»Ihr lebt!«, stieß Theda hervor. Die Erleichterung verwandelte ihre Knie in Pudding. Sie musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht zusammenzusacken.
»Hmpf!«, erwiderte Hinnerk. Er rollte wild mit den Augen.
»Oje, du Armer.« Theda ging neben ihm in die Knie und zupfte fahrig an dem Tape.
»Hmpf, hmhmhmpf!«, kommentierte Hinnerk ihre zaghaften Versuche. Seine Augen sprühten Zornesfunken.
Na schön. Beherzt riss Theda das hartnäckige Klebeband mit einem Ruck ab. Hinnerks gedämpftes Gegrummel wurde zu einem Schmerzensschrei, dicht gefolgt von wüsten Flüchen, doch mitten in seiner Tirade stoppte er. »Wo ist Hein?«, krächzte er und musste husten. »Er hat es getan. Er war es!«
»Ich weiß. Hab ihn mit dem Teil eines Vogelhäuschens niedergeschlagen«, erklärte Theda. Sie krabbelte hinter Hinnerk und knibbelte an den Fesseln herum. Die Knoten sahen erschreckend stabil aus. Was hatte sie erwartet? Hein war ein Kapitän, der kannte sich mit Seemannsknoten aus.
»Hier muss doch irgendwo eine Gartenschere liegen«, sagte Hinnerk. »Damit kannst du die Stricke durchschneiden.«
»Gute Idee.« Theda stemmte sich auf die Füße. Allmählich ließ der Schwindel nach.
»Glmpf«, erklang es erstickt von Torsten.
»Oh! Entschuldigung.« Rasch entfernte Theda das Klebeband auch von seinem Mund. Torsten gab nur ein schwaches Ächzen von sich. Er lag auf der Seite und versuchte vergeblich sich aufzurichten. Sein Gesicht war aschfahl und sein Blick glasig. Kein Wunder, wenn Hein ihn schon eine Nacht und einen halben Tag hier in der Gartenhütte gefangen hielt! Was hatte er nur mit den beiden vorgehabt? Vermutlich hatte er Torsten nicht mal Wasser gegeben, so rissig und trocken wie seine Lippen aussahen. Darum würde sich Theda später kümmern, nun hieß es, die Männer von den Fesseln zu befreien.
»Beeil dich!«, trieb Hinnerk sie heiser an. »Hein ist völlig durchgedreht!«
»Ich glaube, der ist fürs Erste ausgeschaltet.« Theda hoffte, dass sie Hein nicht versehentlich getötet hatte. Fahrig durchsuchte sie die Regale in der Hütte. Keine Spur von einer Schere.
»Theda, vergiss es«, keuchte Hinnerk. »Lauf zur Polizei.«
»Ich lasse euch doch nicht einfach so hier liegen!« Theda holte ihr Handy hervor und wählte die Nummer von Frau Wagner. Doch die ging nicht dran. Theda war auf sich gestellt. Sie rannte zurück ins Haus, riss zwei Küchenschubladen auf, bis sie ein Messer fand. Zurück zum Schuppen. Erneut ging sie neben Hinnerk in die Knie und fing an, an dem Strick herumzufeilen, der in seine Handgelenke schnitt.
»Hinnerk hat recht«, flüsterte Torsten. »Lauf weg!«
Theda dachte gar nicht daran. Sie sägte weiter an den Fesseln.
Mit einem lauten Knall schlug die Tür gegen die Wand. Es wurde dunkler in der Hütte, denn eine massige Gestalt verdeckte das Sonnenlicht. Hein.
Theda schrie auf. Der Mann sah aus wie frisch einem Horrorfilm entstiegen. Blut lief ihm über das Gesicht, er schwankte wie ein betrunkener Zombie hin und her, und in der Hand hielt er eine Waffe, die aussah wie eine Verwandte der Schrotflinte, mit der Brigitte Theda vor wenigen Tagen bedroht hatte.
»Weg von dem Schnulzenschreiber!«, lallte er und bewegte den Lauf der Waffe ruckartig.
Reflexartig hob Theda die Hände und rutschte auf den Knien zur Seite. »Tun Sie das nicht«, stieß sie hervor. »Sie reiten sich nur immer weiter rein! Noch ist nichts verloren, Sie können noch ...«
»Mir ist jetzt sowieso alles egal!« Heins Stimme klang, als hätte er sämtlichen Rum aus dem Flachmann in sich hineingekippt und den Sanddornlikör gleich hinterher. Tränen liefen ihm über das Gesicht, zogen helle Bahnen in die Blutschlieren. »Ich hab alles verloren. Meine Helga. Meine Anna.«
»Anna haben Sie nicht verloren. Denken Sie doch nach!«, beschwor Theda ihn. »Nur, wenn Sie jetzt eine Dummheit machen, verlieren Sie Anna.« Jäh wurde ihr bewusst, dass es sich bei dieser Dummheit um den Mord an drei weiteren Menschen handeln könnte, und ihr Magen verknotete sich.
»Er hätte ihr doch viel mehr bieten können«, wütete Hein. »Was für eine Chance hätte ich denn gegen ihn gehabt? Sie hat schon lange nach einer Gelegenheit gesucht, von hier fortzugehen, und genau die hätte er ihr geboten! Ich musste doch etwas tun.«
»Ja, aber das haben Sie doch auch«, redete Theda beschwichtigend auf ihn ein, obwohl ihre Zähne aufeinanderschlugen. »Es ist vorbei. Gutbrodt ist weg.«
»Und ihr müsst auch weg«, lallte Hein. Er richtete den Lauf der Waffe nacheinander auf Theda, Hinnerk und Torsten, als überlegte er, wen er zuerst erledigen sollte. »Fang ich mit dem Klugscheißer an ...«, murmelte er und nahm Hinnerk ins Visier.
»Nein!«, schrie Theda. »Das ändert doch gar nichts!«
»Genau! Sie sind erledigt, Hein«, ächzte Hinnerk. »Wenn ich Ihnen auf die Schliche gekommen bin, wird das bald auch die Polizei. Sie können nicht alle töten.«
Heins unsteter Blick irrte durch die Hütte. »Ihr sollt Anna aber nicht bekommen.« Die Waffe schwenkte herum, richtete sich auf Torsten. »Toto, du warst sowieso nie gut genug für sie.«
Torsten flüsterte etwas.
»Hä?« Hein beugte sich vor, doch Torsten schüttelte nur den Kopf und schloss die Augen. »Ein Taugenichts«, knurrte Hein und zog abfällig die Mundwinkel nach unten. »Nur Surfen im Kopf. Hast lange genug gebraucht, um herauszufinden, dass ich die Briefe genommen habe.«
»Was stand denn überhaupt in den Briefen?«, fragte Theda. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Hein davor zurückschreckte, auch nur einen von ihnen zu töten und darum Zeit schindete. Noch war nicht alles verloren. Wenn sie ihn am Reden hielt und ihn womöglich davon überzeugen konnte, sich zu ergeben ...
»Er hätte sie mir weggenommen«, schnappte Hein und fuhr zu ihr herum. »Das stand da drin!«
Theda starrte in den Lauf der Flinte. Die schwarze, runde Öffnung schien immer größer zu werden, bis sie ihr komplettes Blickfeld einnahm. War es das? Wie sicher waren diese Waffen? Da konnte sich doch einfach mal so ein Schuss lösen, oder? Würde sie jetzt sterben, in einer Gartenhütte auf Wangerooge? Und warum sah sie nicht ihr ganzes Leben an sich vorbeiziehen?
»So, genug geredet«, bölkte Hein. »Ihr habt mir genug Schwierigkeiten gemacht!«
Hinter seinem Kopf blitzte etwas Rotes auf. Ein sattes, dumpfes Geräusch erklang. Einen Sekundenbruchteil stand Hein wie erstarrt da. Die Flinte glitt ihm aus den Händen. Dann sackte er in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitten hatte.
Hinter ihm tauchte der Umriss einer schlanken Gestalt auf.
»Hier ist der Spaten, den du mir geliehen hast«, ließ sich trocken vernehmen. Die Gestalt machte einen großen Schritt über den niedergestreckten Hein zu und entpuppte sich als Anna. Sie ließ den Spaten mit dem roten Blatt, den sie in der Hand gehalten hatte, fallen und stürzte zu Torsten. »Liebling, bist du verletzt?«
»Anna«, stieß Torsten seufzend aus. »Meine Heldin.«
Anna lachte atemlos. »Wie mir scheint, hat schon jemand Vorarbeit geleistet. Wenn Hein nicht so angeschlagen gewesen wäre, hätte ich mich niemals anschleichen können.« Ihr Blick huschte zu Theda. »Sie waren das, oder?«
»Na ja, hab wohl nicht hart genug zugeschlagen«, gab Theda zu. Im Gegensatz zu Anna. Die hatte die Schaufel geschwungen wie einen Baseballschläger, und Hein rührte sich nicht. »Ist er tot?«
»Nein«, sagte Anna grimmig. »Ich hab gehört, was er gesagt hat. Er muss den Verstand verloren haben!«
»Ja, großartig, aber könnt ihr uns vielleicht mal losmachen?«, brummte Hinnerk. »Die Einzelheiten würde ich lieber bei einem guten Whisky besprechen.«