Kapitel 10

Thedas Herz klopfte so laut, dass sie schon fürchtete, Hinnerk könnte es hören. Sie beobachtete das dunkle Fenster, aber nach dem kurzen Lichtreflex war nun nichts mehr zu sehen. Der klagende Ruf eines Käuzchens ließ sie zusammenzucken. Sie versuchte ihr whiskeygeschwängertes Hirn zu beruhigen und ihren Humor wiederzufinden.

»Ach, du meinst, nur der Täter hätte einen Grund, das Zimmer zu durchsuchen? Was ist denn mit neugierigen Autoren, die nachts auf dumme Ideen kommen?« Das konnte sie sich nicht verkneifen.

Hinnerk schnaubte amüsiert. »Ganz genau. Und da einer dieser neugierigen Autoren hier neben dir steht und es auf der Insel nicht so viele von der Sorte gibt, kann es sich bei dem Einbrecher nur um den Mörder handeln!«

Er schien wieder wie selbstverständlich davon auszugehen, dass Gutbrodt tatsächlich umgebracht worden war.

»Dann müssen wir die Polizei rufen!«, flüsterte Theda und tastete nach ihrem Handy.

»Das dauert viel zu lange. Bis dahin könnte der Einbrecher über alle Berge ... oder vielmehr, Dünen, sein. Ich werde nachsehen, wer dort oben herumschleicht.«

»Wie denn? Hast du Teleskopaugen?« Theda stellte sich vor, wie aus Hinnerks Kopf schneckenartige Stielaugen herauswuchsen und sich gen Fenster streckten. Ein albernes Kichern stieg in ihrer Kehle auf. Den dritten Whisky hätte sie sich wirklich sparen sollen.

»Nein, aber ich kann gut klettern.« In der Dunkelheit blitzten seine Zähne auf, als er grinste. »Hab mal für einen Roman recherchiert und war eine Zeit lang Dauergast in der Kletterhalle.«

Theda versuchte, trotz der schlechten Lichtverhältnisse eine Bestandsaufnahme von Hinnerks Klettertauglichkeit zu machen, indem sie seinen Körper einer ausgiebigen Musterung unterzog. Sie hatte ihn morgens joggen sehen, und er machte trotz seines Alters einen fitten Eindruck. Durchtrainiert, groß, breite Schultern – nicht schlecht, aber ein Strandlauf war etwas anderes als eine Klettertour und Hinnerk schließlich keine zwanzig mehr. Das wollte sie ihm nun auch nicht so direkt sagen, also wich sie diplomatisch aus.

»Eine Hauswand ist keine Kletterwand in einer Halle!«

»Stimmt, die ist viel einfacher zu erklimmen. Sieht du, da ist ein Rosenspalier unter dem Fenster. Das ist fast wie eine Leiter. Da bin ich schnell oben und kann einen Blick in das Zimmer werfen.«

Theda war nicht begeistert von Hinnerks Plan. »Das ist viel zu gefährlich. Wenn das wirklich der Mörder ist, könnte er bewaffnet sein. Oder auf jeden Fall verzweifelt genug, um dich anzugreifen.«

»Der bemerkt mich gar nicht. Du kannst ja schon mal die Polizei rufen.«

»Nein, warte ...« Theda streckte die Hand aus, um Hinnerk zurückzuhalten, doch der huschte bereits durch den Garten, ein Schatten, der sich zwischen den Solarpilzen auf die Hauswand zubewegte. Er wollte nicht ernsthaft ... Mit wachsendem Schrecken beobachtete Theda, wie er probeweise am Rosenspalier rüttelte. Das Ding war mit Sicherheit nicht dafür ausgelegt, das Gewicht eines erwachsenen und – wenn auch schlanken – nicht gerade zierlichen Mannes zu tragen!

»Hinnerk!«, zischte sie und schlich ebenfalls durch den Garten. »Das ist keine gute Idee.«

Leider war der unternehmungslustige Autor schon einen halben Meter an dem Spalier hochgeklettert. Mit einem unguten Gefühl im Magen spähte Theda zum Fenster hoch. Dort war weiterhin alles dunkel. Nun ja, der Einbrecher hätte auch schon taub sein müssen, um nichts zu bemerken, vor allem, da Hinnerk nun anfing, halblaut zu fluchen. Offenbar fiel ihm auf, dass Rosen die unangenehme Eigenschaft aufwiesen, mit Dornen gespickt zu sein. Hin- und hergerissen zwischen Ärger und Sorge zog Theda ihr Handy hervor und wählte die Nummer von Elke Wagner. Sie war froh, dass sie die noch eingespeichert hatte.

Trotz der späten Stunde erklang nach dem zweiten Klingeln eine erstaunlich wache Stimme. »Polizei Wangerooge, Wagner?«

Ein verdächtiges Knirschen und Knarzen des Rosenspaliers ließ Theda zusammenzucken. Hinnerk hatte das Fenster fast erreicht. Er streckte die Hand nach der Fensterbank aus, auf der ein mit Geranien bepflanzter Blumenkasten stand, damit es auch nicht zu einfach wurde. Der Einbrecher hatte diese Hürde entweder mit Bravour genommen ... oder war durch die Vordertür ins Haus gelangt.

»Hier ist jemand in dem Zimmer von Herrn Gutbrodt«, flüsterte Theda. Eigentlich unnötig bei dem Lärm, den Hinnerk veranstaltete. Hinter einem der Erdgeschossfenster wurde es hell. Na großartig, nun hatten sie Brigitte Koch geweckt.

»Frau Köster? Sind Sie das?«, fragte Frau Wagner sachlich.

Peinlich berührt wurde Theda bewusst, dass sie Ihren Namen gar nicht genannt hatte. Frau Wagner hatte ihn natürlich im Display gesehen. »Ja, hier ist Theda Köster. Ich stehe im Garten der Pension.«

»Gut, Frau Köster. Danke für Ihren Anruf. Gehen Sie bitte nach Hause, ich kümmere mich darum.«

Und schon hatte die Polizistin aufgelegt. Vermutlich ein gutes Zeichen, da sie sich bestimmt sofort auf den Weg machen würde. Doch nach Hause gehen wollte Theda auf keinen Fall. Nicht, solange Hinnerk noch an der Wand hing wie ein unbeholfener Spiderman. Theda konnte sich auch nicht erinnern, dass Spiderman in den Filmen jemals so unflätige Ausdrücke verwendet hätte ...

Im Erdgeschoss wurde ein Vorhang aufgezogen. Hinter der spiegelnden Scheibe stand eine geisterhafte Erscheinung in einem wallenden weißen Gewand, das Gesicht bleich und von wirrem Haar umgeben, die Augen weit aufgerissen.

Theda gab einen Schreckenslaut von sich, obwohl sie wusste, dass es sich bei dem Geist nur um Brigitte Koch handeln konnte. Trotzdem war der Anblick ziemlich gruselig. Dass der Geist eine Schrotflinte auf sie gerichtet hielt, machte es auch nicht besser.

»Was wollen Sie?«, erklang eine dünne Stimme durch das geschlossene Fenster. »Gehen Sie weg oder ich rufe die Polizei!«

Theda wollte erwidern, dass sie das bereits erledigt hatte, doch da knallte es dicht neben ihr. Sie sprang zur Seite. Der Geranientopf war zielsicher auf einen der Solarpilze gefallen und lag in einem Meer aus Tonscherben und Glas sowie Erde und Blumenresten. Hinnerk hing über ihr am Fensterbrett, suchte mit strampelnden Beinen nach Halt an dem Spalier. Ein Fensterflügel stand offen, und eine dunkle Gestalt beugte sich aus dem Zimmer nach draußen. Es war tatsächlich ein Einbrecher! Hoffentlich hatte er keine Waffe. Brigitte Koch hatte eine, allerdings war sie gerade auf Theda konzentriert und schien den Einbrecher nicht zu bemerken. Das gesamte Erdgeschoss war mittlerweile hell erleuchtet, und wenn der Einbrecher wenigstens unerkannt bleiben wollte, konnte er durch das Haus nicht sicher entkommen.

Ihm blieb nur der Weg aus dem Fenster.

Und an dem hing Hinnerk. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Entsetzt musste Theda mit ansehen, wie der Einbrecher einen Gegenstand auf Hinnerks Finger niedersausen ließ. Sah aus wie ein ... Fuchs.

Natürlich. Einbrecher hatten als Werkzeug der Wahl immer einen Fuchs dabei, das wusste doch jeder.

»Autsch, du Scheißvieh!«, hörte sie Hinnerk fluchen.

Zum Glück fanden seine Füße und eine Hand wieder Halt am Spalier, und er ließ das Fensterbrett los. Der Einbrecher nutzte die Chance und klettert hinaus, trat nach Hinnerk, der seinerseits nach seinen Knöcheln grabschte und triumphierend rief: »Du entkommst mir nicht, Schurke!«

Das klang eher wie ein Zitat aus einem von Thedas Highlander-Romanen.

Anders als in diesen Werken behielt der Held der Story, für den Hinnerk sich vermutlich hielt, nicht recht. Der Einbrecher wich aus und kletterte am Spalier hinunter. Nicht viel eleganter als Hinnerk bei seinem Aufstieg. Erneut knirschte das Spalier, diesmal folgte dem Geräusch ein quietschendes Knarren, und die obere Hälfte des Gerüstes löste sich wie in Zeitlupe von der Hauswand und kippte nach vorn.

»Hilfe!«, rief Theda und brachte sich in Sicherheit. Vom Rande des Gartens aus beobachtete sie, die Hände vor den Mund geschlagen, wie sich das Spalier mitsamt Rosen, Hinnerk und dem Einbrecher unaufhaltsam auf den Boden zubewegte. Der Einbrecher sprang zuerst ab, landete in der Hocke und rollte sich ab. Dabei trat er gegen den nächsten Solarpilz, der sofort dunkel wurde. Schade, sonst hätte Theda einen Blick auf sein Gesicht erhaschen können. Der Lichtschein aus dem Haus reichte leider nicht aus. So sah sie nur seine breitschultrige Form, die auf die Füße stolperte und davonhinkte, Richtung Straße.

»Spring ab!«, rief sie Hinnerk zu. Sie sah ihn schon unter dem Dornengestrüpp und zerborstenen Brettern begraben, doch im letzten Moment ließ er los, landete auf den Füßen und schaffte noch ein paar ausgreifende Schritte, bevor das Spalier hinter ihm auf die Terrasse krachte und auch den letzten Solarlämpchen den Garaus machte.

Ein Schuss ertönte.

Hinnerk warf sich auf Theda und riss sie mit sich zu Boden. Theda landete auf dem Bauch in einem Blumenbeet, Hinnerk auf ihr. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, sodass sie nicht mal protestieren konnte, geschweige denn atmen.

»Einbrecher!«, schnitt eine schrille Stimme durch die Nacht.

Das würde Ärger geben.

Wenig später saßen Theda und Hinnerk auf dem geblümten Sofa in Brigitte Kochs Wohnzimmer, je einen Becher dampfenden Tee in den Händen.

Ihnen gegenüber thronte die Dame des Hauses höchstpersönlich. Erst auf den unmissverständlichen Befehl von Frau Wagner hin hatte sie aufgehört, Theda und Hinnerk mit der Waffe zu bedrohen und ihnen sogar Tee gekocht. Doch ihr Blick sprach Bände. Sie traute ihnen nicht. Und das vermutlich zurecht.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte Frau Wagner scharf an Hinnerk gerichtet.

Statt sich zu verteidigen, setzte Hinnerk eine zerknirschte Miene auf. »Es tut mir sehr leid. Für das Spalier und die Lampen komme ich natürlich auf.«

»Das will ich auch hoffen«, ließ sich Brigitte Koch vernehmen. »Und für den Fuchs!«

Wie sich herausgestellt hatte, handelte es sich bei dem Fuchs um einen in Thedas Augen fragwürdigen Dekoartikel, der im Gästezimmer ein Regal geschmückt hatte.

»Sie können von Glück sagen, dass ich Sie nicht erschossen habe!«, fuhr Frau Koch fort.

»Dazu komme ich später«, beschied Frau Wagner sie mit einem warnenden Unterton.

»Ich besitze einen Waffenschein!«, erklärte Frau Koch empört. »Und es ist mein gutes Recht, mein Eigentum zu verteidigen!«

»Nein, Frau Koch, das ist es nicht. Das ist Sache der Polizei.«

Frau Koch presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. In ihrem pinken gesteppten Morgenmantel sah sie nicht mehr wie Die Frau in Weiß aus. Eher wie ein lebendig gewordener Kannenwärmer. „Ich habe zunächst nicht bemerkt, dass es der Herr Autor ist“, gab sie ein wenig kleinlauter zu. „Wer rechnet denn auch damit, dass er nachts an meinem Haus herumklettert.“

Nun ja, später musste sie Hinnerk schon erkannt haben, was sie aber nicht davon abgehalten hatte, ihn und Theda weiter mit der Waffe zu bedrohen ...

»Bist du wirklich unverletzt?«, erkundigte sich Frau Wagner nun bei Hinnerk. »Und Sie, Frau Köster?«

Theda nickte, dabei fiel ein Krümel Blumenerde aus ihrem Haar und landete auf dem zerrissenen Saum ihres Kleides. Sie hatte zwar noch keine Gelegenheit gehabt, in einen Spiegel zu schauen, doch wenn sie nur halb so schlimm aussah wie Hinnerk, musste ihr Anblick desaströs sein. Hinnerk stand das Haar nach allen Seiten vom Kopf ab, als hätte er in eine Steckdose gefasst, sein Gesicht war von blutenden Kratzern übersät und seine ehemals helle Kleidung völlig verdreckt. Obwohl er weiterhin sichtlich versuchte reumütig auszusehen, funkelten seine Augen verdächtig vergnügt, und Theda gewann den Eindruck, dass er sich trotz seines Absturzes vom Rosenspalier köstlich amüsierte.

Theda dagegen zitterten vom ausgestandenen Schreck Knie und Hände, sie war froh, dass sie sich an ihrem Teebecher festhalten konnte.

»Habt ihr den Einbrecher geschnappt?«, erkundigte sich Hinnerk dreist und wurde sogleich von Frau Wagner zurechtgewiesen. Höflich, aber bestimmt.

»Hier stelle ich die Fragen.«

Und das tat sie. Nach einer halben Stunde zeigte sie Erbarmen und entließ Theda und Hinnerk mit dem Hinweis, sich am nächsten Morgen, erneut auf der Polizeidienststelle einzufinden und ihre Aussagen dort zu Protokoll zu geben. »Und nun zu Ihnen und Ihrem Waffenschein, Frau Koch«, wandte sie sich an die Pensionswirtin, ihr Gesicht zu einem einschüchternden Lächeln verzogen.

Rasch machten Theda und Hinnerk, dass sie wegkamen.

Draußen atmete Theda tief durch.

»Das war spannend«, sagte Hinnerk und rieb sich die Hände. »Hast du gesehen, wie ich ...«

Wut kochte in Theda hoch. Wie alt war dieser Mann eigentlich? Auf jeden Fall zu alt für solche unvernünftigen Klettertouren! »Ja, ich habe tatsächlich gesehen, wie du dich mit deinem Leichtsinn beinahe umgebracht hättest!«, brach es aus ihr heraus. »Das Genick hättest du dir brechen können!«

Hinnerk duckte den Kopf wie eine Schnecke, die sich erschrocken in ihr Haus zurückzog. Diesmal wirkte seine Reue nicht nur gespielt. Im Licht der hellen Lampe über der Haustür sah Theda deutlich den Ausdruck von Scham und Sorge in seinem Blick. »Es war nicht sehr hoch«, sagte er lahm und fügte gleich hinzu, als er wohl Thedas Zorn bemerkte: »Aber du hast natürlich völlig recht. Das war äußerst leichtsinnig und gedankenlos von mir. Außerdem habe ich auch dich in Gefahr gebracht, was mir sehr leidtut. Und für dein kaputtes Kleid komme ich natürlich auch auf.«

»Hmpf.« Kaum besänftigt ging Theda los. Hinnerk griff sacht nach ihrem Arm, und sie wollte ihn schon abschütteln, da sagte Hinnerk: »Falsche Richtung. Hier geht’s zum Haus deiner Tante.«

Missmutig stapfte Theda neben ihm her. Ihr war kalt, sie zitterte immer noch und sie hatte genug von dem Mordfall. Sollte sich die Polizei darum kümmern, wie es sich gehörte.

Trotz ihres Tempos hielt Hinnerk mit ihr Schritt. Wohl kein Wunder, wenn er jeden Morgen joggte. »Ich verstehe, dass du sauer bist. Und ich verstehe auch, wenn du von unseren Ermittlungen genug hast. Daher werde ich dir nicht zeigen, was ich im Garten gefunden habe.«