stehen alle Türen offen. Das Personal ist angewiesen, deinen Wünschen bedingungslos Folge zu leisten. Das gilt auch für sämtliche Computersysteme, du hast Zugriff auf alle Informationen.«
»Was möchtest du mir hier zeigen?«
Duncan lächelte. Das Hologramm schritt durch das Labor. Eine weitere Tür öffnete sich und gab den Weg frei in ein tiefer liegendes Kellergeschoss. Die Wände bestanden hier wieder aus der alten Bausubstanz des Herrenhauses. Gemauerte Natursteine, die hielten ewig. »Das war früher ein Weinkeller. Vielleicht auch ein Verlies. Wir haben bei der Renovierung Reste im Boden eingesickerter menschlicher DNA gefunden.«
»Wie beruhigend.«
»Angst?«
»Respekt …« Das war das bessere Wort.
»Der ist angebracht.« Duncan ging weiter. Das Licht erhellte nicht den ganzen Raum. Ein alter Gewölbekeller. In der Ecke stand ein altes braunes Ledersofa. Das gute Stück war nicht mehr im besten Zustand. Darauf saß eine Puppe. Daneben befanden sich ein einfacher Schreibtisch und ein inaktives Bildschirmsystem. »Hier habe ich gearbeitet. Die Ruhe habe ich genossen.«
»Was ist mit der Puppe?« Finch wunderte sich darüber. So etwas passte nicht zu seinem Vater. Ein dunkelhäutiges Mädchen mit einer wilden Lockenpracht. Sie trug ein weißes Kleid und rote Schuhe.
»Das ist keine Puppe.« Sein Vater lächelte. »Jazmin, möchtest du deinen Bruder begrüßen?«
Die Puppe erwachte zum Leben und rannte freudestrahlend auf Finch zu. Er war dreizehn Jahre älter als seine Halbschwester. Als er Glamis Castle vor fünfundzwanzig Jahren verließ, war sie erst sieben gewesen.
»Hallo, Atticus! Toll, dass du wieder da bist!« Sie sprang ihm an den Hals. Finch wusste nicht, was er sagen sollte. Er erinnerte sich, genau so hatte Jazmin damals ausgesehen.
»Bitte … hör auf damit.« Finch setzte den Androiden ab und sah seinen Vater an. Sie fühlte sich absolut lebensecht an.
»Motorik einstellen«, sagte Duncan und setzte sich auf das alte Sofa. Jazmin blieb mit freudestrahlendem Gesicht mitten in der Bewegung stehen.
»Vater, was hast du getan?«
»Ich habe Mutter entwickelt. Die KI , die auf den Raumschiffen alle Systeme steuert.«
»Und Jazmin?« Er hielt sich die Hand vor den Mund. »Verdammt, sie ist deine Tochter!«
»Ja, Jazmin ist meine Tochter. Aber sie ist kein Mensch. Um sie Empathie erleben zu lassen, habe ich sie wie mein eigenes Kind aufgezogen.«
»Und wer ist mit der USS London aufgebrochen, um eine neue Welt zu entdecken?«
»Jazmin ist ein organischer Androide. Die Erste ihrer Art. Sie altert wie ein Mensch. Ich habe ihre DNA optimiert. Sie wird niemals krank werden und ist sehr widerstandsfähig.«
»Und wer ist Mutter, die Bord-KI des Raumschiffs, die du offiziell für die Mission gebaut hast?« Finch verstand nicht, wo der Zusammenhang zwischen beiden war.
»Die KI habe ich im Auftrag der Projektleitung gebaut. Bei dem Code wurde jedes Bit gescannt. Ihr konnte ich meine Agenda nicht mitgeben. Jazmin hingegen wurde als Mensch geprüft und hat alle Sicherheitstests erfolgreich passiert.«
»Willst du damit sagen, dass du die USS London infiltriert hast?«, fragte Finch atemlos. »Mit deiner eigenen Tochter?«
»Ja.«
Finch musste sofort an die Worte von Colonel Keller denken, der einen Angriff befürchtete, aber keine Hinweise gefunden hatte. Klar, wer rechnete auch damit, dass ein Mensch in Wirklichkeit ein digitales Waffensystem war. »Und was ist mit Jazmin?«
»Sie weiß es nicht.«
Finch hustete. Dabei hatte er immer gedacht, er hätte eine schlimme Kindheit erlebt. Jazmin hingegen lebte eine dauerhafte Lüge. Sie glaubte, ein Mensch zu sein.
»Warum?«
»Diese Frage darfst du mir live stellen. Es wäre doch öde, die ganze Welt mit deiner Jugend zu langweilen. Hier geht es nicht um mein Talent als Vater. Das ist größer. Größer als unser beider Leben. Ich habe Jazmin geschaffen, weil ein Mensch nicht in der Lage ist, die Aufgabe zu schultern, die ihr bevorsteht.«
»Ich …« Finch rang nach Luft.
»Es ist deine Entscheidung. Du kannst sofort zu Colonel Keller rennen und ihm alles erzählen. Er befindet sich gerade in einem der Gästezimmer und spricht mit seinem Vorgesetzten. Du darfst es auch live tun … Du darfst mir jede Frage stellen, und ich werde sie alle beantworten. Jede einzelne von ihnen. Wie gesagt, du bist mein Sohn, es ist ganz allein deine Entscheidung.«