Vier Stunden später schwirrte Theda der Kopf von all den Informationen, mit denen Clara sie überhäuft hatte. Zu allem Überfluss hatte Clara auch noch darauf bestanden, dass Theda sich Notizen machte. Eine gute Idee, wie Theda zugeben musste. Also war sie wie eine übereifrige Chefsekretärin aus einem Fünfzigerjahre-Film neben Clara hergetrabt und hatte in ihr eigentlich als Reisetagebuch vorgesehenes Heft gekritzelt. Wann sie die Strandkorbvermietung öffnen und schließen sollte, wo sie die Reservierungslisten fand und was es sonst noch Wichtiges zu beachten galt. Insgeheim hatte Theda eine ledergebundene Kladde mit handgeschriebenen Reservierungen erwartet, doch Clara war up to date. Die komplette Organisation der Vermietung lief über ein Buchungssystem auf ihrem Laptop, den sie Theda notgedrungen überlassen hatte.
»Pass bloß auf, dass da kein Sand reinkommt«, hatte sie Theda mehrmals eingeschärft und sich im gleichen Atemzug für ihre Hilfe bedankt.
Nun stand Theda ein wenig verloren am Bahnhof und schaute dem abfahrenden Zug nach, der Clara zum Anleger brachte. Zu Thedas grenzenloser Erleichterung hatte Clara zu ihrem alten fokussierten Selbst zurückgefunden, sobald ihr klar geworden war, dass sie Sybille bald höchstpersönlich zur Seite stehen konnte. Glücklich darüber, machte sie sich auf den Weg zum Strand. Zu ihrem neuen Job. Jetzt, am frühen Abend, lohnte es sich nicht mehr, Claras Strandbude aufzuschließen, doch Theda wollte sich zumindest einen kurzen Überblick verschaffen.
Sie zweifelte nicht daran, die Aufgabe bewältigen zu können. Trotzdem klopfte ihr Herz, als sie die Promenade erreichte. Die weißen Strandkörbe lagen in den letzten faserigen Resten des Nebels verborgen. Das mäßige Wetter hinderte die Inselgäste jedoch nicht daran, den Strand zu besuchen. Sie stapften tapfer durch den Sand, flanierten mit Eishörnchen auf der diesigen Promenade, und tatsächlich standen noch ein paar Leute vor Claras Strandbude und studierten das handgeschriebene Schild an der Tür: Komme gleich wieder!
Flüchtig fragte sich Theda, ob sie sich mit einem Strohhut hätte ausstaffieren sollen. Das wäre für den Anfang ein wenig zu viel des Guten gewesen, oder? So begrüßte sie die Gäste herzlich ohne Hut und stellte sich als Claras Vertreterin vor. Die Wartenden, offenbar Stammgäste, brachen in enttäuschtes Ohh und Ahh aus und baten Theda, Clara liebe Grüße auszurichten.
Theda schloss die Strandbude auf. Es gelang ihr, den Laptop hochzufahren und die passenden Ordner für die Reservierungen zu finden. Es gab Kunden, die immer denselben Korb mieteten, der dann auch am selben Platz am Strand zu stehen hatte. Nun ja, darüber erlaubte sich Theda kein Urteil. Sollte jeder urlauben, wie er wollte.
Allzu viel blieb von ihrem ersten Arbeitstag nicht mehr übrig. In einer Stunde, um achtzehn Uhr, würde Theda die Bude schließen. Danach wollte sie sich auch einen schönen Korb aussuchen und bis zum Sonnenuntergang ein wenig lesen oder die Leute beobachten.
»Wie teuer ist denn so ein Ding?«, schnarrte eine ihr bekannt vorkommende Stimme. Der grantelnde Herr vom Bahnhof stand vor der Bude, die Miene genauso grimmig wie bei seiner Ankunft auf der Insel. Auch den Anzug trug er noch und wirkte hier an der Strandpromenade deplatzierter als zuvor.
Freundlich nannte Theda ihm den Preis für eine Woche.
»So lange werde ich hier wohl kaum bleiben«, brummelte der Herr. »Das sind Wucherpreise. Diese albernen Körbe sind sicher nicht mal bequem.«
»Wenn Sie möchten, können Sie gerne probesitzen«, schlug Theda vor. »Natürlich können Sie sich auch so am Strand aufhalten ...«
»Das wäre ja wohl noch schöner!«
»... so ein Strandkorb bietet allerdings einen guten Wind- und Sonnenschutz.«
»Und vor diesem verdammten Nebel schützt der wohl auch, was? Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen.«
Bei dieser altmodischen Redewendung konnte Theda ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Machen Sie sich etwa lustig über mich, Fräulein?«, fuhr der Herr sie an.
Theda hatte lange genug in Buchläden gearbeitet, um sich von Kunden wie ihm nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Im Gegenteil schlug sie ihm erneut mit ausgesuchter Höflichkeit vor, sich gerne mal ein paar Strandkörbe aus der Nähe anzusehen.
Mit mürrisch verzogenem Mund musterte der Mann seine blank gewienerten Schuhe. »Da werden ja meine Schuhe dreckig.«
Nun ja, ein Sandstrand brachte es mit sich, sandig zu sein. Theda verzichtete darauf, den Herrn auf diese offensichtliche Tatsache hinzuweisen. »Sie können die Schuhe ausziehen«, schlug sie stattdessen vor.
Der Herr starrte sie an, als hätte sie ihm ein unsittliches Angebot gemacht. »Es kann doch wohl niemand von mir verlangen, hier barfuß herumzulaufen.«
»Wie Sie wollen.«
Allmählich begann Theda, an einen Scherz zu glauben. War dieser Herr womöglich ein Comedian und agierte mit versteckter Kamera?
»Na schön, ich überlege es mir«, sagte er mürrisch, wandte sich ab und marschierte im Stechschritt davon. Sprachlos sah Theda ihm nach. Wieso er wohl ausgerechnet hier Urlaub machte? Oder war es gar kein Freizeitvergnügen, das ihn auf die Insel verschlagen hatte? Doch was konnte er sonst hier wollen?
Viel Zeit zum Ersinnen weiterer Szenarien blieb Theda nicht. In der letzten halben Stunde kamen noch einige Inselgäste an Claras Bude, um sich schnell vor dem Abendessen einen Strandkorb für den Sonnenuntergang zu sichern. Theda stellte Quittungen aus, öffnete Strandkörbe und trug alles akribisch in Claras Tabellen ein. Ein paar Strandbesucher erkundigten sich besorgt nach Clara. Theda konnte sie beruhigen und versicherte ihnen, alles zu tun, um Clara würdig zu vertreten.
Kurz nach achtzehn Uhr schloss Theda die Holzbude ab. Da es kühl geworden war und sie keine Jacke dabei hatte, verzichtete sie auf die Strandkorbpause und machte sich gleich auf den Weg zu Claras Häuschen. Dort angekommen wirkten die gemütlich eingerichteten Zimmer leer und leblos. Clara fehlte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie keine Zeit gehabt, um sich über etwas anderes Gedanken zu machen als ihre neue Aufgabe. Doch nun stieg Enttäuschung in ihr auf. Sie hatte sich auf die Tage mit Clara gefreut, auf gemeinsames Kochen, Teestunden im Garten, gute Gespräche. Stattdessen saß sie nun alleine da.
Eine WhatsApp von Clara ließ ihr Smartphone bimmeln:
Sofort fühlte sich Theda besser. Sie hatte das Richtige getan und würde nun das Beste aus der Situation machen. Der Verweis auf das Schicksal, den sie verwendet hatte, um Clara zu überreden, war für sie mehr als eine Floskel. Sie glaubte daran, dass alles im Leben einen Grund hatte, auch, wenn man ihn nicht gleich erkannte.
Und so verwarf sie die Überlegung, sich in ein überfülltes Restaurant zu begeben, und genoss eine Tasse Ostfriesentee im Garten. Sie ließ den erlebnisreichen Tag Revue passieren, dachte an Anna und den grantigen Herrn, freute sich auf den kommenden Tag am Meer und kam allmählich zur Ruhe. Nach einem leichten Abendessen, für das sie sich an Claras Kühlschrank bediente, trug sie ihren Koffer hoch ins Gästezimmer im ersten Stock.
Auch wenn Clara erst am nächsten Tag mit ihrer Ankunft gerechnet hatte, war das Zimmer bereits liebevoll hergerichtet. Auf der Kommode stand eine kleine Vase mit einem Dünenröschen. Der Duft erinnerte Theda an ihre Kindheit. Für sie war es immer etwas Besonderes gewesen, im Urlaub Zeit mit ihrer Tante Clara verbringen zu dürfen. Trotz der zwanzig Jahre Altersunterschied hatte Theda sie damals eher als die Freundin gesehen, die sie sich immer gewünscht hatte. Und Clara war nie genervt von der anhänglichen Kleinen gewesen oder hatte es zumindest nie gezeigt.
Theda öffnete das Fenster mit Blick über die Dünen weit und sog die frische, vom Nebel feuchte Meeresbrise in die Nase. Herrlich! Hier brauchte sie sich wegen ihres Heuschnupfens keine Sorgen zu machen. Sie konnte schon viel freier durchatmen.
Mit der Gewissheit, gut schlafen zu können, legte sie sich in das bequeme Gästebett.
Es gab für Theda kaum etwas Schöneres als einen Morgenspaziergang am Strand. Die ersten Sonnenstrahlen hatten sie aus dem Bett gelockt, und ein Blick aus dem Fenster bestätigte, dass sich der Nebel verzogen hatte. So ging sie noch vor dem Frühstück zum Strand und genoss den Luxus, ihn für sich zu haben. Nun ja, bis auf ein paar Hundebesitzer, die ihre Lieblinge auf der ersten Gassirunde des Tages begleiteten, und einen Jogger, der an der Wasserkante entlangtrabte.
Barfuß schlenderte Theda am Wasser entlang, die Schuhe trug sie an den zusammengeknoteten Schnürsenkeln in der Hand. Zum Glück hatte sie an ihre Sonnenbrille gedacht, denn die Kombination heller Sand und Morgensonne hätte ohne ganz schön geblendet. Trotz Brille musste sie auf dem Weg zurück zur Promenade blinzeln, so stark reflektierte das Licht auf den weißen Strandkörben. Eine Elster hüpfte zwischen ihnen umher, floh flatternd vor einer Dohle, die ihr Revier verteidigte. Neugierig darauf, wie dieser Kampf ausgehen mochte, blieb Theda stehen. Doch Dohle und Elster kamen zu einer friedlichen Einigung und zogen jede ihrer Wege, die Dohle Richtung Strand und die Elster trippelte auf Theda zu. Mit schräg gelegtem Kopf musterte sie Thedas bloße Füße. Ob ihr der türkisfarbene Nagellack gefiel?
Theda bewunderte ihrerseits das glänzende schwarz-weiße Gefieder. Dabei fiel ihr auf, dass der Vogel etwas im Schnabel trug, einen silbernen, in der Sonne aufblitzenden kleinen Gegenstand. Doch bevor sie erkennen konnte, worum es sich dabei handelte, hopste die Elster ein paar Schritte weiter und breitete die Flügel aus. Theda sah ihr nach, wie sie über die Strandkörbe davonsegelte. Wie nett wäre es, sich für eine Weile in einen der Körbe zu setzen und nichts weiter zu tun, als auf das Meer zu schauen.
Warum eigentlich nicht? Bis zur Öffnung der Vermietung hatte Theda noch zwei Stunden Zeit. Genug für eine Pause und sogar noch ein ausgiebiges anschließendes Frühstück in Claras Garten. Sie hielt Ausschau nach einem passenden leeren Strandkorb. Die meisten Gäste verzichteten darauf, die Holzgitter abends einzusetzen, daher gab es genug Auswahl und ...
Theda stutzte.
In einem der Körbe saß tatsächlich schon jemand. Wohl auch ein Frühaufsteher, der die ruhige Zeit am Morgen genießen wollte?
Zwar hatte Theda nicht vor, die Person zu stören, aber einen kleinen Blick wollte sie doch auf sie werfen. Schließlich besetzte sie einen von Claras Strandkörben. Nicht, dass Theda vorhatte, jemanden zu vertreiben oder auf sofortiger Zahlung zu bestehen. Das hätte absolut nicht Claras Geschäftsethos entsprochen. Sie hatte nichts dagegen, wenn sich ab und zu jemand für ein paar Minuten in einem der Strandkörbe niederließ, ohne ihn gleich zu mieten, und Theda würde es ebenso halten.
Müßig schlenderte sie durch den Sand und schielte unauffällig zu dem besetzten Strandkorb. Nanu! Den Herrn, der darin saß, kannte sie doch. Der Anzug war auffällig genug. Es war der Querulant. Offenbar hatte er sich dazu durchgerungen, am allzu sandigen Strand seine Schuhe dreckig zu machen.
»Guten Morgen«, rief Theda. Das konnte sie sich nicht verkneifen.
Keine Antwort.
Eine höfliche Replik hatte Theda ohnehin nicht erwartet, doch dass der Herr sich so gar nicht regte, war merkwürdig. Thedas Nackenhaar stellten sich kribbelnd auf. Da stimmte etwas nicht!
Sie beschleunigte ihre Schritte, kämpfte sich durch den weichen, tiefen Sand. Je näher sie dem Korb kam, desto mulmiger war ihr zumute. Und dann sah sie das verzerrte Gesicht des Mannes, die verkrampfte Haltung. Sie rannte. Doch am Strandkorb angekommen war ihr sofort klar, dass sie nichts mehr tun konnte. Die weit offenen Augen starrten ins Leere, das Kinn war dem Mann auf die Brust gesunken.
Der Querulant war eindeutig tot.