Kapitel 12

Der Polizist verabschiedete sich von Theda mit dem Wunsch, dass sie die Polizeistation das letzte Mal von innen hatte sehen müssen.

Kaum stand Theda draußen vor dem Blumenfahrrad, da klingelte ihr Handy. Die Nummer kannte sie nicht, konnte sich aber denken, wer sie anrief.

»Hallo, hier ist Anna Färber«, erklang eine fröhliche Stimme und bestätigte damit Thedas Vermutung. »Wir haben uns auf der Fähre getroffen. Marta hat mir erzählt, dass Sie etwas gefunden haben, das vielleicht mir gehören könnte. Möchten Sie auf einen Tee vorbeikommen?«

Wie es der Zufall wollte, wohnte auch Anna in der Straße, in der sich die Pensionen von Marta Bridgers und Brigitte Koch sowie das Haus mit dem beeindruckenden Vorgarten von Hein Krüger befanden. Theda nahm sich einen Augenblick Zeit, um die Blumen in Heins Garten zu bewundern. Von Hein selbst war nichts zu sehen. Bei dem schönen Wetter führte er vielleicht gerade eine Gruppe Touristen durch das Watt.

Annas Haus wirkte im Gegensatz zu den Nachbargebäuden unscheinbar. Grau verputzt, im Vorgarten blühten ein paar Gänseblümchen im Gras. Auf den Fensterbänken standen zwar Blumenkästen, doch sie enthielten lediglich vertrocknete Pflanzen, die nur noch entfernt an Petunien erinnerten. Bevor Theda klingeln konnte, öffnete Anna ihr schon die Tür. Sie trug ein T-Shirt mit genau dem gleichen Streifenmuster wie Thedas, nur dass sie es – im Gegensatz zu Thedas klassischen Jeans – mit einem kurzen, mit bunten Fischen bedruckten Rock kombinierte. Ihr Haar hatte sie mit einem Stirnband im gleichen Muster gebändigt, und an ihren Ohren baumelten große Ohrringe in Fischform. »Moin«, grüßte sie fröhlich, dann fingen sie gleichzeitig an zu lachen.

»Scheint so, als hätten wir heute Morgen einen ähnlichen Kleidergeschmack gehabt«, scherzte Anna. »Kommen Sie doch herein. Und entschuldigen Sie, wie schlampig das Haus von außen aussieht. Die schönen Blumen ... während ich auf dem Festland war, hat sie leider niemand gegossen. Vom Rasenmähen ganz zu schweigen.«

Ihre Stimme wurde ein wenig schärfer, und Theda wollte lieber nicht in der Haut der Person stecken, die ihren Blumendienst nicht ernst genug genommen hatte. Vermutlich Annas Freund oder Ehemann, der sie am Bahnhof abgeholt hatte?

So schlimm fand Theda den Anblick des Hauses nun auch wieder nicht, obwohl es schade um die Blumen war. Innen sah jedenfalls alles tipptopp aufgeräumt aus, wie sie flüchtig registrierte, während sie Anna durch einen Flur und ein Wohnzimmer in den Garten folgte. Auch hier war der Rasen nicht gemäht, was Theda ganz gut gefiel, denn so konnten die Gänseblümchen sich fröhlich ausbreiten. Sie mochte Gänseblümchen. Wie in Claras Garten gab es auch hier ein gut besuchtes Vogelfutterhäuschen, und es sah aus wie aus der gleichen Werkstatt, eine hübsche Villa, liebevoll geschnitzt und bemalt.

»Wie schön!«, rief Theda aus. »Meine Tante Clara hat auch so ein Häuschen. Kann man die hier auf der Insel kaufen?«

»Kaufen nicht, die fertigt Hein Krüger an. Das ist ein Hobby von ihm, und er gibt seine fertigen Kunstwerke an Freunde und Bekannte ab.«

Also hatte Hein nicht nur einen grünen Daumen, sondern war auch handwerklich geschickt.

Theda nahm an dem Gartentisch Platz und bewunderte das Porzellangeschirr, das mit Vögeln bedruckt war. Auf ihrer Tasse entdeckte sie Rotkehlchen und Meisen. Anna schenkte ihr Tee aus der bauchigen Kanne ein und schob eine Schale mit Kluntjes und das Sahnekännchen zu ihr hin. »Bedienen Sie sich am besten selbst, bitte. Und probieren Sie von den Prüllerkes, die habe ich gestern gebacken. Den größten Teil habe ich heute in die Schule mitgenommen, und die Kinder haben keinen Krümel übrig gelassen, also gehe ich davon aus, dass sie schmecken.«

Diese Spezialität kannte Theda von Clara, und sie nahm sich gerne einen der mit Puderzucker bestreuten kleinen Kuchen in Kugelform.

Nur an der See trank Theda ihren Tee mit Kandis und Sahne. Während sie beobachtete, wie die Sahne sich wolkig im Tee ausbreitete, fiel ihr ein, dass sie die Brosche ja gar nicht dabei hatte. Die hätte sie wirklich noch holen können! »Hat Frau Bridgers Ihnen schon verraten, um was es geht?«, fragte sie.

»Nein, leider nicht.« Anna lachte. »Marta hat es ziemlich genossen, mich neugierig zu machen. Ich bin schon so was von gespannt. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich auf der Fähre etwas verloren habe. Oder ist es im Zug passiert?«

»Nein. Ich ... oder vielmehr Elsa ... hat etwas am Strand gefunden, und Frau Bridgers war der Meinung, es könnte Ihnen gehören.« Genau genommen hatte Theda die Brosche auf dem Kompost entdeckt, doch dieses Detail passte ihrer Meinung nach nicht zu Tee und Kuchen.

»Elsa? Etwa die zahme Elster von Clara?«

Theda musste nun ebenfalls lachen. »Ja, genau. Die scheint ja hier jeder zu kennen.«

»Allerdings! Sie besucht Clara oft an ihrer Strandbude und sitzt dann auf ihrer Schulter. Die Kinder lieben sie. Was hat Elsa denn aufgespürt?«

»Leider habe ich es nicht dabei, das tut mir leid. Es handelt sich um eine silberne Brosche in Form einer Möwe. Frau Bridgers hat gesagt ...«

»So eine hat meine Mutter gehabt!«, rief Anna sofort aus. »Ich habe sie geerbt. Aber die kann ich nicht am Strand verloren haben, da ich sie noch nie getragen habe. Die liegt wohlverwahrt in meinem Schmuckkästchen. Warten Sie, ich hole sie.«

Anna sprang auf und lief ins Haus. Wenig später kam sie zurück und legte die Brosche auf den Tisch neben Thedas Teetasse. Sie war das Gegenstück zu der Brosche, die Elsa gefunden hatte. Theda wehrte sich gegen die aufsteigende Enttäuschung. Also gab es wohl doch eine Menge von diesen Schmuckstücken, und es hatte keine Bedeutung, dass die Brosche am Strand gelegen hatte. Oder doch?

»Ja, die sieht genauso aus wie die, die Elsa gefunden hat. Wissen Sie, woher Ihre Mutter die Brosche hatte?«

»Ja, von einem Freund, einem Verehrer genauer gesagt. Mit ihm war sie zusammen gewesen, bevor sie meinen Vater geheiratet hat. Sie hat nie über ihn gesprochen, aber nach ihrem Tod habe ich ein altes Foto unter ihren Sachen gefunden, das sie zusammen mit dem Mann zeigt. Ich habe Marta gefragt, ob sie wüsste, wer das sein könnte, und sie hat es mir dann erzählt.« Anna schluckte hörbar und presste die Lippen zusammen, ihre Augen schimmerten feucht.

»Es tut mir leid, ich wollte keine Erinnerungen aufwühlen«, sagte Theda reumütig. Aber das war gelogen, denn genau das hatte sie ja gewollt, und von Marta Bridgers wusste sie bereits, dass die Brosche zumindest so aussah wie die von Annas Mutter.

»Meine Mutter ist schon seit über zehn Jahren tot, und ich vermisse sie noch immer ganz schrecklich«, sagte Anna leise. Sie nahm die Brosche und strich mit den Fingerspitzen sacht darüber. »Die Brosche hat sie oft getragen. Also hat sie sich wohl gerne an ihren Freund erinnert, auch wenn Marta keinen Hehl daraus gemacht hat, dass sie ihn nicht leiden konnte. Na ja, allzu lange kann sie nicht mit ihm zusammen gewesen sein, denn kurz darauf hat sie meinen Vater geheiratet.«

»War der Freund ein Insulaner?«

»Nein, ein Tourist. Muss wohl ein Ferienflirt gewesen sein.« Anna lächelte ein wenig gezwungen. »Schon seltsam, sich die eigenen Eltern als junge Leute vorzustellen, die ein wildes Leben gehabt haben, bevor sie sich kennengelernt und geheiratet haben. Jedenfalls gehört die Brosche, die Sie gefunden haben, nicht mir. Muss wohl jemand am Strand verloren haben.«

»Dann bringe ich sie gleich zum Fundbüro.«

»Komisch ist das allerdings schon ...«, sagte Anna nachdenklich. »Die sieht gar nicht wie die übliche Massenware aus.« Sie drehte die Brosche zwischen den Fingern. »Sehen Sie, die ist gar nicht so akkurat gefertigt, wie man es von fabrikhergestelltem Modeschmuck kennt.«

Theda beugte sich näher über die Brosche und ärgerte sich, dass sie ihre Lesebrille nicht bei sich hatte. Sie nahm sich vor, die Brosche in Claras Haus näher anzuschauen, bevor sie sie ins Fundbüro brachte. »Gibt es denn einen Juwelier oder eine Schmuckdesignerin auf der Insel, bei der es diese Broschen zu kaufen gab?«

»Nicht, dass ich wüsste. Ich habe so ein Schmuckstück auch noch bei niemand anderem auf der Insel gesehen. Es gibt den Laden Schatzkiste, dort kann man einen Regalplatz mieten, um selbst gemachtes Kunsthandwerk zu verkaufen. Silberschmuck habe ich da allerdings noch nicht gesehen, und als meine Mutter jung war, gab es den Laden noch gar nicht.«

Das wurde ja doch noch spannend. Und es gab noch ein Geheimnis, das Theda lüften wollte: die Briefe. Wie konnte sie Anna danach fragen, ohne neugierig zu wirken? Auf der Suche nach einem Aufhänger ließ sie den Blick durch den Garten schweifen und blieb an einer reichlich in Mitleidenschaft gezogenen Hecke hängen. Sah aus, als wäre da ein Elch durchgebrochen. »Huch, was ist denn da passiert?«, entfuhr es ihr.

Anna lief rot an. »Ja, wenn ich das wüsste! Das war heute Morgen so. Torsten hat gesagt, das wäre irgendein Tier gewesen, aber welches Tier soll denn das verursacht haben? Es gibt keine Rehe auf Wangerooge, die größten wildlebenden Tiere sind Kaninchen und Hasen, und ich glaube kaum, dass die so eine Schneise durch einen Busch schlagen können. Eigentlich sollte Torsten sich darum kümmern.« Nach einer kurzen Pause, in der sie verärgert die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Torsten ist mein Mann.«

»Zufällig auch derjenige, der die Blumen vergessen hat?« Das konnte sich Theda nicht verkneifen.

»Ja, genau.« Anna seufzte. »Zurzeit hat er nur Surfen im Kopf. Man könnte meinen, er wäre ein Teenager und nicht über dreißig. Kann ein Mann in dem Alter schon eine Midlife-Crisis haben?«

»Kommt drauf an«, sagte Theda vage.

Mehr schien Anna auch nicht von ihr zu erwarten, denn sie sprach schon weiter. Offenbar ging es ihr eher darum, sich ihre Sorgen von der Seele zu reden. »Aber ich sollte ihm wohl keinen Vorwurf machen. Seit er seinen Job in dem Fischereibetrieb verloren hat, weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Er findet einfach keine Arbeit, sucht auch nicht mehr richtig danach, und da ist es sicher gut, wenn er wenigstens mit dem Surfen beschäftigt ist.«

Ein über Dreißigjähriger, der lieber surfte als Arbeit zu suchen? Das warf kein sonderlich gutes Licht auf ihn ... Theda schämte sich gleich für ihr vorschnelles Urteil. Sie kannte den Mann nicht und wusste nicht, was zu der aktuellen Situation geführt hatte. Und wer war sie, jemanden dafür zu kritisieren, dass er seine Leidenschaft auslebte? Nicht jeder konnte so viel Glück haben wie sie und mit dem Beruf auch gleich die Berufung gefunden haben. Zudem war es sicher schwer genug, auf einer kleinen Insel wie Wangerooge Arbeit zu finden. Zeit, das Thema zu wechseln.

»Haben Sie eigentlich schon von dem Einbruch in Brigitte Kochs Pension gehört?« Na gut, das fiel nicht in die Kategorie ‚Elegante Überleitungen‘.

»Ja!«, rief Anna aus. »Ist das nicht schrecklich? Die arme Brigitte.«

Theda erinnerte sich noch zu gut an die bangen Minuten, die sie neben Hinnerk im Gras gekauert und in den Lauf einer Schrotflinte gestarrt hatte. Besonders arm war ihr Brigitte Koch da nicht vorgekommen ...

»Aber von Marta weiß ich, dass nichts gestohlen wurde. Ausgerechnet das Zimmer, in dem der Tote aus dem Strandkorb ... oh! Den haben Sie gefunden, oder?« Anna lächelte ein wenig verlegen. »Das habe ich auch von Marta. Sie müssen mich für eine furchtbare Klatschtante halten.«

Theda winkte ab. »Die Sache mit dem Toten im Strandkorb weiß sowieso schon die ganze Insel. Aber woher weiß denn Frau Koch, dass nichts gestohlen wurde? Kennt sie das Gepäck ihrer Gäste so genau?«

»Nein, das wohl nicht. Vermutlich hat Marta nur gemeint, dass nichts von Brigittes Sachen gestohlen worden ist. Hm, könnte der Einbrecher es denn speziell auf das Gepäck dieses Gastes abgesehen haben?«

Davon ging Theda aus. Blieb die Frage, warum das so war. Es hatte vermutlich etwas mit den Briefen zu tun, von denen Anna offenbar nichts wusste, sonst hätte sie diese spätestens jetzt erwähnt. Doch sie nippte nur nachdenklich an ihrem Tee. Theda hätte ihr davon erzählen können, doch sie fürchtete, dann ziemlichen Ärger mit Frau Wagner zu bekommen. Andererseits hatte ihr niemand direkt verboten, darüber zu reden ...

Während sie noch mit sich haderte, erklangen polternde Schritte. Ein älterer Herr stapfte in Gummistiefeln auf die Terrasse. Kapitänsmütze, ein verschmitztes Grinsen auf dem wettergegerbten Gesicht – Hein Krüger gab sich die Ehre. Bei Thedas Anblick blieb er abrupt stehen. »Moin! Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«

Anna sprang auf. »Moin, Hein! Schön, dass du vorbeikommst. Setz dich doch, es gibt Tee und Prüllerkes. Das ist Theda, die ...«

»... Nichte von Clara, weiß schon«, brummte Hein. »Kann aber nicht bleiben. Wollte nur mal nach der Hecke sehen. Hab Torsten getroffen, der hat mir erzählt, dass die plattgewalzt wurde.«

»Na ja, plattgewalzt ist zu viel gesagt ...« Anna deutete auf die mitgenommene Hecke. »Ich frage mich nur, wie das passiert ist.«

»Bestimmt betrunkene Touristen, die eine Abkürzung nehmen wollten.« Hein schlenderte zu der Hecke und pfiff leise durch die Zähne.

Theda fiel etwas ein. »Könnten das nicht Spuren des Einbrechers sein, der durch die Gärten geflohen ist?«

Anna sah sie sichtlich beeindruckt an. »Aber natürlich! Dass ich darauf nicht gekommen bin. Die Gärten der Häuser auf dieser Straße grenzen ja direkt aneinander an, und der Einbrecher könnte auf seiner Flucht durchaus bis hier gekommen sein.«

Die Richtung stimmte jedenfalls, das wusste Theda, die schließlich gesehen hatte, wohin der Einbrecher verschwunden war. Doch das wollte sie Anna und Hein nicht unbedingt auf die Nase binden.

»Schlimme Sache, der Einbruch«, brummelte Hein und bog an den Ästen der Hecke herum. Das gefiel Theda nicht.

»Ich finde, wir sollten unseren Verdacht der Polizei mitteilen, das ist ein Fall für die Spurensicherung«, sagte sie laut genug, dass Hein sich angesprochen fühlen konnte.

Doch der lachte nur. »Spurensicherung? Was sollen die denn an verknickten Zweigen sehen können?«

»Theda hat recht«, sagte Anna. »Lass die Hecke besser in Ruhe, Hein. Ich rufe sofort Elke an.«

Aha, auch sie war mit der Oberkommissarin per Du. Das wunderte Theda nicht besonders, auf einer Insel, auf der jeder jeden kannte und Anna und Frau Wagner altersmäßig nicht weit auseinanderliegen konnten. Umso mehr erstaunte es sie aber, dass Frau Wagner Anna nicht sofort von den Briefen berichtet hatte.

»Ich finde das lächerlich«, murrte Hein, doch Anna ließ sich nicht beirren und zückte ihr Handy.