XXI.
Stirb
Jazmin hielt die alte Waffe in der Hand. Sie war schwer, unhandlich und würde vermutlich beim ersten Schuss explodieren und ihr die Finger abreißen. Dieser Plan hatte etwas Verzweifeltes. Die Wahrscheinlichkeit, ihn zu überleben, schätzte sie als bescheiden ein. In Ordnung, eigentlich hätte sie bereits den Weg zurück von den Kältebetten nicht schaffen dürfen. Das war blanker Irrsinn gewesen, aber überlebt hatten sie es dennoch. Ihr Weg war noch nicht zu Ende. Sie betrat die Brücke. Auf der Hälfte aller Bildschirme blinkten Warnmeldungen. Die USS
London
befand sich in ernsten Schwierigkeiten. Für diese Geschwindigkeit war das Schiff nicht gebaut worden. Sie konnte jedes verdammte Wort zwischen Denis und Raul Espinoza hören. Dieser Verrückte könnte ihn jederzeit erschießen.
O nein, als Erstes fand sie Christoph Aayana und Elvira Jenkins. Ihr Tod war so unnötig. Beide waren mit jeweils einem Kopfschuss hingerichtet worden. Für sie konnte niemand mehr etwas tun. Jazmin kroch über den Boden und verdrängte, was sie sah. Sie packte Aayana an der Hüfte und zog seine Leiche auf sich zu. Im Kampf auf Leben und Tod gab es keine Pietät. Sie legte sich seinen Oberschenkel auf den Kopf und streckte den Arm durch seine Beine hindurch. Sein Schritt gab ihr Halt beim Zielen, und sein
Körper würde hoffentlich die ersten Schüsse auf sie abfan gen.
»Ich bin auf der Brücke. Jenkins und Aayana sind tot. Der Major steht in der Tür. Simmerkirk liegt mit einer Waffe im Anschlag auf dem Boden. Drei weitere Offiziere sind bewaffnet und stehen hinter der Tür. Ich habe freies Schussfeld, bin mir aber nicht sicher, wie oft die mich schießen lassen. Denis, die zielen auf dich. Soll ich Simmerkirk oder Espinoza ausschalten?«, flüsterte sie.
»Hey, Rufus, hast du eigentlich immer noch Probleme mit deinem Oberschenkel?«, fragte Denis.
Sie verstand die Anspielung und hatte ein Ziel.
»Was redest du für einen Scheiß!«, protestierte Rufus, der natürlich nicht verstand, um was es ging.
Es waren nur sechs Meter. Sie schoss. Rufus’ rechtes Bein platzte auf. Der Colt machte auf kurze Distanz große Löcher. Die Wahl, auf sein Bein zu schießen, war klug. Tot wäre er nur liegen geblieben. Angeschossen fuhr er zusammen und schlug dem Major mit dem Lauf des Gewehrs die Beine unter dem Hintern weg. Ein Schuss, zwei Treffer. Espinoza dürfte bei dem ungelenken Schuss im Rückwärtsfallen nichts getroffen haben. Denis konnte sich zurückziehen.
Einer der technischen Offiziere nutzte die Gelegenheit und schoss mit seinem Gewehr durch die geöffnete Tür, bekam aber umgehend die Quittung dafür. Sein Kopf ging in Flammen auf. Das war ein Molotow-Cocktail. Eine archaische Waffe, aber wirksam.
Geschrei. Die Situation war verworren. Die zwei verbliebenen Schützen achteten nicht auf Jazmin. Sie legte erneut an. Nur sechs Patronen standen ihr zur Verfügung. Jeder Schuss musste sitzen. Jetzt wurde sie entdeckt. Sie schoss der Frau zweimal in die Brust. Genau ins Herz. Im Fallen feuerte
sie zurück, traf aber nicht sie, sondern den Offizier neben ihr, der ebenfalls gerade auf Jazmin zielte. Drei Schuss, vier Treffer. Sie war effektiv. Um den brennenden Offizier brauchte sie sich nicht zu kümmern, der lief schreiend gegen die Wand und ging zu Boden. Jetzt würde sie es beenden.
»Espinoza!« Jazmin verließ mit der Waffe im beidhändigen Anschlag ihre Deckung. Wo war er? Mit ihm konnte man nicht reden. Der Blick zur Tür zeigte, dass er die Brücke verlassen hatte. Im Korridor fielen Schüsse aus einer automatischen Waffe. Nein, genau das hätte nicht passieren dürfen. Das waren drei Salven zu je drei Schuss. Bitte, hoffentlich nicht Denis! Er musste überleben!
»ESPINOZA
!« Sie ging ihm nach. Rufus lag am Boden und hielt sich sein Bein. Der Treffer hatte den Oberschenkel durchschlagen. Hellrotes Blut quoll pulsierend aus der Wunde hervor. Er würde in weniger als einer Minute verbluten.
»Jazmin, bitte hilf mir …«
»Fick dich, Rufus.«
»Er hat mich gezwungen!«
»Wir haben immer eine Wahl …« Ohnehin käme jede Hilfe zu spät. Die Wunde befand sich zu hoch an seiner Hüfte. Aber wenn sie ehrlich war, wollte sie ihm auch nicht helfen.
»Bitte …« Er wurde bereits leiser.
Sie schüttelte den Kopf und folgte Espinoza. An der nächsten Ecke bot sich ihr ein schreckliches Bild. Da lagen mehrere leblose Körper. Tarek Abbas’ tote Augen blickten leer an die Decke. Alle hatten Schusswunden. Auch Denis lag dabei. Er hatte einen Einschuss am Rücken unterhalb seiner rechten Schulter.
»Nein!« Sie drehte ihn herum und fühlte seinen Puls. Er hatte noch einen, blutete aber stark. Sie hielt den Colt mit den Zähnen, packte ihn unter den Armen und zog ihn
weiter. Denis hatte das Bewusstsein verloren. Von Espinoza war weit und breit nichts zu sehen. Sie bot im Moment ein einfaches Ziel. Das spielte keine Rolle. Sie musste verhindern, dass Denis in ihren Armen starb.
Jazmin stöhnte und hob Denis’ Körper in dem Notfallzentrum auf den Behandlungstisch. Das war ein autarkes Operationssystem, das Verletzungen dieser Art schneller und besser behandeln konnte als jeder Arzt. Sie drehte ihn auf den Bauch. Leicht war er nicht.
»Notoperation einleiten!« Sie startete die Prozedur. »Steckschuss in der rechten Lunge!« Mit einer Schere schnitt sie seine Kleidung auf. Zwei Roboterarme begannen, die Wunde zu säubern. Andere Teilsysteme stellten die Beatmung sicher, weitere legten einen Zugang für die Bluttransfusionen.
»Verletzung analysiert.
OP
-Verfahren selektiert, Fremdkörper identifiziert, Eingriff initiiert, Dr. Harper, bitte treten Sie einen Schritt zurück«
, erklärte eine synthetische Stimme, eine medizinisch spezialisierte KI
, die diese Operation vornahm.
Jazmin beobachtete, wie ein Laser die Wunde öffnete und das Projektil entfernte. »Overlay anzeigen.« Hoffentlich würde Denis es schaffen. Das war ein Wettlauf gegen die Zeit.
»Overlay abgebildet.«
Auf Denis’ Rücken war eine Projektion seiner verletzten Organe abgebildet. Es war, als ob seine Haut durchsichtig wurde und einen Blick in sein Inneres erlaubte. Sie sah den Schusskanal und die Stelle, an der das Projektil zuvor gesteckt hatte. Das OP
-System versiegelte zahlreiche Adern und ersetzte größere Gefäße, um die Heilung zu beschleunigen. Sein Herz schlug weiter. Sie atmete auf, er sollte es geschafft haben. Er würde nicht sterben!
Jazmin ging zurück auf den Flur. Sie überprüfte, ob noch
jemand lebte. Dem war leider nicht so. Der Major hatte mit einem M-97
-Sturmgewehr auf sie gefeuert. Die Hochgeschwindigkeitsprojektile blieben normalerweise nicht im Körper stecken, sie schlugen durch. Aber das war eine besondere Situation, die Lage der Leichen vermittelte Jazmin eine Vorstellung, was passiert sein könnte. Espinoza hatte Denis nicht direkt getroffen. Die Kugel hatte zuerst die Körper von zwei Technikern durchschlagen, bevor sie Denis erreicht hatte.
»Dies ist keine Übung. Bitte evakuieren Sie das Schiff. Dies ist keine Übung. Bitte evakuieren Sie das Schiff«
, meldete eine automatische Ansage.
Wer lebt überhaupt noch? Sie hatte den Überblick verloren. Es musste weitere Besatzungsmitglieder in den Wohnbereichen geben. Ob Espinoza sie ebenfalls töten wollte? Wenn ja, musste sie ihn aufhalten. Sie ging zurück in das Notfallzentrum. Das OP
-System hatte Denis auf die Seite gelegt und die Wunde verschlossen. Er schlief. Seine Vitalwerte waren stabil. Er brauchte Ruhe.
Jazmin nahm ihm das Filtersystem aus der Nase. Mit einem Lächeln beugte sie sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange. Sie hätte sich kaum einen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um einen Mann zu finden, mit dem sie alt werden wollte. Wenn es schlecht lief, war das der erste und der letzte Tag ihrer neuen Beziehung.
»Das ist eine Primärorder. Niemand außer mir darf diese Tür von außen öffnen.« Sie strich Denis durch die Haare. Über das Head-up-Display, das mit einer Klammer auf seiner Nasenwurzel steckte, würden sie, wenn er wach wurde, kommunizieren können. Sie musste noch etwas erledigen. Espinoza würde damit nicht durchkommen.
»Order bestätigt.«
Jazmin nahm die alte Pistole und verließ den Raum. Die automatische Tür verschloss sich umgehend. Als Erstes wollte sie zurück auf die Brücke, um eine der auf dem Boden liegenden Waffen mitzunehmen. Vier Patronen in dem Colt waren verdammt wenig. Vor der Tür der Brücke stehend, drückte sie den Öffner.
Nichts passierte.
»Tür zur Brücke öffnen!«
Keine Antwort.
»Mist!« Sie hätte die Chance vorhin nutzen sollen, um sich besser zu bewaffnen. Der Major hatte mit dem Zugang zur Brücke dasselbe getan wie sie mit der Tür zum medizinischen Notfallraum. Keiner von ihnen konnte die Blockade des anderen aufheben. Die KI
Mutter wäre in diesem Fall eine Hilfe gewesen, sie war das einzige technische System, das sich eine eigene Meinung bilden und in solchen Fällen eine Entscheidung treffen konnte. Untergeordnete KI
-Systeme wie diese Türsteuerung waren dazu nicht in der Lage.
»Ortung aktivieren. Alle lebenden Personen anzeigen. Position von Raul Espinoza ermitteln«, befahl sie.
Wieder keine Reaktion. Ihr Head-up-Display behauptete, die Verbindung zum Server verloren zu haben. Jazmin verdrehte die Augen. Da funktionierte einiges nicht mehr. Sie lief in Richtung der Wohnzone, die sich zwei Decks über ihr befand. Eine Treppe höher erwarteten sie Denis’ Drohnen. Die Dinger piepten. Freuten die sich etwa, sie zu sehen? Dieses Verhalten war für Assistenzsysteme völlig untypisch.
»Wir gehen zur Wohnzone. Ihr bildet die Vorhut.« Eine der beiden Drohnen schubste die andere vor, die zwar kurz brummte, aber dann losschwebte. In der Ferne konnte sie Schüsse hören. Espinoza war mit seinem Amoklauf noch nicht fertig.
»Jazmin, ich weiß, dass du mich hörst!«
Dieser Psychopath. Er nutzte eine direkte Verbindung. Sie wurde langsamer. »Los, rede mit mir!«
»Lass uns damit aufhören!« Mit der Waffe im Anschlag folgte sie der Treppe nach oben. Von der Drohne, die bereits oben war, ließ sie Bilder übertragen. Auch wenn nichts von dem Schwein zu sehen war, blieb sie vorsichtig.
»Wir haben doch gerade erst angefangen.«
»Du bist krank!«
»Und du humorlos!
»Du hast alle Techniker getötet!«
»Wirklich?«
»Niemand, der vor der Brücke mit dir sprechen wollte, hat überlebt.« Sie verschwieg, dass Denis noch lebte. »Das waren deine Leute! Du warst für sie verantwortlich!«
»Sie haben Brandsätze auf die Brücke geworfen!«
»Du hast auf sie geschossen.« Jazmin ging weiter. Die Drohne erkundete den Weg, und sie folgte einen Moment später. Es gab immer noch keine Spur von ihm.
»Ach … egal.«
»Du …«
»Hat es Jagberg auch erwischt?«
»Ja.«
»Und wen hast du dann auf dem
OP
-Tisch zusammenflicken lassen?«
, fragte er spöttisch.
Sie verzog den Mund.
»Keine Sorge. Ich mache keine halben Sachen. Ich werde mir Jagberg später holen!«
»Du widerst mich an!«
»Ach was … ich sehe dich, Schätzchen! Dich, Mellenbecks alte Pistole und deine kleine Vorhut. Glaub mir, du legst dich mit dem Falschen an!«
Espinoza hatte also noch Zugriff auf die Überwachungssysteme an Bord. Ein empfindlicher Nachteil. Er konnte sie sehen, sie ihn aber nicht.
»Das glaube ich nicht.« Sie hielt Mellenbecks Pistole hoch. Mit dem General als Anführer wäre das alles nicht passiert. »Kannst du den alten Colt sehen?«
»Klar … was ist damit?«
»Damit werde ich dich erschießen!«
»Das wird dir nicht gelingen.«
»Bei vier deiner Leute ist es mir gelungen.« Es kam nie auf die Waffe, sondern immer auf den Schützen an.
»Das stimmt … du hast Glück gehabt. Aber das spielt keine Rolle mehr!«
»Glaubst du immer noch, dass wir alle sterben werden?« Jazmin ging weiter. Im nächsten Korridor befand sich ein zentraler Treffpunkt. Eine Art Bar, an der man sich nach Dienstschluss hätte nett unterhalten können. Oder auch etwas essen. Jedenfalls, wenn man nicht gerade versuchte, sich gegenseitig zu töten.
»Nein, das glaube ich nicht … ich weiß es. Ich komme dem nur zuvor. Das ist ein Akt der Gnade! Ich habe allen die Angst vor dem Tod erspart.«
Jazmin antwortete nicht. Raul Espinoza hatte den Verstand verloren. Sie lauschte an der Tür zum Aufenthaltsbereich. Dahinter waren Stimmen zu hören. Da lebte noch jemand. Sie wollte die Tür öffnen. Espinoza hatte auch dieses System blockiert.
»Übrigens … nur am Rande erwähnt. Ich würde die Tür zu unserer Meeting-Zone nicht öffnen.«
»Warum?« Jazmin klopfte an die automatische Tür. Auf der anderen Seite wurde es lauter.
»Du solltest einfach auf mich hören.«
»Was hast du getan?« Sie untersuchte den Türrahmen, da waren keine Besonderheiten zu erkennen. Ihre Klopfzeichen wurden erwidert. Da waren Menschen eingesperrt.
»Alles, was notwendig ist!«
Er lachte. »Ich habe ihnen nur gesagt, dass sie ruhig sitzen bleiben sollen. Und damit sie mich ernst nehmen, habe ich ihnen eine bewegungssensitive Granate auf den Tisch gestellt. Wenn sie auf mich hören, passiert ihnen nichts.«
Espinoza suhlte sich in seiner Macht über das Leben anderer.
»Du bist ein mieses Schwein!« Extreme Situationen veränderten niemanden, sie zeigten nur, wer man wirklich war.
»Es könnte aber auch sein, dass ich mich im Waffendepot vergriffen habe. Also die Granaten mit Zeitzünder sehen wirklich genauso aus …«
»Was hast du …«
Er fiel ihr ins Wort. »Du hast drei Sekunden.«
Jazmin hielt den Atem an, sprang auf und sprintete los. Die beiden Drohnen blieben hinter ihr. Die Explosion zerschmetterte die Zugangstür zum Aufenthaltsbereich, die Druckwelle erfasste sie und schleuderte sie nach vorne. Sie konnte die Hitze spüren. Es stank nach verbrannten Haaren.
»Lebst du noch?«
Jazmin biss die Zähne zusammen. Ihr Rücken schmerzte, als ob ein Pferd sie getreten hätte. Eine der Drohnen hatte sie mit Löschschaum besprüht. Teile ihrer Uniform waren verbrannt.
»Du bist zäh.«
Sie antwortete nicht, sondern begann, zwischen den Trümmern nach der Pistole zu suchen. Sie hatte sie beim Sturz fallen lassen. Da war sie. Sie nahm sie wieder auf. Eine der Drohnen piepte zufrieden, der Einsatz des Löschschaumes hatte Schlimmeres verhindert. Sie hatte nur an der
Schulter oberflächliche Verbrennungen erlitten. Die völlig verdreckte Uniform war bereits vorher reif für den Mülleimer gewesen.
»Redest du nicht mehr mit mir?«
Jazmin ging zurück, sie betrat den Raum, in dem die Granate gezündet worden war. Überall lagen Leichenteile herum. Sie konnte nicht sagen, wie viele Opfer die Explosion gefordert hatte. Es waren auf jeden Fall mehrere gewesen. Alle Leichen waren versengt und durch die Detonation bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Das automatische Brandschutzsystem hatte die Flammen umgehend gelöscht.
»Sie waren schon vorher tot.«
Jazmin begann zu schreien. Das war unerträglich. Unerträglich, alle diese Toten zu sehen, und unerträglich, Espinozas Geschwätz zu hören. Sie schrie sich all ihre Wut aus dem Leib heraus. Lauter. Jeder auf dem Schiff sollte es hören. Bei dieser Mission ging es darum, für das Leben zu kämpfen. Für das Leben von drei Millionen Embryos. Drei Millionen Kinder, die auf einer neuen Welt aufwachsen sollten. Und jetzt brachten sie sich wie zwei Psychopathen um.
»Sieben Jahre …«, flüsterte sie. Diese Lüge hatte sie wie eine Blutspur zu diesem Punkt geführt. Und obwohl sie es bereits wusste, war sie unfähig, diese verfluchte Lüge aufzudecken.
»Was ist in sieben Jahren?«
, fragte er.
»Wir sind keine sieben Jahre unterwegs!«
»Was soll das denn jetzt?«
»Das wollte ich dir vorhin sagen … wenn du Idiot zugehört hättest. Jetzt werde ich dir einfach eine Kugel in die Stirn schießen!« Jazmin machte sich auf den Weg. Sie vermutete, dass sich dieser Spinner in einem der Waffendepots aufhielt. Davon gab es mehrere auf dem Schiff. Allerdings nur eines,
in dem nukleare Sprengkörper gelagert wurden. Sie würde darauf wetten, dass er seine zerstörerische Psychose krönen und das Schiff in Stücke sprengen wollte.
»Ist das jetzt ein Trick?«
Jazmin gab den beiden Drohnen über das Head-up-Display die Order, zur Notfallstation zurückzukehren und auf Denis aufzupassen. Den Befehl quittierten sie, den Zusatz, Raul Espinoza bei Sichtkontakt zu töten, verstanden sie nicht. Die Dinger würden auch nach diesen Ereignissen keinen Menschen angreifen.
»Ich bin Navigator, ich wüsste als Erster … wenn wir uns nicht mehr auf Kurs befinden würden.«
Sie verdrehte die Augen. »Und das Schwarze Loch?« Davon war bei der Planung auf der Erde keine Rede gewesen. Das Ungetüm war so groß und so nah, dass man es von der Erde aus bequem hätte erkennen müssen. Was nicht der Fall gewesen war, weil sich in unmittelbarer Nähe der Erde kein Massekoloss dieser Größe befand.
»Ach … egal.«
»Du bist nicht nur ein Psychopath, du bist auch ein Narr!« Jazmin lief zu einem der Aufzüge. Das Waffendepot mit den schweren Waffen befand sich sieben Level unter ihr.
»Wie lange sollen wir denn deiner Meinung nach unterwegs sein?«
Er ging darauf ein.
»Hundert Jahre, zweihundert Jahre … ich weiß es nicht. Auf jeden Fall mehr als sieben.«
»Niemals!«
»Alle Menschen in den Kältebetten sind tot!« Eine Übertreibung, sie wusste nur von zweien. Die beiden lagen aber erheblich länger als sieben Jahre in den Lagereinrichtungen.
»Du willst mich in die Irre führen!«
Das war das Problem mit paranoiden Psychopathen, sie
konnten äußerst misstrauisch sein. Jazmin würde ihn nicht überzeugen können, wohl aber ablenken.
»Nein … ich will dich töten!« Auch die Wahrheit konnte wie eine Ablenkung wirken.
»Nein, nein … ich lass dich nicht in meinen Kopf rein! Du lügst! Das weiß ich genau! Du bist tot! Wir sind alle tot! Ich werde euch das Schiff niemals überlassen!«
Jazmin fuhr mit dem Aufzug herunter. Die Fahrt dauerte nur wenige Sekunden. Er würde sie vermutlich bemerken, aber es gab keinen anderen Weg.
»Jazmin, kannst du mich hören? Ich bin wach … scheiße, ich leb noch. Ich dachte schon, das wäre es gewesen. Hast du mich in das
OP
-Center gebracht? Verdammt, ich kann meinen rechten Arm nicht bewegen. Wo bist du?«
Denis meldete sich. Seine Stimme zu hören beflügelte sie. Sie spiegelte ihr Sichtfeld auf seine Umgebung. Denis sah nun, was sie sah, und hörte auch, was sie hörte.
»Espinoza, du bist der Einzige, der heute noch sterben wird. Ich komme jetzt zu dir!« Jazmin war sich in ihrem Leben noch nie so sicher, was sie zu tun hatte.
»Hey, du hast mich gefunden! Willst du wirklich in einem Raum voller Bomben auf mich schießen?«
Mit seinen Worten öffnete sich eine automatische Panzertür. Das Duell begann. Einer von ihnen würde es nicht überleben.
»Wenn es sein muss.« Sie hörte seine Stimme über das Netzwerk und durch die Tür. Er stand fünfzig Meter von ihr entfernt. Das Depot war nicht gerade klein. Auf der USS
London
war alles eine Nummer größer. Hier lagerte das gesamte Bombenarsenal, das sie dabeihatten. Besonders die mit Antimaterie angereicherten Nuklearsprengsätze hatten es in sich. Damit konnte man instabile Planeten oder auch störrische Sonnen sprengen.
»Bleib stehen!« Mit dem Gewehr in der Hüfte erwartete er sie. Er schien sich seiner Sache sicher zu sein. Neben ihm befand sich eine mobile Gefechtskonsole. Er hatte vermutlich bereits damit angefangen, Bomben scharf zu machen.
Jazmin schüttelte den Kopf und ging langsam weiter. Sie hatte nicht vor anzuhalten, sie hob den Colt und zielte auf ihn. Die Waffe hatte zuvor bei jedem Schuss leicht nach links gezogen. Als ob sie das bereits hundertfach in ihrem Leben getan hätte, berücksichtigte sie die Abweichung und korrigierte die Waffe.
»Jazmin, ich sehe ihn. Ich bin bei dir. Du wirst ihn treffen. Ich weiß es, ich glaube an dich! Scheiße … ich glaube, ich liebe dich. Also ich möchte dich wiedersehen … bis gleich.«
Denis’ Worte zauberten ihr ein Lächeln auf die Lippen.
»DU
SOLLST
STEHEN
BLEIBEN
!«
Sie ging weiter.
Er schoss aus der Hüfte auf sie. Die Salve schlug in den Boden. Das war zu lässig. Noch vierzig Meter.
Jaz, es geht im Leben immer nur um das Feuer in deinem Herzen, hatte ihr Vater einmal gesagt. Immer, wenn sie sich besonders nah gewesen waren, hatte er sie Jaz genannt. Niemand sonst durfte sie so nennen. Das war eine Sache zwischen ihrem alten Herrn und ihr. Jaz, egal, ob du liebst, hasst oder kämpfst, tue es in dem Wissen, in der nächsten Sekunde sterben zu können.
»Ich werde dich töten!« Erst jetzt nahm dieser Idiot die Waffe in den Anschlag. Zu spät. Sie schoss zuerst. Der erste Treffer touchierte seine linke Schulter. Das war nicht tödlich, kostete ihn aber seine Balance. Noch drei Patronen.
»Nein!« Sie feuerte erneut. Diesmal traf sie seine Wange und sein Ohr. Noch zwei Patronen und dreißig Meter.
»Du …«
»Espinoza, sei einfach ruhig und stirb!« Jetzt hatte sie es raus. Noch zwei Patronen. Sie senkte den Arm und schoss. In seinen Bauch. Volltreffer. Das Gewehr fiel auf den Boden. Er sah sie mit offenem Mund an und musste wegen der Wucht des Treffers drei Schritte nach hinten ausweichen. Noch fünfundzwanzig Meter und ihre letzte Patrone.
Feuer. Das Kaliber .45
Projektil zerschmetterte seine Stirn und riss ihn von den Beinen. Major Raul Espinozas Dienstzeit auf der USS
London
war damit offiziell beendet.
»Dies ist keine Übung. Bitte evakuieren Sie das Schiff. Dies ist keine Übung. Bitte evakuieren Sie das Schiff«
, meldete eine automatische Ansage.