C ooper kehrte in sein Zimmer zurück, aber er konnte nicht schlafen.
Omar Abdel Aziz .
Der bloße Name weckte Erinnerungen.
Zwei Jahre zuvor war Cooper getarnt als Nachwuchsdiplomat im Büro des Handelsattachés der britischen Botschaft in Riad stationiert gewesen. Er hatte seine Zeit damit verbracht, britische Unternehmen durch die saudische Bürokratie zu lotsen und Delegationen von Geschäftsleuten bei ihren Besuchen im Königreich zu betreuen. Seine Abende hatte er auf Diplomatenpartys und Empfängen zugebracht. Er hatte gelernt, Smalltalk über die Stärken der britischen Autoindustrie und die Vorteile beim Kauf britischer Pharmaerzeugnisse zu betreiben. Er war einer von vielen jungen, fleißigen Diplomaten, die eine Karriere im Außenministerium Ihrer Majestät anstrebten.
Seine eigentliche Arbeit hatte begonnen, wenn die offiziellen Aufgaben erledigt waren. Es war ein strapaziöses Programm, bei dem Cooper sein Apartment im Diplomatenviertel nach Einbruch der Dunkelheit verließ, sich an den Wachposten vorbeischlich und sich durch einen langen Dauerlauf vergewisserte, dass niemand ihm folgte, bevor er sich mit den saudischen Agenten traf, die er führte. Sie kamen auf Parkplätzen oder in Haltebuchten zusammen, und in hastigen Unterredungen lieferten die Agenten ihm die Informationen, die sie seit dem letzten Meeting gesammelt hatten. Einige arbeiteten im Ölbusiness, andere stammten aus gut vernetzten Familien. Ein älterer Mann war ein unbedeutendes Mitglied der saudischen Königsfamilie, das einen Groll hegte, weil es von seinen erfolgreicheren Brüdern ausgebootet worden war. Cooper kehrte von diesen Treffen erschöpft, aber beschwingt zurück und schrieb noch eine Stunde lang Berichte, die verschlüsselt an die Zentrale des MI6 nach Vauxhall geschickt wurden. Schlaf war eine Rarität; manchmal hatte er nur eine oder zwei Stunden Zeit, bevor alles wieder von vorne anfing.
Saudi-Arabien war ein faszinierendes und frustrierendes Land für einen Spion. Faszinierend, weil das Königreich ein so wichtiger regionaler Player war, in dem Individuen und Interessengruppen offen und versteckt miteinander darin wetteiferten, andere Länder zu destabilisieren, vor allem durch die Unterstützung sunnitischer Terroristen. Frustrierend war es, weil die Kultur für Ausländer bekanntermaßen undurchdringlich und empfindlich gegen Einmischungen von außen war. Aufdecken konnte man ihre Geheimnisse nur mithilfe von gut platzierten, erfindungsreichen und mutigen — oder habgierigen — Einheimischen, die bereit waren, für den MI6 zu arbeiten.
Cooper hatte eine Liste von einem halben Dutzend Agenten, und keiner davon war mutiger als Habib. Er war ein junger Saudi, Mitte zwanzig, der das Baugeschäft seiner Familie mit soliden Regierungskontakten erben würde. Cooper hatte ihn kennengelernt, als Habib in London lebte und dort »den letzten Atemzug in Freiheit« genoss, bevor er nach Riad zurückkehrte, um zu heiraten, viele Kinder zu bekommen und das Geschäft zu übernehmen.
Wie so viele Rekrutierungen hatte es als Freundschaft angefangen. Cooper hatte eine Akte über Habib bekommen und gesehen, dass er dynamisch, gut vernetzt und möglicherweise von seiner Regierung enttäuscht war, da seine Mutter dafür bestraft worden war, dass sie versucht hatte, sich von ihrem Mann unabhängig zu machen. Cooper organisierte ein Treffen, und die beiden Männer verstanden sich sofort miteinander. Cooper ging mit dem jungen Mann in einige der besten Clubs der Stadt — Bouji’s, Raffles, Annabelle’s — und beschaffte exklusive Tickets für ausverkaufte Konzerte, für die gute Beziehungen notwendig waren. Sie verbrachten viele Stunden miteinander und tranken Treasure-Chest-Cocktails im Mahiki und Jahrgangschampagner bei den Meisterschaftsspielen in Wembley. Cooper dirigierte das alles mit leichter Hand und brachte ihre Gespräche irgendwann auf politische Themen. Er wusste, Habib hatte eine reformerische Ader, und er baute ein so großes Vertrauen zwischen ihm und dem Saudi auf, dass der junge Mann keine Angst hatte, darüber zu sprechen.
Was in der Akte gestanden hatte, stimmte: Angefangen hatte alles mit dem, was seiner Mutter widerfahren war. Er wollte weniger Macht für die Geistlichkeit und ein reformiertes Land, das die Frauen respektierte. Cooper wählte den Augenblick, seine Tarnung fallen zu lassen, mit großem Geschick; Habib hatte so viel von sich selbst offenbart, dass er sicher war, die Antwort auf die Eine-Million-Pfund-Frage — willst du für mich arbeiten? — würde positiv ausfallen, und er hatte recht. Habib ergriff die Gelegenheit beim Schopf.
Als Agent war er unglaublich produktiv gewesen und hatte einen ganzen Strom von hochgradig brauchbaren Berichten geliefert, die Coopers Vorgesetzte in London aufmerksam gemacht hatten. Noch nie hatten sie einen Agenten von so unverbrauchtem Talent und diesem natürlichen Zugang zu den Korridoren der Macht gehabt. Die Informationen, die er schickte, erlaubten der Regierung, in Verhandlungen die Oberhand zu gewinnen und vorauszusehen, welche Position Partner einnehmen würden, die normalerweise kaum berechenbar waren.
Es hatte ausgesehen, als werde diese goldene Zusammenarbeit immer so weitergehen, bis sie eines Tages ohne Erklärung aufhörte.
Cooper fuhr zu einem Treffen mit Habib zu ihrem Treffpunkt an einer Wüstenstraße außerhalb der Stadt. Dort wartete er drei Stunden, fast bis zum Sonnenaufgang, der die Wüste rosarot leuchten ließ, aber Habib kam nicht. Habib hatte noch nie eine Verabredung versäumt — er war nicht einmal zu spät gekommen —, und Cooper wusste, dass etwas nicht stimmte. Es dauerte einen Monat, bis die Wahrheit ans Licht kam. Die NSA berichtete von einem Gespräch zwischen zwei saudischen Geheimdienstoffizieren, die über Habibs Schicksal gesprochen hatten: Er war wegen Spionage verhaftet und in ein Gefängnis für Staatsfeinde gebracht worden. Der Mann, der gegen Habib ermittelt und ihn festgenommen hatte, hieß Omar Abdel Aziz.
Cooper brütete über den Einzelheiten ihrer letzten beiden Begegnungen, denn er befürchtete, er könne den Fehler begangen haben, der Habib die Freiheit gekostet hatte. Er fühlte sich persönlich für Unversehrtheit und Sicherheit seines Informanten verantwortlich und war krank vor Sorge, ein Fehltritt auf seiner Seite könnte zu der Verhaftung geführt haben. Der zweite NSA-Bericht offenbarte, was tatsächlich geschehen war: Der Muchabarat war in Coopers Apartment eingedrungen und hatte die Verschlüsselungstechniken, mit denen er seine Berichte verfasst hatte, an sich gebracht. Von diesem Augenblick an hatten sie alles lesen und Habib identifizieren können. Es hatte interne Ermittlungen zu diesem Einbruch gegeben, die zu dem Ergebnis gekommen waren, dass die Schuld für diese Schlappe bei der Security der Botschaft gelegen hatte, nicht bei Cooper.
Aber Cooper akzeptierte diese Absolution nicht. Er machte sich Vorwürfe. Er hätte besser aufpassen müssen. Er hätte bemerken müssen, dass jemand eingebrochen war.
Für Habib waren solche Schuldzuweisungen natürlich bedeutungslos. Sein Schicksal war in dem Augenblick besiegelt gewesen, als man die Berichte gelesen hatte, und wenige Wochen später wurde dies bestätigt. Ein Gerichtsverfahren hatte es nicht gegeben, und es würde auch keins geben. Der Mann, der ihn gefasst hatte — Aziz —, war auch für seine Vernehmung zuständig gewesen. Habib war einen Monat lang misshandelt worden, bis er jedes Fetzchen Informationen über die Briten herausgerückt hatte, das er in Erinnerung hatte. Er gab alles preis: Wie er rekrutiert worden war, welche Informationen er geliefert hatte, welcher Agent ihn geführt hatte. Cooper wusste, dass Habib Widerstand geleistet hatte, aber dieser Widerstand würde eine nutzlose Geste gewesen sein. Biologie war Biologie, und am Ende brach jeder zusammen. Aziz musste gewusst haben, dass Habib ihm alles gesagt hatte, aber er hatte nicht aufgehört. Die Folter ging weiter, bis Habibs Körper nichts mehr ertragen konnte. Er starb und wurde in einem anonymen Grab vor der Gefängnismauer verscharrt.
Cooper hätte all das aus verschiedenen Informationsquellen in Erfahrung bringen können, aber das brauchte er nicht. Ein Video war in die Botschaft geliefert worden, und es zeigte die letzten Augenblicke von Habibs Leben. Aziz hatte nicht versucht, seine Identität zu verbergen; sie brauchten nur ein paar Tage, um ihn zu identifizieren. Cooper wusste, warum das Video geschickt worden war: Der Muchabarat war nicht erfreut darüber, dass man sie zum Narren gemacht hatte, und sie hatten Habib ermordet, um zu demonstrieren, was sie mit jemandem taten, den sie als Verräter betrachteten.
Cooper hatte sich Aziz vornehmen wollen, aber das hatte man ihm verboten. Die Saat seiner Desillusionierung war gesät, und als Control ihn beiseitegenommen und gefragt hatte, ob er bei einem Dienst arbeiten wolle, der — wie er sich ausdrückte — »bis an die Ellenbogen im Blut steckte«, hatte Cooper ja gesagt, ohne lange darüber nachzudenken.
Habibs Familie hatte ihren Sohn verloren und nicht einmal seinen Leichnam begraben können. Cooper hatte ihren Schmerz von ferne gesehen und sich geschworen, sollte Aziz ihm noch einmal über den Weg laufen, würde er in ihrem Namen Rache üben für das, was der Mann ihnen angetan hatte. Seitdem hatte Cooper im Namen seines Landes fünf Gauner, Ganoven und Gorillas getötet, und bei jedem hatte der Gedanke an Habib für Cooper im Vordergrund gestanden. Er konnte seinen Fehler nicht korrigieren und den jungen Mann zurückbringen, aber er würde Buße tun mit jedem Auftrag, den man ihm gab, und mit jedem Mann und jeder Frau, die er eliminierte.
Und jeder Mann erinnerte ihn an Aziz.
Und jetzt war Aziz hier.
Deshalb konnte Cooper nicht schlafen.