Kapitel 4
Drei Stunden später stürzte Mia ins Café Sweets hinein. Sie hatte rote Wangen, es war ein ungewöhnlich warmer Tag, und wie immer hatte sie es nicht geschafft, ihre Kleidung entsprechend anzupassen. Von Natur aus immer schnell am Frieren, traute sie dem Wetterbericht grundsätzlich nicht. Schon gar nicht früh morgens, wenn es in den Rockies oft erstaunlich frisch war. Kam dann tagsüber die Sonne raus, kam sie regelmäßig ins Schwitzen.
„Sorry, sorry, sorry“, sagte sie, während sie sich aus ihrer Jacke schälte und sie über ihren Arm legte. „Ich bin zu spät, ich weiß. Aber heute war ein verrückter Tag.“ Fertig mit ihrer vorbereiteten, kleinen Ansprache, ließ sie sich geschafft auf den freien Stuhl am Tisch fallen. Kristina Mertens, die Oberärztin des Krankenhauses in Breckenridge, war da, ebenso Sunny, die Feuerwehrfrau, Bertha, die Physiotherapeutin, die mit ihrem Bruder liiert war und Astrid, eine der zwei Apothekerinnen.
„Ich dachte, Brenda Carter und Nadine Saunders wollten auch kommen?“, stellte sie fest, während sie bittend die Hände in Aileens Richtung hielt.
Aileen war über drei Ecken mit den Disney Sisters verwandt und mit Lily, der Besitzerin des Blumenladens, verheiratet. Das war auch der Grund, weshalb das Café immer mit frischen Blumengestecken ausgestattet war. Aileen war nach einem längeren Aufenthalt in Paris, wo sie sich ihre fabelhaften Backkünste angeeignet hatte, nach Independence zurückgekehrt. In der Anfangszeit hatte sie im Diner mitgearbeitet. Schnell war allerdings allen Beteiligten klar geworden, dass das auf Dauer nicht gut gehen würde. Aileen hatte sich selbständig gemacht und das Café eröffnet. Nachdem das Diner seit mehreren Jahrzehnten das einzige Restaurant im Ort gewesen war, hatte das beinahe zu einem Aufstand unter den Einwohnern geführt. Während es die eine Hälfte begrüßte, dass es eine Alternative zum Diner gab, empfanden es die anderen als Verrat an den Disney Sisters.
Da Aileen sich in der Anfangszeit jedoch auf starken, französischen Kaffee und erlesene Patisserie beschränkte, legte sich das bald wieder. Mit dem Zuwachs der Bevölkerung der letzten Jahre war das Bounty , ein Feinschmeckerlokal, sowie die Spielarkade mit der zugehörigen Pizzeria hinzugekommen. Inzwischen servierte auch Aileen vermehrt Essen. Bei ihr konnte man frische Salate und Suppen bestellen. Eine gesunde und preisgünstige Alternative, die vor allem bei den Neuzuzüglern sehr beliebt war.
Aileen stellte den pechschwarzen Kaffee vor Mia hin. Die bedanke sich mit einem Kopfnicken. Nachdem sie den ersten, köstlichen Schluck getrunken und die Tasse wieder vor sich hingestellt hatte, merkte sie plötzlich, dass alle sie anstarrten. Ihre Frage hatte auch niemand beantwortet.
„Äh, gibt es ein Problem?“ Verwirrt ließ sie ihren Blick von links nach rechts gleiten.
„Wir sind nur alle gespannt, wie dein Tag so war?“
„Mein Tag? Ich dachte, wir wollten besprechen, wie es mit den Plänen für die Notfallstation weitergeht?“
„Ha! Das war, bevor uns die neuesten Gerüchte zu Ohren gekommen sind“, stellte Astrid vergnügt fest.
„Gerüchte?“ Mia traute ihren Ohren nicht.
„Ich habe zwanzig Dollar auf Anfang August gesetzt“, verkündete Sunny zufrieden.
„Das dauert nie im Leben so lange“, prophezeite Bertha mit wissendem Blick.
Mia blinzelte, während sie versuchte, das Gehörte einzuordnen. Natürlich wusste sie über das schwarze Wettbüchlein, das die Disney Sisters führten, Bescheid. Jeder durfte eine Wette starten. Dabei war es ganz egal, ob es sich um den erwarteten Geburtstermin eines Babys, den ersten Schneefall des Jahres oder den Zeitpunkt eines ersten Kusses handelte. Der Gewinner erhielt seinen Einsatz zurück und ein Essen für zwei Personen im Diner.
Der Rest wanderte in einen Fonds, der vom jeweiligen Bürgermeister verwaltet wurde. Das Geld aus diesem Fonds wurde für soziale Anliegen verwendet. Wenn jemand ein Stipendium brauchte oder eine medizinische Behandlung nicht bezahlen konnte, wurde über das Anliegen abgestimmt. Auch die Schule und die örtliche Polizei hatten schon von dem Fonds profitiert. So gesehen waren die Wetten ein fester Bestandteil des örtlichen Sozialgefüges, was die hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erklärte. Selbst die extremsten Glücksspielgegner hatten schon vor Jahren aufgehört, gegen den Brauch mobil zu machen.
Auch Mia hatte schon das eine oder andere Mal mitgewettet, war ja nichts dabei. Nachdem es quasi für einen guten Zweck war, war man fast schon verpflichtet, mitzumachen. Sie musste allerdings feststellen, dass es sich ganz anders anfühlte, wenn man selbst Gegenstand der Wette war. Unangenehm berührt schaute sie abermals in die Runde.
„Eine Wette? Über mich? Das kann ich mir bei meinem langweiligen Leben kaum vorstellen“, bemerkte sie misstrauisch.
Kristina hob eine Augenbraue.
„Warst das nicht du, die erst gerade verspätet zur Tür hereingefallen ist und etwas von einem verrückten Tag gemurmelt hat?“, fragte sie unschuldig. Mia warf ihr einen bösen Blick zu.
„Mir hat jemand gesteckt, dass du nicht nur zum Hund wie die Jungfrau zum Kind, sondern auch einen potenziellen Gefährten gefunden hast.“
Mia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Wie so oft verfluchte sie ihre helle, durscheinende Haut, die jede ihrer Gefühlsregungen verriet.
Sunny rieb sich vergnügt die Hände.
„Ich hatte recht, an dem Gerücht ist was dran.“
Mia legte die Stirn auf die Tischplatte und stöhnte.
„Ihr seid schlimmer als eine Gruppe Geier. Oder Hyänen mit einem Knochen.“
„Dazu sind Freundinnen da“, versicherte ihr Bertha und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Mia hob den Kopf und schaute sie an. Freundinnen. Hm. Wie hatte ihr nur entgehen können, dass sie tatsächlich echte Freundinnen gefunden hatte? Und heute einen Freund? Anscheinend war sie tatsächlich in Independence angekommen.
„Also. Der Hund. Den habe ich gestern Jason aufgeschwatzt, als ich ihn zufällig im Safe Haven angetroffen habe.“
„Was hat Jason denn im Safe Haven gemacht?“, wunderte sich Sunny.
„Offenbar hilft er dort öfter aus, kümmert sich um die Hunde und so“, erklärte Mia achselzuckend.
„Und was hast du da gemacht?“
„Ich wollte mein Katzenlady-Dasein beginnen.“
„Das kann auch nur dir passieren“, murmelte Kristina mit unverhohlenem Neid in der Stimme.
„Was passieren?“
„Na, dass du Männern abschwörst, dir eine Katze holen willst und stattdessen auf einen heißen Typen stößt.“
„Na, ist ja nicht so, als hätte ich stattdessen ihn nach Hause mitgenommen“, entgegnete Mia trocken.
„Schade“, kommentierte Aileen grinsend, als sie Körbe mit aufgeschnittenem Baguette und Schälchen mit Frischkäse und Oliven auf den Tisch stellte. „Das hätte bestimmt Spaß gemacht.“
Bei dem Gedanken kehrte das Blut, das gerade erst in ihren Kopf geschossen war, zurück in ihre Körpermitte und aktivierte Regionen, die sie eigentlich im Winterschlaf geglaubt hatte. Himmel, war das heiß hier drin. Sie zog ihr Halstuch aus und hängte es hinter sich an die Stuhllehne.
„Leute … Der Mann hat grad eine Scheidung hinter sich. Ich bin sicher, er hat anderes zu tun, als sich eine Freundin zu suchen.“ Das erklärte zwar nicht, weshalb er heute ihre Hand gehalten hatte, aber gut. Es gab auch nicht auf alle Fragen eine Antwort.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, behauptete Sunny. „Ich habe zumindest auf euch gewettet!“
„Dann habe ich ja wenigstens in deiner Fantasie heißen Sex … besser als gar nicht, nehme ich mal an“, murmelte Mia. „Auf jeden Fall ist ihm dann heute plötzlich aufgefallen, dass er eine lange Autofahrt vor sich hat und Bozo, so heißt der Welpe, Autofahren hasst. Also hat er ihn kurzerhand in die Praxis gebracht.“
„Und? Wie war es so als Hundesitter für einen Tag?“
„He, ich bin Bozos Patin-Schrägstrich-Teilzeit-Mom. Und es war wundervoll und überaus anstrengend zugleich. Dann noch das erneute Zusammentreffen mit Jason, der es jedes Mal schafft, mich komplett durcheinanderzubringen …“ Der letzte Teil des Satzes entschlüpfte ihr mehr oder weniger unfreiwillig. Andererseits wussten die anderen offensichtlich sowieso schon Bescheid. Astrids nächste Aussage bestätigte diesen Eindruck.
„Ich wusste doch, dass ich mir das nicht nur einbilde“, sagte sie zufrieden.
„Ja, ja, auf meiner Seite vielleicht. Aber er hat mehr als deutlich klar gemacht, dass er keinen Kontakt zu mir wünscht.“
Bis heute zumindest. Aber alles musste sie den anderen auch nicht verraten. Freundinnen hin oder her. Sunny zum Beispiel sprach auch nie über ihre vermeintlich unerwiderte Schwärmerei für Luke, den stellvertretenden Feuerwehrchef. Mia war sich zwar nicht so sicher, dass es tatsächlich einseitig war, sie hatte die Blicke gesehen, die Luke Sunny zuwarf, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Aber egal.
„Wollten wir nicht eine Notfallstation planen?“, versuchte sie das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
„Nö“, antwortete Bertha und grinste. Anscheinend gefiel es ihr, dass nach der ganzen Aufregung um ihre und Lees Beziehung der Fokus mal auf jemand anderem lag. Dass Mia Lees Schwester war, machte es sicher nur noch spannender.
Zu Mias Erleichterung betraten in diesem Moment Brenda Carter und Nadine Saunders das Café. Die beiden engagierten sich sehr für Independence und seine Bewohner. Zusammen mit anderen Frauen hatten sie als Gegengewicht zur doch sehr männlich geprägten Sicht des Bürgermeisters die VGI, eine Abkürzung für „Vereinigung der Geschäftsfrauen in Independence“, gegründet. Dieses Komitee unterstützte als Business Angels und Mentorinnen mehrheitlich Frauen, die sich selbständig machen wollten. Zudem lag ihnen genau wie Astrid das soziale Gleichgewicht der kleinen Stadt am Herzen. Während der Bürgermeister oft nur in absoluten Zahlen dachte, bezogen sie auch sogenannte weiche Kriterien in ihre Rechnungen mit ein. Der VGI war es zu verdanken, dass Independence eine Apotheke, einen Spa und eine gut laufende Buchhandlung hatte, um nur einige ihrer Projekte zu nennen.
Sie winkte ihnen erleichtert zu. Allerdings hatte sie unterschätzt, wie gut diese beiden Frauen informiert waren.
„Was höre ich da über dich und Jason?“, war Nadines erste Frage.
„Wird auch Zeit, dass der Kerl eine vernünftige Frau findet.“
Mia seufzte. Sah ganz so aus, als würde das ein langer Nachmittag werden.
*
„So, ihr Krümelmonster. Zeit, ins Bett zu gehen“, rief Jason und schaute sich nach seinen Kindern um. Natürlich waren sie nirgends zu sehen, ein alltägliches Ereignis, wenn es darum ging, schlafen zu gehen. Er grinste. Fast wie ein Zauberspruch.
Er stand auf und verfrachtete Bozo vorübergehend in seine Transportkiste, die mitten im Wohnzimmer stand. Zwar hielt er den jämmerlichen Blick, den ihm der Welpe hinter dem Gitter zuwarf, fast nicht aus. Doch bis er die Kinder erfolgreich ins Bett befördert hatte, konnte es eine Weile dauern. Eine Weile, die der kleine Racker bestimmt dazu nutzen würde, sein Zimmer zu zerstören.
Als Mitglied der True Warriors hatte er nach der Trennung Kurts Angebot angenommen, eine Weile eines der Zimmer im Clublokal zu nutzen. Eines der Argumente gegen regelmäßige Besuche, die der Anwalt seiner Ex ins Feld geführt hatte, war gewesen, dass ein Clublokal kein geeigneter Aufenthaltsort für Kinder sei. Grundsätzlich war sich Jason da sogar mit ihm einig. Aber zwischen den zwei Jobs, die er hatte, um seine Alimente und die hohen Anwaltskosten zu bezahlen, war einfach weder Zeit noch Geld geblieben, um sich auch noch um eine Wohnung zu kümmern.
Zudem waren die True Warriors keine Bikergang im eigentlichen Sinne. Sie besaßen zwar direkt am Highway auf der Strecke zwischen Independence und Breckenridge das Clublokal, wo sie sich ab und zu trafen, eine Runde Billard spielten und Bier tranken. Eine Garage mit allem möglichen Werkzeug war direkt an das lange, ebenerdige Gebäude angeschlossen, sodass alle Mitglieder die Möglichkeit hatten, an ihren Motorrädern rumzuschrauben. Die Gelegenheit wurde rege genutzt. Außerdem gab es noch zwei Schlafzimmer, welche er jetzt beide nutzte.
Ursprünglich gedacht für Leute, die vielleicht einen über den Durst getrunken hatten, waren sie im Verlauf der Jahre zu einer Art Übergangslösung umfunktioniert worden. Blackbird hatte nach seiner Entlassung aus der Army eine Zeit lang dort gewohnt, bevor er sich in Charlie verliebt und eine Familie gegründet hatte. Auch der Kopf der True Warriors , Kurt, hatte eine Weile dort gewohnt, als er sich mit Miss Daisy zerstritten hatte. Jetzt war nur noch er dort. Mit Kurts Einverständnis hatte er den zweiten Raum zu einem Kinderzimmer umfunktioniert.
Er öffnete die Tür und hielt einen Moment inne, um zu prüfen, ob er Aria atmen hörte. Conrad war schon ein richtiger Meister im Verstecken, aber Aria verriet sich öfter. Doch die Luft im Raum wirkte unbewegt, als wäre schon länger niemand mehr im Zimmer gewesen. Zur Sicherheit schaute er unter dem Bett nach, hinter dem Vorhang und im Schrank. Ohne Erfolg. Kopfschüttelnd verließ er den Raum und steuerte auf die Treppe zu. Vielleicht konnte er Bozo als Spürhund trainieren, wenn er erst einmal älter war. Er würde Adrian fragen. Als erfahrener Hundeführer und Besitzer zweier ausgebildeter Bluthunde konnte er ihm bestimmt sagen, ob die Idee etwas wert war oder ob bei dem Golden Retriever Hopfen und Malz verloren war.
Er fand die beiden Kinder im Gemeinschaftsraum, tief in ein Würfelspiel mit Thor vertieft. Besser gesagt, Conrad und Thor würfelten, während Aria versuchte, aus Thors halblangen blonden Strähnen einen Zopf zu flechten. Jason zog sein Telefon hervor und machte ein Foto. Damit konnte er Thor später ein wenig ärgern.
„Es tut mir leid, aber ich muss euch leider unterbrechen.“
„Dad! Wir sind grad so schön am Spielen!“, protestierte Conrad und schüttelte den Würfelbecher.
Aria nickte bestätigend. Ihre Zungenspitze schaute zwischen ihren Lippen hervor, so konzentriert war sie. Schließlich streckte sie eine Hand in Jasons Richtung aus. Er ergriff sie und stellte sich neben sie.
„Kommst du mit?“
„Nein. Ich brauche ein Haargummi.“
„Ein was?“
„Ein Haargummi“, wiederholte sie ungeduldig.
„Tut mir leid. Habe grad das letzte gebraucht“, witzelte er.
„Aber ich brauche eins!“
„Und wenn wir eins von deinen nehmen?“
Entsetzte Mädchenaugen schauten zu ihm auf.
„O-o. Offenbar nicht.“
„Das geht doch nicht“, erklärte sie ihm. „Das wäre dann ja eine Mädchenfarbe.“
„Aha. Dann weiß ich leider auch nicht.“
Arias Unterlippe begann verdächtig zu zittern. Thor, dem das nicht entgangen war, schob seine Hand in seine Jeans und begann darin herumzusuchen. Als er sie wieder herauszog, hatte er ein Stück Bindfaden in der Hand.
„Funktioniert das auch?“
Verdächtig glänzende Augen begegneten seinem Blick, als sie nickte.
Jason und Thor atmeten gemeinsam erleichtert auf.
„Ich helfe dir“, sagte er zu ihr.
Geschwind wickelte er die Schnur um den kurzen, krummen Zopf, den sie Thor verpasst hatte. Aria strahlte. Geschwind hob er sie hoch und setzte sie auf seine Schulter. Das Mädchen kreischte vor Freude.
„Du auch“, sagte er zu Conrad und hielt ihm seine Hand hin.
Zu seinem Erstaunen protestierte sein Sohn kein zweites Mal, sondern stand wortlos auf.
„Danke“, sagte Jason zu Thor.
„Jederzeit, Mann.“
*
Jason ließ das Badewasser einlaufen, während die Kinder sich auszogen. Conrad war als Erster fertig und hüpfte ins warme Wasser.
„Wo ist Aria?“
„Noch am Blödsinn machen“, antworte sein Sohn und schnappte sich das Unterseeboot, mit dem er so gerne spielte.
Aria rollte sich auf dem Boden umher und schien mit einer hartnäckigen Socke zu kämpfen.
„Kleiner Käfer, soll ich dir helfen? Du liegst auf dem Rücken.“
Sie kicherte und zog stärker an der Socke. Er kitzelte sie ein wenig, um sie dazu zu bringen, ihren Griff zu lockern. Endlich ließ sie los und konnte das widerspenstige Kleidungsstück von ihrem Fuß ziehen. Eins nach dem anderen folgte. Als er ihr das T-Shirt auszog, stutzte er. Hässliche blaue Flecken spannten sich über ihren Oberarm. Bei dem Anblick zog er scharf die Luft ein. Was zum Teufel … Sanft strich er mit der Hand darüber. Kaum hatten seine Finger ihre Haut berührt, zuckte sie zusammen und wich rückwärts krabbelnd vor ihm zurück.
„Sch …“, versuchte er sie zu beruhigen, doch sie sah ihn nur weiterhin furchtsam an. Was ging hier vor sich? Den ganzen Tag war doch alles bestens gewesen?
„Was ist da passiert? Hast du dir wehgetan?“
Erst schüttelte sie den Kopf, dann nickte sie, als sei sie sich selber nicht sicher. Tausend Gedanken und Möglichkeiten rasten durch seinen Kopf. War sie gefallen? Oder hatte sie jemand gepackt? Wenn ja, wer? Am liebsten hätte er all diese Fragen auch Aria gestellt, doch ihm war klar, dass sie in diesem Moment keine brauchbare Antwort geben würde.
„Komm“, sagte er deshalb nur und hielt ihr seine Hand hin. „Die Badewanne wartet. Wenn wir zu spät kommen, hat Conrad sicher bereits das ganze Wasser ausgetrunken.“
Wie er gehofft hatte, musste sie bei der Vorstellung lachen. Die Verletzung offensichtlich schon wieder vergessen, sprang sie auf und rannte voraus.
Jason brauchte einen Moment länger, um sich zu fassen. Was war nur seinem Mädchen widerfahren?
Eine Wasserschlacht und fünf nasse Handtücher später hatte er die beiden in das große Bett verfrachtet, das sie sich teilten. Aria schlief bereits und schnarchte leise. Conrad lag noch mit offenen Augen da. Jason setzte sich neben ihn auf die Bettkante und strich ihm übers Haar.
„War heute ein guter Tag?“, fragte er ihn leise.
Seine Augen leuchteten auf und er nickte.
„Ja, sehr.“
Jason zögerte. Am liebsten hätte er ihn sofort nach irgendwelchen außergewöhnlichen Vorfällen befragt. Das würde er auch definitiv tun müssen. Aber nicht heute Abend, wo er sowieso nichts tun konnte. Er beugte sich vor und umarmte ihn.
„Schlaf gut, mein Großer. Morgen ist ein neuer Tag mit Bozo.“
„Gute Nacht, Dad.“
*
Leise zog er die Tür hinter sich zu. Zurück im anderen Zimmer entließ er Bozo aus seinem temporären Gefängnis. Der Welpe reagierte, als wären sie Tage, nicht eine knappe Stunde, getrennt gewesen. Den Hund unter den Arm geklemmt, nahm er die Treppe ins Erdgeschoss. Dort setzte er den Welpen ab, der sofort auf Erkundungstour ging. Während er ihn beobachtete, wirbelten die verschiedensten Gedanken und Emotionen durch seinen Kopf. Er wusste gar nicht, an welchem Ende er ansetzen sollte, um sie zu entwirren. Das Schlimmste an der ganzen Situation war, dass er seine beiden Kinder morgen Abend wieder zu Christelle zurückbringen musste, ganz egal, was ihm Conrad und Aria erzählen würden. Zudem war morgen Sonntag. Da konnte er mit Aria nicht mal zum Arzt gehen. Was für eine Scheiße! Außer … Er zog sein Telefon hervor und scrollte durch die Kontakte.
Als er bei Mias Nummer ankam, schwebte sein Finger sekundenlang bewegungslos über ihrem Namen. Sollte er sie anrufen? Ihr eine Nachricht schreiben? Aber was? Frustriert ließ er das Telefon wieder sinken. Vielleicht machte er auch aus einer Mücke einen Elefanten. Gut möglich, dass Aria lediglich gestolpert war und jemand sie helfend am Arm gepackt hatte. Sein Bauchgefühl sagte ihm allerdings etwas anderes. Die Frage war nur, wie verlässlich seine Intuition war, wenn es um seine Ex-Frau und seine Kinder ging. Zwischen ihnen war so viel böses Blut, dass er seinem eigenen Urteilsvermögen nicht hundertprozentig vertraute. Die blauen Flecken waren sein einziger Anhaltspunkt.
Der große Raum war leer. Thor war offensichtlich nach Hause gegangen. Auch in der Garage brannte kein Licht. Er ging zum Kühlschrank und griff nach einer Flasche Bier. Eine kurze Drehung aus dem Handgelenk und die Flasche war offen. Normalerweise machte es ihm nichts aus, alleine zu sein. Heute Nacht jedoch fühlte er sich eindeutig einsam. Wie ein Geist huschte Mias lächelndes Gesicht an seinem inneren Auge vorbei. Was hatte die zierliche Frau nur an sich, dass sie ihn so faszinierte? Zugegeben, sie hatte große Pluspunkte gesammelt, als sie zu seinen Kindern so freundlich gewesen war. Ihre lockere Art hatte die beiden sofort jegliche Befangenheit verlieren lassen. Das war schon mal gut.
Aber wenn er ehrlich war, war es mehr als das. Jedes Mal, wenn er in ihrer Nähe war, ach Quatsch, selbst, wenn er bloß an sie dachte, verspürte er die unwiderstehliche Anziehungskraft, die von ihr ausging. Aber nachdem er nicht die Absicht hatte, dieser Anziehungskraft zu erliegen, bestand überhaupt kein Grund, sie anzurufen, rief er sich streng in Erinnerung. Er öffnete die Eingangstür und rief nach Bozo.
„Komm, Kleiner. Letzte Pipi-Runde, bevor auch du ins Körbchen gehst.“
Der kleine Golden Retriever galoppierte auf ihn zu, schlitterte die letzten Meter über den glatten Holzboden und stürmte nach draußen.