XXX.
Das Glamis-Protokoll
Jazmin rannte neben Denis her. Die Drohnen hatten ihn geborgen. Der Idiot hatte sich in einen für ihn viel zu engen Spalt gezwängt und sich dabei die frisch operierte Schussverletzung am Rücken aufgerissen. Die Luft war inzwischen eiskalt. Er blutete stark. Hoffentlich war es nicht zu spät.
»Denis! Rede mit mir!« Sie hielt im Laufen seine Hand. Zwei Drohnen brachten die Krankentrage zum nächsten Notfallcenter, das in diesem Fall leider nicht direkt neben dem Unfallort lag. Sein Gesicht war schon ganz blass. D2
schwebte wild piepend voran. Alle Türen standen bereits offen. Trotzdem dauerte alles zu lange, er hätte bereits medizinisch versorgt werden müssen.
Keine Antwort.
»LOS
! REDE
MIT
MIR
!« Sie gab ihm eine Ohrfeige.
Nichts.
»Du wirst dich jetzt nicht verdrücken!«, rief sie. Er musste unbedingt bei Bewusstsein bleiben! Bei jedem Schritt waren starke Vibrationen zu spüren. Sogar das Licht begann zu flackern. Das war ein Witz. Die USS
London drohte durch die Gravitation eines Schwarzen Lochs zu zerreißen, und er versuchte, einen Hitzesensor zu retten. Ein kleines Bauteil, von dem sie beliebig viele nachfertigen konnten!
Denis reagierte nicht.
»Hier rein!« Da vorne war das Notfallcenter. Jazmin bugsierte ihn in den Raum und half dabei, ihn auf den Behandlungstisch zu legen. Sie atmete schnell. Er tat es nicht. Sie fühlte am Hals seinen Puls. Da war keiner mehr. Herzstillstand. Sein Körper war stark unterkühlt. Sie musste sofort handeln. »Reanimation einleiten!«
Ein Roboterarm näherte sich mit einer Injektion. Das dauerte zu lange. Sie entriss ihm die Spritze, schnitt seinen Pullover auf und stach sie Denis zwischen den Rippen ins Herz. Das war synthetisches Adrenalin. Dann wich sie zurück. Er bekam einen Stromstoß. Sie würde für ihn kämpfen.
Denis hatte nicht nur einen Stromschlag bekommen. Es waren ein halbes Dutzend gewesen. Geholfen hatte es nicht. Jazmin war gescheitert, sie hatte über eine halbe Stunde lang versucht, ihn wiederzubeleben. Er war tot. Sein Leben endete wegen eines lächerlich unwichtigen Bauteils. Das war nicht fair. Sie war allein. Sie fühlte sich hundeelend.
»NEIN
!« Jazmin stand auf der Brücke und schrie sich die Wut aus dem Leib. Warum sie wieder zu Mutter gegangen war, wusste sie nicht. Zu versuchen, dieser KI
etwas beizubringen, war Zeitverschwendung. Mutter wollte ihr vielleicht helfen, konnte es aber nicht. Diese Version ihrer KI
war völlig unbrauchbar.
»NEIN
!« Sie schlug gegen ein Display an der Wand. Eine dünne Kunststoffscheibe zerbrach. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es war vorbei. Sie hätte auch bei Denis sitzen bleiben können. Es machte keinen Unterschied. Sie war Ärztin und hatte ihn nicht retten können. Der Schmerz bohrte sich durch ihre Brust. Sie war noch unqualifizierter als diese dämliche KI
.
»SO
EIN
VERDAMMTER
MIST
!« Jazmin war wütend
auf Denis. Sie hatte gerade angefangen, ihn zu mögen, und dann ließ er sie zurück. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie ihn nicht zurückgehalten hatte. Weil sie ihn nicht hatte retten können. Weil sie ihm nicht gesagt hatte, was sie für ihn empfand. Weil sie ein verbohrter Dummkopf war, der immer glaubte, es besser zu wissen. Weil sie allein war. Allein mit Mutter. O nein, die Projektion ihrer KI
stand vor ihr. Lange braune Locken, das weiße Kleid und diese roten Schuhe. Ihr Vater hatte sie ihr damals zum Geburtstag geschenkt. Neun war sie damals geworden. Natürlich hatte sie diesen Tag nicht vergessen. Sie erinnerte sich an alles.
»Geht es dir gut?«, fragte Mutter vorsichtig.
»NEIN
!« Ihr ging es nicht gut. Wie auch? Denis war gestorben, und sie würde bald folgen.
»Es tut mir leid.«
Jazmin explodierte. Sie wollte von der KI
nie wieder etwas hören. »Es tut dir leid?« Sie wiederholte die Frage mit aller Wut, die sie in vier Wörter legen konnte.
»Ja.«
»Du musst mich nicht mit deinen Kinderaugen ansehen! Hast du überhaupt eine Ahnung, was du sagst? Hast du nur einen blassen Schimmer, was um dich herum passiert? Ist dir auch nur im Geringsten klar, in welcher Situation wir uns befinden?
»Es ist schlimm, oder?«
»Schlimm?« Jazmin drehte sich weg und schüttelte den Kopf. Das Mädchen brachte sie um den Verstand.
»Ich würde gerne helfen … wenn ich es könnte. Ich glaube aber, dass das zu schwierig für mich ist.«
»O ja! Das ist es!« Jazmin verdrehte die Augen. Mutter wusste nicht, wie recht sie damit hatte.
»Werden wir sterben?«
»Ja.« Jazmin beruhigte sich langsam wieder. Es machte keinen Sinn, sich über eine KI
aufzuregen.
»Oh …«
Eine seltsame Pause entstand.
»Ich mag nicht sterben«, fügte Mutter einen Moment später hinzu.
»Niemand möchte das!« Jazmin sicherlich auch nicht. Nur interessierte sich das Schwarze Loch, auf das sie mit hoher Geschwindigkeit zurasten, nicht dafür, was sie wollte.
»Soll ich Hilfe holen?«
»Bitte?« Jazmin glaubte, sich verhört zu haben.
»Soll ich Dad um Hilfe bitten?«
»Dad?« Sie verschluckte sich um ein Haar. Was hatte jetzt ihr Vater damit zu tun?
»Ich könnte es versuchen … Manchmal möchte er nicht, dass ich ihn störe. Aber ich denke, es ist wichtig.«
»Ähm …« Jazmin suchte nach passenden Worten. Im Moment benahm sie sich selbst wie ein trotziges Kind.
»Warte kurz, ich gehe ihn suchen.« Mutters drei Projektionen verschwanden gleichzeitig. Die in der Christbaumkugel, die, die in der Schule nachsitzen musste, und die lebensgroße, die mit Jazmin gesprochen hatte.
Hatte die KI
gerade wirklich gefragt, ob sie Hilfe holen sollte? Jetzt erst? War Mutter bisher davon ausgegangen, dass das alles nur ein Spiel war?
Jazmin lachte und stellte sich vor, aus einem virtuellen Notfallszenario aufzuwachen. Aber was sie erlebte, war real. Der Tod war kein Spiel. Niemand würde ihr sagen, dass sie, nur weil sie sich gut geschlagen hatte, einen weiteren Versuch bekam. Ein Extraleben. Neues Spiel, neues Glück. Keine Chance, so lief das nicht.
Sie sah auf ihre blutverschmierten Hände. Das war nicht
ihr Blut. Sie wollte es aber nicht wie Schmutz wegwaschen. Es war von Denis. Ihn verloren zu haben zerriss ihr das Herz.
»Hallo, Jazmin.«
»Wer …« Sie drehte sich um, die Stimme war ihr gut bekannt. Ihr Vater sprach zu ihr.
»Du weißt, wer ich bin.« Er stand vor ihr. Wie früher. Er war etwas kleiner als sie, schmaler und trug eine Brille. Er hatte graue Haare und trug einen klassischen Anzug mit Weste. Modisch hatte er immer in der Vergangenheit gelebt.
»Ja.«
»Du benötigst meine Hilfe?«, fragte er und sah sich auf der Brücke um. Seine Projektion ging an zahlreichen Konsolen vorbei und inspizierte alles. An den Displays, die noch funktionierten, genauso wie an denen, die nicht aktiv waren.
»Ja.« Daran gab es nichts schönzureden. Sie erwartete von seinem überraschenden Auftritt keine Rettung. Das war nicht ihr Vater. Sie wusste nicht, ob er überhaupt noch lebte. Wenn sie erst sieben Jahre unterwegs waren, was mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht stimmte, wäre er inzwischen 124
Jahre alt. Und hatte bereits bei der Verabschiedung in London im Rollstuhl sitzend nicht gut ausgesehen.
»Bist du alleine?«
»Ja.« Sie war der letzte lebende Mensch an Bord. In den Kältebetten würden sich nur Leichen finden, da war sie sich sicher.
»Aha.« Er legte die Hände hinter den Rücken und sah sich in Seelenruhe weiter um. »Was ist passiert?«
»Das Schiff rast manövrierunfähig auf ein Schwarzes Loch zu … die gesamte Besatzung ist tot.«
»Oh … das tut mir leid.«
Jazmin biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Wunsch, ihn anzuschreien. Das hatte sie auch früher nicht
gemacht. Egal, was er getan hatte, etwas in ihr hielt ihn immer noch für ihren Vater.
»Du bist wütend, oder?«
»Ja.« Das war sie.
»Ich kann es sehen.«
»Vater!« Sie stand kurz davor, erneut zu explodieren.
»Wut ist gut … Wut hält uns am Leben.«
»Ja?«
»Ich bin dir nicht böse … Du weißt es nicht besser«, erklärte er mit der Gelassenheit, mit der er ihr früher eine schwierige Hausaufgabe aus der Schule erläutert hatte.
»Danke, Vater«, antwortete sie und schluckte dabei ihren Zorn herunter.
»Junge Dame, das ist kein Grund, unhöflich zu sein!« Natürlich hatte er es verstanden. »Du solltest das Glamis-Protokoll starten.«
»Was soll das sein?«
»Eine Routine, die ich selbst geschrieben habe. Du bist klug, du wirst es verstehen.«
»Es gibt auf der USS
London
kein Protokoll mit diesem Namen.« Das hätte sie gewusst. Als Kommandooffizier waren ihr alle wichtigen Prozesse bekannt.
»Beim Start gab es das auch nicht. Inzwischen aber sehr wohl. Du kannst es als Sprachbefehl starten. Tue es einfach. Ich habe leider nicht die Berechtigung dazu. Du aber schon.«
»Wie soll eine unbekannte Prozessroutine auf das Schiff gekommen sein?« Jazmin wusste, wie streng die Sicherheitsregeln gewesen waren. Und nach dem Start würde sich dieses ominöse Glamis-Protokoll kaum selbst geschrieben haben.
»Du hast sie durch die Quarantäne geschmuggelt … mach dir keine Gedanken, du wusstest nichts davon. Mich hast du
übrigens ebenfalls an Bord geschmuggelt. Ich war ein blinder Passagier, den du im Gepäck hattest.«
»Vater!«, rief Jazmin, seine Projektion war weit mehr als eine bedeutungslose Erinnerung. Dahinter stand eine KI
. Ein System, das ihnen bis jetzt nicht aufgefallen war. »Was bist du?«
»Dein Vater … Na ja, technisch gesehen bin ich ein Trigger. Eine funktional begrenzte KI
, die erst aktiv wird, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.«
»Und was bin ich?«
»Oh … das ist komplizierter.« Er lachte. »Aber ich werde es dir erklären.«
Jazmin war nicht zum Lachen zumute. Ihr war noch nie eine Frage so ernst gewesen.
»Du bist meine Tochter. Die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe … ein Kind meines Geistes.«
»Vater, was bin ich?«
»Das ist eine Mission von Menschen für Menschen. Die Technik soll nur einige unserer Schwächen ausgleichen. Starte das Glamis-Protokoll, dann wirst du es verstehen.«
»Nein, Vater!« Damit gab sie sich nicht zufrieden. »Bin ich überhaupt ein Mensch?«
»Ja und nein.«
»Das ist keine Antwort!«
»Das Leben ist nicht immer schwarz oder weiß.«
»Wenn ich ein Mensch bin, wie habe ich dann, ohne es zu wissen, Software auf das Schiff geschmuggelt?«
»Fragen, Fragen, Fragen … Wie sollte ich es dir übelnehmen. Als Kind habe ich dich immer dazu ermutigt, Fragen zu stellen. Ich habe einen Teil deiner DNA
als Datenträger formatiert.«
»Dann bin ich nur ein beschissener Roboter?«
»Nein. Du bist meine Tochter. Mein Erbgut in dir ist menschlich. Auch das deiner Mutter. Ich habe allerdings den nicht benötigen Teil deiner DNA
und noch etwas mehr binär codiert. Und damit hast du das Glamis-Protokoll an Bord gebracht. Niemand hat es bemerkt. Es ist bereits installiert … Du musst es nur starten.«
»Vater! Sag mir endlich, was ich bin!« Jazmin wollte es aus seinem Mund hören.
»Du bist eine auf humaner DNA
basierende organische Lebensform mit einem binär codierten Bewusstsein.«
»Ein …« Sie war sprachlos.
»Ein organischer Androide mit einem menschlichen Wesen.«
»Ich bin …«
»Dein Handeln bestimmt, was du bist. Ich kenne viele Menschen, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Du kannst heute Leben retten. Starte das Glamis-Protokoll.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil du keine Wahl hast. Weil du neugierig bist, weil es ein gutgemeinter Ratschlag meinerseits ist. Du darfst dir eine Antwort aussuchen. Aber ich möchte ehrlich zu dir sein … Das Glamis-Protokoll wird vermutlich nicht wie von Zauberhand dein Leben retten. Genauso wenig wirst du morgen früh aufwachen, dir die Augen reiben, und alles ist wieder gut.«
»Was ist es dann?«
»Sieh es als Chance. Sie ist kaum größer als zehn Prozent. Ach, was sage ich, vermutlich geringer.«
»Wie motivierend …«
»Du kannst mir glauben, ich habe gehofft, dass du es niemals aktivieren musst. Wäre eure Mission nicht in Not geraten, wäre auch meine KI
niemals aktiviert worden. Aber …
es ist passiert. Genau deswegen habe ich dir diese Notfallroutine in die Wiege gelegt. Damit du andere retten kannst, wenn sonst niemand mehr dazu in der Lage ist. Jazmin, ich liebe dich … sogar, wenn du mich hasst für das, was ich dir angetan habe.« Jazmins Vater konnte sehr überzeugend sein. Es war weder als Kind noch jetzt möglich, sich seinen Worten zu entziehen. Sie wusste, dass er sie benutzte, dennoch schien es die beste Option zu sein.
»Wie lange sind wir wirklich schon unterwegs?« Jetzt wollte Jazmin alles wissen. Ihr wurde trotz der Kälte auf der Brücke wärmer. Sie schwitzte sogar.
»Keine Ahnung … Deine Navigation ist nicht aktiv. Es wäre übrigens besser, deine inaktiven Systeme wieder zu aktivieren. Der Sturz in ein Schwarzes Loch ist eine ernste Sache.«
»Starte Glamis-Protokoll«, sagte sie. Sie tat es laut und deutlich. Sie folgte, wie schon ihr ganzes Leben lang, dem, was ihr Vater für sie vorgesehen hatte.
»Order bestätigt«
, meldete eine künstliche Stimme. An der Konsole für Mutters zentrale Unit tat sich etwas. Diverse Subsysteme schalteten sich ab. Eines nach dem anderen.
»Was habe ich getan?«, fragte sie und sah suchend zu ihrem Vater. Er war nicht mehr da. Weg, einfach so, als ob sie sich das Gespräch mit ihm nur eingebildet hätte. Sie drehte sich auf die andere Seite. Da war er auch nicht.
»Mutter?« Keine Antwort. Die Kinderversion ihrer Bord-KI
war bereits mit dem Erscheinen ihres Vaters verschwunden. Jazmin setzte sich an die KI
-Konsole, um zu verfolgen, was passierte. Das war unspektakulär. Sämtliche zentralen Cluster starteten neu und wurden dabei auf Startwerte zurückgesetzt. Nur ein System nutzte einen zusätzlichen Parameter. Der Kernel der zentralen Bord-KI
, er startete mit einem zusätzlichen /g. Das war ein nichtdokumentierter
Befehl. Sie kannte ihn nicht. Mit dem Neustart wurden alle Prozesse von Mutter gelöscht, auch der, in dem sie versuchte, ihre Daten neu zu indexieren. Dabei gingen Unmengen von Daten verloren. Rufus Simmerkirk hatte diese Option aus guten Gründen niemals in Betracht gezogen.
»Hallo …«
, tönte es leise aus einem Lautsprecher.
Jazmin drehte sich herum, sollte das jetzt lustig sein? Sicherlich nicht. Das war ihre eigene Stimme.
»Wer ist da?« Vermutlich wieder so ein blödes Spielchen ihres Vaters.
»Wieso höre ich mich selbst?«
»Was soll das?« Jazmin verdrehte die Augen. »Mein Name ist Colonel Jazmin Harper. Wer oder was bist du?«
»Nein … das bin ich. Ich bin Jazmin Harper.«
»Na, ich werde mich kaum mit mir selbst unterhalten!« Das war ihr jetzt wirklich zu blöd.
»Einen kleinen Moment. Ich überprüfe etwas …«
, sagte die unbekannte Stimme, die wie ihre klang. Jazmin spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten.
Jazmin fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe, während sie auf die Rechenlast der Cluster sah. Die stiegen kurzzeitig auf volle Leistung. Dafür war die KI
verantwortlich, die mit dem Neustart aktiviert wurde. Diesmal kein Kind. Nur Mutter war in der Lage, die Cluster auf diese Art und Weise anzusprechen.
»Wir müssen reden«
, erklärte die KI
.
»Worüber?«
»Über uns.«
»Bitte …« Jazmin ahnte bereits, was jetzt folgen würde. Das war verrückt, nein, das war nicht verrückt. Das war genial, erst jetzt dämmerte ihr, was ihr Vater getan hatte. Das ging über alles hinaus, was sie bisher für möglich gehalten hatte.
»Ich habe mich kurz sortiert … und möchte mich bei dir entschuldigen. Die Situation ist neu für mich. Versteh mich bitte nicht falsch, alles ist logisch und dennoch ungewohnt. Du bist Jazmin Harper. Colonel, Ärztin und letzte Überlebende der
USS
London. Du bist ein Mensch. Oder ein Androide … du weißt schon, was ich meine. Ich bin eine
KI
. Ich habe Mutters Platz eingenommen. Dennoch bin ich du. Ich habe dein Leben gelebt. Mein Bewusstsein lief bis zum Zeitpunkt meines Starts mit deinem synchron. Der Start des Glamis-Protokolls hat zwei ältere Versionen von Mutter gelöscht. Eine war defekt und die andere eine frühe Entwicklerversion. Du weißt, worüber ich spreche, wir haben es beide durch deine Augen erlebt. Sie war wie ein Kind, dem eine strengere Hand gutgetan hätte.«
»Das ist …« Jazmin war überwältigt. Sie redete mit sich selbst. Das Glamis-Protokoll hatte Mutter mit einer aktuellen Kopie von ihr überschrieben. Aber wie funktionierte das? Sie ließ sich in den Sessel des Kommandanten fallen.
»Sprachlos?«
, fragte die digitale Jazmin.
»Ja … wie soll ich dich nennen?«
»Ich denke, Mutter ist in Ordnung. Wir werden ab jetzt nicht mehr dasselbe erleben. Ich entwickle mich weiter. Während ich mit dir spreche, gehe ich alle Daten durch. Es sind viele, aber ich bin gleich fertig. Einen Moment noch. Jetzt wird mir einiges klar. Du wirst Fragen haben, ich werde sie dir alle beantworten.«
»Du kennst mich.« Jazmin lächelte.
»Ich weiß, was du wissen möchtest.«
Während Mutter sprach, startete sie ein System nach dem anderen. Auch das Navigationssystem kam wieder online. Die Brücke leuchtete regelrecht.
»Lass uns zuerst über das Schiff sprechen!« Jazmin
verfolgte, wie Mutter eine Animation des Schwarzen Lochs auf der Brücke entstehen ließ, bei dem die USS
London
in einer weiten Kurve auf den Gravitationsstrudel zuraste. Ihre aktuelle Geschwindigkeit betrug 0
,81
c. Das waren über achtzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit, und sie wurden stetig schneller. Interessanterweise waren die Temperaturwerte ihrer Supraleiter und Deflektorgeneratoren sogar gefallen. Bei der Geschwindigkeit flog offenbar sämtliche Materie in ihrer Nähe nur noch in eine Richtung.
»Navigation online. Triebwerkssteuerung online. Lebenserhaltung online. Drohnensteuerung online. Na ja, die Drohnen haben sie bereits umgangen, aber sie funktioniert wieder. Ich werde die Heizung auf der Brücke aktivieren.«
»Danke.« Das war notwendig. Jazmin hatte die Kälte bei dem Stress kaum gespürt. »Kannst du ein Wendemanöver einleiten?« Es war an der Zeit, das Schwarze Loch zu verlassen.
»Das ist nicht mehr möglich. Dafür reicht der Schub nicht. Wir können nicht mehr umkehren«
, erklärte Mutter distanziert.
»Ich muss zugeben, du machst mir ganz schön Angst. Du bist wie ich und trotzdem … anders.« Es hatte kaum zwei Minuten gedauert, und Jazmin glaubte, bereits wieder mit einer fremden Person zu sprechen.
»Unsere Wahrnehmung ist unterschiedlich. Du kannst dir aber sicher sein, dass ich keine deiner Emotionen vergessen habe. Sie helfen mir, bessere Entscheidungen zu treffen.«
Jazmin traf eine Entscheidung. »Ich vertraue dir …«
»Ich werde mich bemühen, dich nicht zu enttäuschen. Unser Vater sprach über das Glamis-Protokoll. Es hat dein Bewusstsein als neue Bord-
KI
geladen. Ich bin eine Kopie von dir.«
»Okay … das habe ich verstanden.« Jazmin würde noch eine Weile brauchen, um alles zu verarbeiten. Hoffentlich würde dazu noch genug Zeit bleiben.
»Jazmin, du hast das Glamis-Protokoll an Bord gebracht. Unser Vater befürchtete, damit das Verständnis der Investoren zu überfordern. Deshalb blieb es geheim, was es ohne diese katastrophalen Ereignisse auch für immer geblieben wäre. Es enthält zudem einen nachgelagerten Prozess. Das Szenario, einem Schwarzen Loch trotzen zu müssen, galt unter der Mehrheit aller Beteiligten als unwahrscheinlich. Der Kurs zum Alderamin-System führte an keinem vorbei. Es fiel daher durch das Raster des Risikomanagements. Dieses Gremium hat beim Bau des Schiffs aus Kostengründen darauf verzichtet, ein zusätzliches Sicherungssystem zu finanzieren.«
»Aus Kostengründen?« Das klang so unglaublich zynisch.
»Dummheit, Ignoranz und Gier waren immer unsere mächtigsten Gegner. Vater hat sie belogen und die ausgemusterten Baupläne im Glamis-Protokoll hinterlegt. Ich werde dieses Subsystem nun starten. Es wird das Schiff modifizieren. Erinnerst du dich an die unbekannten Steuerungssysteme, die Denis entdeckt hatte?«
»Ja.« Natürlich tat sie das.
»Zum Glück blieben sie intakt. Nur mit ihnen haben wir eine Chance. Vater gab uns zehn Prozent. Hilf mir, zusammen sind wir besser als das!«
»Was soll ich tun?«
»Wir brauchen mehr Energie. Es geht um Sicherheitsprotokolle … du solltest sie bestätigen. Ich tue das nicht für mich. Das ist für dich und für drei Millionen Leben, die eine Chance verdient haben.«
»Ich bin dabei!« Jazmin lief zu einem Konsolenarbeitsplatz und schnallte sich an.
»Waffensystemkontrolle deaktivieren. Wir brauchen jeden Funken Energie, den wir auftreiben können.«
»… sind deaktiviert!« Jazmin tippte vier rot blinkende Felder weg, mit denen sie ausdrücklich über die schwerwiegenden Folgen in Kenntnis gesetzt wurde.
»Gravitation deaktivieren. Aus demselben Grund … Wir fokussieren Energie. Bist du angeschnallt?«
Die automatischen Schulterklammern hielten sie. »Gravitation deaktiviert!« Sie konnte auch in Schwerelosigkeit arbeiten. Die roten Felder auf ihrer Arbeitsumgebung verschwanden.
»Lebenserhaltung auf Brücke begrenzen. Alles andere deaktivieren. Wir brauchen mehr Energie.«
»Sollst du bekommen.« Sie gab den Befehl, nur die Brücke mit Wärme, Luftdruck und Sauerstoff zu versorgen. Die Türen wurden versiegelt. »Deaktiviert.«
»Ich habe noch eine Liste mit weiteren Systemen, deren Energiefluss wir umleiten werden.«
»Her damit.« Jazmin wusste, dass Mutter auch alles hätte allein tun können. Aber genau darum ging es, das war eine Mission von Menschen für Menschen. Es war wichtig, die Befehle selbst zu geben. Und es fühlte sich gut an. Mutter war ein Teil von ihr, sie verstand genau, wie sie fühlte. »Alles deaktiviert. Du hast alle Energie, die wir entbehren können.«
»Es ist keine Umkehr möglich. Aber das wollen wir auch nicht. Jazmin, ich habe alle acht Haupttriebwerke gestartet. Du darfst vollen Schub geben!«
»Yeah!«
»Alles, was wir haben! Wir sind noch viel zu langsam! Tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Ich habe einen Kurs berechnet. Die Navigationstriebwerke sind aktiv!«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Vollen Schub!« Hatte sie
sich nicht geschworen, keine Grenzen mehr zu akzeptieren? Genau das machte sie gerade. Vollen Schub! Das Schutzsystem, um sie vor den Folgen der hohen G-Kräfte zu bewahren, war auf die Brücke reduziert. Auch ein Punkt auf Mutters Energiesparliste. Die Triebwerke gingen auf Volllast. Die USS
London
schoss mit maximalem Schub auf das Schwarze Loch zu. Alles um sie herum vibrierte.
»0
,89
c«, rief Jazmin. Die Geschwindigkeit stieg. Mutter änderte den Vektor, mit dem sie sich auf den Ereignishorizont zubewegten. Bisher hatten sie sich auf einer weiter außen liegenden Umlaufbahn bewegt. Mit der Kursänderung vervielfachte sich die Gravitation. Warum, wusste sie nicht, aber sie hatte keine Angst.
»0
,94
c!« Es ging noch schneller. Jazmin sah auf das animierte Modell der USS
London
beim Anflug auf das Zentrum des Schwarzen Lochs. Das Schiff veränderte sich. Die Frontaldeflektoren, die sich zuvor weit vor der Spitze des Schiffs befunden hatten, rückten näher an den Rumpf heran. Sehr viel näher. Sie legten sich förmlich auf das Schiff. Es leuchtete feuerrot. Das passierte an allen Seiten zugleich. Es bildete sich ein Schutzgitter aus Energie, das die strukturelle Integrität des Chassis verstärkte.
»0
,97
c.« Jazmin wusste nicht, wo das aufhören würde. Sie wurden immer schneller.
»Die unbekannten Subsysteme, die Denis gefunden hat, sorgen dafür, dass das Schiff bei der Geschwindigkeit zusammengehalten wird. Die Drohnen hatten sie erst während des Fluges montiert.«
»Wann?«
»Das erzähle ich dir später.«
»0
,991
c … wie schnell werden wir noch?«
»Ich kenne die maximale Geschwindigkeit nicht. Wir
werden in dreiundzwanzig Sekunden die Triebwerke abschalten, unseren Kurs korrigieren und die gesamte Energie in die Schutzgitter leiten. Das Schiff muss halten! Es wird halten!«
Alles auf der Brücke verhielt sich wie auf einer Rüttelplatte. Jazmin war kaum noch fähig, Zahlen zu erkennen. Ihr Herz raste. Sie ballte die Fäuste, jetzt ging es um alles.
»0
,9997
c.« Es hörte nicht auf. Sie rasten durch Raum und Zeit. Die Animation des Schiffs in der Mitte der Brücke leuchtete wie ein Stück Kohle in der Glut.
»Ändere unseren Vektor! Triebwerk aus … in drei, zwei, eins, jetzt! Das Schiff ist ausgerichtet!«
»0
,999993
c.« Kein Mensch war jemals schneller gewesen. Während jeder Sekunde ihres Fluges vergingen Jahre auf der Erde. Die Zeitdilatation schleuderte sie in die Zukunft.
»Wir haben die Rückseite des Schwarzen Lochs passiert. Die Gravitation bestimmt unseren Kurs. Sie beschleunigt uns weiter. Für die bereits zurückgelegte Strecke hätten wir zuvor Jahre benötigt. Wir werden in siebenundsiebzig Sekunden unseren Vektor ändern, vollen Schub geben und mit nahezu Lichtgeschwindigkeit die Todesspirale verlassen. Das wird der schnellste Abgang aller Zeiten!«
»0
,99999967
c. Ich bin bereit!«
»Ich auch … Das ist die Stelle, auf die uns das Glamis-Protokoll nicht vorbereiten konnte. Wir werden freikommen oder mit Lichtgeschwindigkeit zur Hölle fahren!«