Im Laufe des Vormittags konnte sich Theda mit Arbeit von der Sorge um Torsten ablenken und immerhin sieben Strandkörbe vermieten. Bei dem schönen Wetter tummelten sich die Inselgäste am Strand und einige Mutige sogar im Wasser. Auch Familie Mertens hatte ihren Strandkorb bezogen. Pip baute mit eher fragwürdiger Hilfe von Zorro eine Sandburg, und die Erwachsenen lasen Zeitung. Dank des fleißigen Aufräumtrupps sah zumindest der Hauptstrand an der Promenade wieder ordentlich aus, als wäre nie ein Sturm über die Insel gefegt.
Theda saß auf einem Klappstuhl vor Claras Strandbude in der Sonne, doch richtig genießen konnte sie das schöne Wetter nicht. Ständig musste sie an Torsten denken und vor allem an Anna. Außerdem bekam sie allmählich wieder Kaffeedurst und Hunger. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag eine Thermoskanne Tee oder Kaffee und etwas zu essen mit zur Strandbude zu nehmen. Wenigstens an ihr Buch hatte sie gedacht. So konnte sie die Zeit zwischen den Strandkorbinteressenten mit dem Roman von Rose Heartfield überbrücken.
Doch sie konnte sich nicht auf die Handlung konzentrieren. Ihr Blick schweifte über das Meer, die Strandkörbe, die Promenade und fiel auf das Fläschchen Sanddornlikör auf der Stufe vor Claras Bude. Das hatte sie ja völlig vergessen! Sie stand auf, schraubte das Fläschchen auf, steckte den Schraubverschluss ein und zögerte. Den Likör konnte sie entgegen ihres ersten Impulses nicht einfach ins Gebüsch schütten, es widerstrebte ihr einfach, die Umwelt zu verschmutzen, selbst wenn es sich nur um eine Flüssigkeit handelte, doch sie wollte auch keine nicht völlig entleerte Flasche in den Glascontainer werfen.
Ein begeistertes Kreischen ließ sie von dem Fläschchen aufblicken. Sie stellte es wieder auf die Stufe und drehte sich um. Pip und Zorro sprangen um ihre Burg herum, umflattert von einem schwarz-weißen Vogel. Elster Elsa machte sich offensichtlich einen Spaß daraus, im Tiefflug über die Burg und ihre Erbauer hinweg zu sausen.
»Elsa!«, rief Theda mahnend und musste über sich selbst lachen. Schließlich war eine Elster kein Hund, den man zur Ordnung rufen konnte. Zu ihrem Erstaunen reagierte Elsa dennoch und flog auf sie zu. Einen Moment glaubte Theda, der Vogel würde sich auf ihren einladend ausgestreckten Arm setzen, doch in letzter Sekunde schwenkte Elsa ab und nahm ihren Posten auf dem Dach der Strandbude ein. Nun, da Theda eine würdige Vertreterin hatte, konnte sie sich ja einen Kaffee holen. Sie schloss die Bude trotzdem ab, hängte das Bin gleich wieder da -Schild ins Fenster und ging los.
Ein paar Minuten später kam sie mit einem Latte Macchiato zurück. Kaum saß sie wieder auf ihrem Stuhl, stieg ihr ein unangenehm süßlicher Geruch in die Nase. Böses ahnend drehte sie sich um. Das Fläschchen mit dem Rest Sanddornlikör war von der Treppe gefallen und ausgelaufen. Und, noch schlimmer, neben der Pfütze stand Hund Zorro und schlabberte das orangene Gesöff auf.
»Nein! Aus!«, schrie Theda entsetzt. Was, wenn der Hund Scherben aufleckte? Sie sprang auf und griff nach dem Halsband des kleinen Hundes, der sich nur widerwillig von der Pfütze wegziehen ließ.
»O nein, Zorro! Böser Hund!«, rief sein Frauchen. Frau Mertens lief über den Strand auf sie zu. »Es tut mir leid! Ich hätte besser auf ihn achten sollen.«
»Nein, meine Schuld«, sagte Theda reumütig. »Ich hätte die Flasche nicht einfach so hier stehen lassen sollen.« Sie hatte den Sanddornlikör schlichtweg vergessen.
Frau Mertens hob den Hund hoch. »Zum Glück ist die Flasche nicht zerbrochen.«
Das stellte Theda nun auch erleichtert fest. Sie hob das vermaledeite Fläschchen auf und stellte es diesmal nicht nur auf die Stufe, sondern warf es in den Mülleimer in Claras Strandbude. Zum Teufel mit der Mülltrennung. Pip hüpfte zu ihnen auf die Promenade. »Darf ich auch was von dem Saft haben?«
»Nein, und Zorro hätte das auch nicht trinken dürfen«, erklärte Frau Mertens. »Für dich haben wir noch Orangensaft in der Kühltasche.«
In dem Moment fing Zorro auf ihrem Arm an zu zucken. Er winselte kläglich, verdrehte die Augen und bäumte sich auf. Entsetzt musste Theda mitansehen, wie dem kleinen Hund Schaum vors Maul trat.
»Zorro!«, rief Pip und fing an zu heulen. »Mama, was hat Zorro denn?«
Frau Mertens legte den Hund vorsichtig auf den Boden. Blass um die Nase sah sie zu Theda auf. »Gibt es hier auf der Insel einen Tierarzt?«
Theda wusste es nicht. Fassungslos starrte sie auf Zorro, der mit den Pfoten zuckte und würgte. Das bisschen Sanddornlikör konnte ihn doch nicht dermaßen krank machen. Oder war er womöglich allergisch gegen Alkohol?
Mittlerweile waren mehrere Leute auf das Drama aufmerksam geworden. Kein Wunder, so laut wie Pip heulte. Theda hätte am liebsten mitgeheult. Was immer mit Zorro los war, es war ihre Schuld!
»Lassen Sie mich mal durch«, erklang eine energische Stimme. Eine schlanke, sehr große Frau drängte sich durch die Schaulustigen.
»Marietta!«, rief Theda erleichtert. »Sie wissen doch sicher, ob es hier einen Tierarzt gibt?«
»Aber natürlich.« Marietta ging beneidenswert geschmeidig in die Hocke und betrachtete Zorro. »Ach je. Das sieht nach einer Vergiftung aus. Ist das Ihr Hund?«
»Nein, unserer«, krächzte Frau Mertens. Pip klammerte sich schluchzend an ihr Bein. »Wo finde ich denn den Tierarzt?«
»Nehmen Sie den Hund, ich zeige Ihnen den Weg«, sagte Marietta resolut. Theda folgte der kleinen Prozession bestehend aus Marietta, Frau Mertens mit dem Hund und Pip, der wie eine Sirene heulte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, musste nur immer wieder daran denken, wie dumm es von ihr gewesen war, die Flasche so offen stehen zu lassen. Aber ... konnte Zorros bedenklicher Zustand wirklich an dem Likör liegen? Bekamen Hunde von so einer winzigen Menge bereits eine Alkoholvergiftung? Oder hatte er vorher etwas anderes gefressen?
Zum Glück war es nicht weit zu der Tierarztpraxis, und die Ärztin winkte Frau Mertens und Zorro sofort durch ins Behandlungszimmer. Theda sank im Warteraum auf einen Stuhl. Einen Empfangstresen gab es nicht, die Praxis war offenbar ein Ein-Frau-Betrieb. Marietta sah Theda besorgt an. »Sie sind ja leichenblass. Möchten Sie vielleicht einen Tee?«
Der Latte Macchiato stand ungetrunken neben Claras Klappstuhl, also nickte Theda schwach. Marietta schien sich auszukennen, denn sie verschwand in einem Nebenraum und kam bald mit zwei dampfenden Tassen zurück. »Haben Sie gesehen, was der Hund gefressen hat?«
»Nein. Ja. Er hat Sanddornlikör aufgeleckt«, murmelte Theda. »Das ist alles meine Schuld. Der arme Zorro. Es tut mir so leid.« Das Bild von dem zuckenden und winselnden kleinen Hund tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und sie erschauerte.
»Na, nun trinken Sie erst mal einen Schluck.« Marietta setzte sich neben sie. »Bei Frau Richard ist Zorro in den besten Händen. Ich bringe regelmäßig meine Katzen zu ihr. Sie ist eine sehr gute Ärztin.«
»Er hat gar nicht so viel davon getrunken«, flüsterte Theda. »Das kann doch nicht sein.«
Mit zitternden Händen führte sie den Becher an die Lippen und verbrannte sich prompt die Zunge, doch der heiße Tee tat gut. Auf Mariettas behutsame Nachfrage erzählte sie ihr die ganze Geschichte. Marietta runzelte die Stirn. »Hm, das kommt mir allerdings sehr merkwürdig vor. Sanddornlikör dürfte sich nicht so auf einen Hund auswirken. Haben Sie die Flasche zufällig dabei? Vielleicht kann Frau Richard etwas damit anfangen, wenn sie sich die Inhaltsstoffe ansieht.«
»Nein, die ...« Theda erstarrte. »O nein! Die habe ich in den Müll geworfen. «
Bevor Marietta etwas sagen konnte, sprang sie auf und rannte los. Schweißgebadet erreichte sie die Strandbude, schloss auf und holte das Fläschchen aus dem Müll. Am besten, sie brachte es sofort zu der Tierärztin, vielleicht konnte sie etwas damit anfangen. Doch vorher musste sie einem aufgeregten Herrn Mertens Rede und Antwort stehen. Er war im Meer geschwommen und hatte nichts von der Aufregung um Zorro mitbekommen. Nun machte er sich Sorgen, wo Frau, Kind und Hund abgeblieben waren. Und nachdem er es von Theda erfahren hatte, wollte er gleich losrennen, so, wie er war, nur in Badehosen. Theda konnte ihn davon überzeugen, wenigstens T-Shirt und Shorts überzustreifen.
Bereits vor der Praxis trafen sie seine Frau und Pip. Angstvoll forschte Theda in ihren Gesichtern, doch sie sahen zwar bekümmert, aber nicht untröstlich aus.
»Papa, Papa!« Pip rannte auf Herrn Mertens zu, der in die Hocke ging und die Arme ausbreitete, um seinen Sohn aufzufangen. »Zorro ist krank!«
Immerhin hatte der Junge aufgehört zu weinen.
»Es tut mir so unendlich leid«, sagte Theda und suchte vergeblich nach tröstenden Worten. »Wenn ich doch bloß die Flasche ...«
»Das ist nicht Ihre Schuld«, unterbrach Frau Mertens sie. »Ich weiß doch, wie Zorro ist und hätte besser auf ihn achten sollen.«
»Wie geht es ihm denn?«
»Frau Doktor Richard sagt, dass er etwas Giftiges zu sich genommen haben muss. Also kann es der Sanddornlikör auch gar nicht gewesen sein.«
Theda betrachtete nachdenklich das Fläschchen in ihrer Hand. »Könnte es denn eine Alkoholvergiftung sein?«
Nun lachte Frau Mertens, wenn auch schwach. »Auf keinen Fall. Zorro hat leider schon wesentlich größere Mengen Alkohol getrunken. Auf einer Feier hat er mal ein ganzes Glas Bier leergeschlabbert, das ein betrunkener Gast ihm in den Napf gefüllt hatte.«
»Papa, können wir Zorro nicht mitnehmen?«, flehte Pip.
Frau Mertens kniete sich neben ihn und drückte ihn an sich. »Wir holen ihn heute Abend ab, Schätzchen. Doktor Richard passt gut auf ihn auf.«
»Ich kann aber viel besser auf ihn aufpassen.« Pips Unterlippe zitterte verräterisch.
»Wir können ihn ja gleich noch mal besuchen, und bis dahin essen wir ein Eis, ja?«
Pip stampfte bockig mit dem Fuß auf. »Will kein Eis. Will zu Zorro! Er hat bestimmt Angst alleine.«
»Er ist nicht alleine, Doktor Richard ist bei ihm.«
»Er hat nicht mal sein Igelchen.«
Herr Mertens wechselte einen unglücklichen Blick mit Theda. »Igelchen ist Zorros Lieblingsspielzeug«, erklärte er und ähnelte seinem Sohn in dem Moment sehr stark, nur, dass er nicht mit dem Fuß stampfte. Er sah aus, als würde er das aber am liebsten tun.
»Weißt du was, wir holen Igelchen für Zorro, ja?«, sagte Frau Mertens munter.
Pip dachte darüber nach und nickte schließlich langsam.
Theda sah der Familie nach, wie sie Richtung Strand abzog, und musterte dann erneut das Fläschchen. Sollte sie das wirklich der Tierärztin zeigen? Ach, was konnte es schaden. Vielleicht entdeckte sie tatsächlich einen für Hunde schädlichen Inhaltsstoff auf dem Etikett.
Sie ging in die Praxis. Eine Glocke ertönte. Das war Theda bei ihrem ersten Besuch gar nicht aufgefallen, da war sie wohl zu panisch gewesen. Die Tür zum Behandlungsraum stand offen, und eine Frauenstimme rief: »Kommen Sie ruhig durch!«
Zögernd trat Theda ein. Auf dem Behandlungstisch stand ein Körbchen, darin lag ein sichtlich ermatteter Zorro. Theda stiegen Tränen in die Augen. Es tat ihr in der Seele weh, den fröhlichen kleinen Hund so zu sehen.
»Hallo«, sagte sie unsicher. »Ich habe hier den Sanddornlikör, von dem Zorro etwas aufgeleckt hat.«
Dr. Richard sah auf. Hinter dicken Brillengläsern funkelten blaue Augen. Ihr blondes Haar hatte die Tierärztin zu einem Knoten geschlungen, der wesentlich ordentlicher aussah als die Kreationen, die Theda fabrizierte. Theda schätzte sie auf ungefähr ihr Alter, also um die fünfzig. Ihre tiefgebräunte Haut ließ darauf schließen, dass sie viel Zeit draußen verbrachte. So sportlich wie sie aussah, vermutete Theda, dass sie surfte. Ja, das würde zu ihr passen.
»Ah, Sie sind die Nichte von Clara!« Dr. Richard lächelte freundlich. »Lassen Sie mal sehen. Hm, die Flasche ist ja fast leer. Und sehr klein. Also ich kann Sie beruhigen, so wenig Likör hätte nicht zu dieser Vergiftung führen können.«
Der Stein, der Theda vom Herzen fiel, musste bis aufs Festland zu hören sein. »Die Flasche war auch nur noch halb voll. Also hat Zorro etwas anderes zu sich genommen, das ihm geschadet hat?«
»Leider hat Frau Mertens mir erzählt, dass er alles frisst, was ihm vor die Nase kommt. Ich tippe auf giftige Pflanzenteile.«
»Gibt es die denn am Strand?«
»Direkt dort nicht, aber vielleicht in einem Garten, an dem die Familie heute Morgen auf dem Weg zum Strand vorbeigekommen ist. Kennen Sie Eisenhut?«
»Das ist eine Staude, oder?«
»Ja, genau, und Teile dieser Pflanze können eine Aconitinvergiftung hervorrufen. Die Symptome passen. Also schätze ich, dass unser kleiner Vielfraß hier ein wenig im Garten gegrast hat.« Liebevoll strich Dr. Richard Zorro über die flauschigen Öhrchen. »Zum Glück kann es nicht viel gewesen sein, und er hat alles erbrochen. Ich behalte ihn noch ein paar Stunden zur Beobachtung hier.«
»Also wird er wieder gesund?«
»Aber ja. Trotzdem gut, dass Sie ihn so schnell hergebracht haben.«
»Ein Segen, dass Marietta vorbeigekommen ist.«
Theda steckte das Likörfläschchen ein, heilfroh darüber, dass Zorro sich nicht wegen ihrer Unachtsamkeit vergiftet hatte. Ihre Fingerspitzen strichen über etwas Holziges. Was war denn das? Sie zog das hölzerne Schweinchen hervor.
»Na so was, wohnen Sie in Martas Pension?«, fragte Dr. Richard.
»Nein, nein, ich wohne in Claras Haus. Das gehört nicht mir. Habe ich am Strand gefunden.«
»Hm, das sieht aus wie die Schlüsselanhänger, die Marta verwendet.«
Das hatte sich Theda auch schon gedacht. Und sie glaubte auch zu wissen, von welchem speziellen Schlüssel dieses Schwein abgefallen war.
»Danke für den Hinweis. Ich bringe das Schwein zur Pension«, sagte Theda grimmiger als beabsichtigt und brachte Dr. Richard damit zum Lachen. Ihr war nicht zum Lachen zumute. Denn offenbar hatte sich Hinnerk mit Torsten getroffen, bevor der verschwunden war ...