Kapitel 17
Jason konnte es nicht fassen, dass er in nicht einmal fünf Minuten das tun würde, was er sich geschworen hatte, für den Rest seines Lebens zu lassen. Nämlich zu heiraten. Rastlos ließ er seinen Blick zum Waldrand und zu den majestätischen, immer noch schneebedeckten Gipfeln schweifen, während er am Kragen seiner Lederjacke zerrte. Tat er das Richtige? Das Richtige für wen? Seine Kinder? Oder war es nur ein Fall von plötzlicher Lust? Wenn ja, dann hatte er spätestens in ein paar Wochen ein großes Problem, so viel stand schon mal fest. Und war es das Richtige für Mia? Oder versaute er gerade ihr Leben, wie es ihm Christelle so oft vorgeworfen hatte?
„Du wirst hier noch ein Loch in den Boden treten, wenn du nicht aufhörst, wie ein ungeduldiger Bulle mit den Hufen zu scharren. Was ist eigentlich los mit dir? Soweit ich weiß, bist du freiwillig hier.“ Thor musterte ihn besorgt. „Falls dem nicht so ist, sind wir in Nullkommanichts von hier verschwunden.“
„Nein. Alles bestens“, schnappte Jason.
„Ja, das sehe ich. Du siehst richtiggehend entspannt aus und als wärst du voller Vorfreude.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Das war gelogen. Du bist ein Wrack.“
„Das war es, was ich schon den ganzen Morgen hören wollte“, grummelte Jason.
„Jetzt krieg dich mal wieder ein. Mia ist nicht Christelle. Wenn du jemanden gebeten hättest, das genaue Gegenteil von der Hexe zu beschreiben, wäre dabei Mia herausgekommen“, brummte Thor, der offenbar gemerkt hatte, dass seine sarkastischen Bemerkungen nicht sehr hilfreich waren.
„Ich hoffe es.“
Jason war so aufgewühlt, dass er nichts um sich herum mitbekam. Sein Blick verlor sich irgendwo in der Ferne, ohne die atemberaubende Landschaft, die ihn umgab, wahrzunehmen. Erst als ein scharfer Pfiff ertönte, drehte er sich um. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass alle auf ihn warteten. Mia stand in der offenen Tür und schaute ihm strahlend entgegen. Ihr Anblick raubte ihm den Atem und ließ sein Herz schneller schlagen. Er hatte keine Ahnung, womit er diese Frau verdient hatte. Wahrscheinlich gar nicht. Nichtsdestotrotz würde er sie mit beiden Händen festhalten und nie mehr loslassen. Überrascht von dieser Erkenntnis trat er einen halben Schritt zurück. Wann war denn das passiert? Gleichzeitig merkte er, wie sich seine Ängste in Luft auflösten und vom Wind davongetragen wurden. Jetzt, wo sie hier war, stimmte wieder alles in seiner Welt. Das Gewicht, das auf seinen Schultern lag, hob sich. Er lächelte.
„So ist es schon besser“, brummte Thor und boxte ihn freundschaftlich in die Schulter. „Hast du die Ringe?“
„Shit! Die Ringe! Wo zum Teufel ist Lee mit dem Hund?“ Er fasste in den Kragen seines Shirts und zerrte daran, als ihm der Schweiß ausbrach.
Thor runzelte die Stirn, während sein Hirn versuchte, sich einen Reim aus Jasons Worten zu machen.
„Du hast Lee die Ringe anvertraut? War das klug? Ich dachte, er sei voll gegen diese Heirat?“
„Er schien sich an die Idee gewöhnt zu haben. Zudem wollte ich, dass er sie Bozo um den Hals bindet. Lee ist ja nicht zu übersehen. Nur den Hund sehe ich nicht.“
Thor verschluckte sich fast, als er ein Lachen unterdrückte.
„Die kleine Fellkugel? Die wird von jedem Schmetterling abgelenkt. Da landen deine Ringe vermutlich auf dem Mount Cooper.“
„Lach nicht“, presste Jason zwischen den Zähnen hervor, während er gleichzeitig Mia zulächelte, die am Arm ihres Bruders immer näher kam. Hinter ihr folgten Susan und Bertha, hinter ihnen die
True Warriors
. Immer mehr Freunde und Bekannte, wie die Disney Sisters, gesellten sich von der Seite dazu und verteilten sich auf den aufgestellten Stühlen. „Hoff lieber, dass er sich an sein Versprechen erinnert.“
„Ich bin sicher, Mia sieht das entspannt.“
Jason vermutete, dass Mia gar nicht mit einem Ring rechnete. Gesprochen hatten sie darüber nie. So geschäftsmäßig, wie sie diese Heirat angegangen waren, war das Thema gar nicht zur Sprache gekommen. Einzig in der Dunkelheit der Nacht war rein gar nichts Geschäftsmäßiges an ihrem Zusammensein. Natürlich fragte er sich bei dieser Erinnerung sofort, was Mia wohl von dem Vorschlag halten würde, diese Erfahrung bei Tageslicht unter freiem Himmel zu wiederholen.
Mia schaute ihrem Zukünftigen entgegen. Nur noch wenige Meter, dann hatte sie ihn erreicht. Der Blick in seinen Augen verdunkelte sich, wurde intensiver. Hitze schoss in ihre Wangen. Sie wusste genau, woran er gerade dachte. Die letzten Nächte hatten sich in dieser Hinsicht als sehr … lehrreich erwiesen. Er war ein wundervoller Liebhaber. Ihre Wangen und andere Körperstellen wurden heiß.
Jasons Lächeln vertiefte sich. Natürlich. Sie war nicht die Einzige, die gelernt hatte, ihr Gegenüber zu lesen. Blieb nur zu hoffen, dass die anderen nichts von den nicht ganz jugendfreien Gedanken mitbekamen.
Endlich kamen sie bei den beiden Männern und dem geschmückten Blumenbogen an.
Lee küsste Mia auf die Wangen.
„Ich wünsche dir Glück, Schwester.“
Dann legte er ihre Hand in Jasons linke, während er selber die rechte ergriff und schüttelte.
„Pass auf sie auf. Sonst kriegst du es mit mir zu tun.“
Jason, der gehört hatte, dass Lee fleißig in Pats Kampfsportzentrum trainierte, wusste, dass das keine leere Drohung war. Aber anstatt beleidigt zu sein, schüttelte er seinem baldigen Schwager die Hand. Er war froh, dass Mia Menschen in ihrem Leben hatte, die sich um sie sorgten und auf sie aufpassten.
„Das werde ich. Versprochen.“
Mia verdrehte die Augen.
„Können wir dann zum Heiraten übergehen, wenn ihr mit euren männlichen Bonding-Ritualen durch seid?“
Die Menge hinter ihnen lachte, als sie ihre Worte hörte. Die Männer hingegen ignorierten sie.
„Gut.“
„Was ist mit …?“
„Es gab eine kleine Planänderung. Aber keine Sorge, ich habe an alles gedacht.“
Planänderung? Was für eine Planänderung?!
Jason wusste nicht, ob seine Nerven eine Planänderung mitmachen würden. Sah ganz so aus, als würde er es herausfinden, ob er wollte oder nicht.
Mia zupfte an seinem Ärmel.
„Wollen wir?“
„Hungrig?“, zog er sie auf. „Du bist übrigens wunderschön.“
„Immer“, konterte sie und ignorierte das Kompliment. Sie würde nicht hier, vor all den Leuten, in Tränen ausbrechen. Das stand nicht auf ihrem Plan für heute. „Vor allem, nachdem ich die letzten Stunden damit zugebracht habe, Champagner zu trinken. Unser Frühstück konnte dem nicht viel entgegenhalten.“
Unser Frühstück. Die Worte schienen alles auszudrücken, worum es in diesem Moment ging. Unerwartet tief berührt, legte er seine freie Hand an ihre Wange. Er schluckte, als er den flatternden Puls an Mias Kehle entdeckte. Es war ungemein beruhigend zu wissen, dass er mit seinen Emotionen nicht allein war.
„Mia. Du, ich und alle anderen wissen, dass wir uns aus ungewöhnlichen Gründen für diesen Schritt entschieden haben. Doch ich möchte, dass du weißt, dass du in der kurzen Zeit für mich unglaublich wichtig geworden bist.“
Mia schaute ihn überrascht an. Sie hatte nicht erwartet, dass er etwas so Persönliches sagen würde. Was war denn mit ihrem –
ihrem?
– wortkargen, zurückhaltenden Mann passiert?
„Während es die letzten Jahre nur meine Kinder geschafft haben, Licht in die Dunkelheit zu bringen, bist du wie ein Sonnenstrahl, der mein Leben erhellt.“
Verdammt! Wenn er so weitermachte, würde sie doch noch weinen müssen. Mia blinzelte heftig, um die aufsteigende Feuchtigkeit in ihren Augen zu verdrängen. Und was um Himmels willen sollte sie sagen? Sie hatte nichts vorbereitet. Kein Versprechen. Keine Rede. Gar nichts.
Jason führte Mias Hand zu seinen Lippen und küsste den Rücken ihrer Finger. Wie jede seiner Berührungen schickte auch diese ein Prickeln durch ihre Nervenbahnen, das sie bis in ihre Zehen spürte.
„Deshalb gelobe ich, dich zu lieben und zu ehren, in guten wie in schlechten Zeiten. Du machst mich zu einem besseren Menschen. Heiratest du mich?“
Er sah ihre erstaunte Miene, den Schock, den Unglauben. Er wusste, was sie dachte. Von Liebe war nie die Rede gewesen. Himmel, er hatte es sich selbst nicht eingestehen wollen bis vor ein paar Sekunden. Sonst hätte er es ihr bereits gesagt, in einem privateren Rahmen. Vielleicht war das nicht seine schlaueste Idee gewesen, aber irgendwie war es ihm passend erschienen.
Liebe? Tausend Gedanken schwirrten in Mias Kopf wie aufgescheuchte Schmetterlinge herum. Hatte er gerade tatsächlich gesagt, dass er sie liebte? Oder war das nur ein Ausdruck im Sinne der Zeremonie? Sie schaute in seine blauen Augen, bemerkte die feinen Linien an den Augenwinkeln, die sich vertieften, als er sie besorgt anschaute.
Jason merkte, dass seine Ankündigung sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er nahm es ihr nicht übel, dass sie ihm nicht sofort ebenfalls ihre Liebe versicherte. Darum war es ihm nicht gegangen.
„Ich warte immer noch auf eine Antwort“, bemerkte er mit Humor in seiner Stimme.
Mia lächelte erleichtert. Er wollte eine Antwort. Diese konnte sie ihm gerne geben.
„Natürlich heirate ich dich. Dich und deine Kinder. Ich werde alles dafür tun, dass wir eine echte Familie werden.“
Bei ihren letzten Worten sah sie ihm tief in die Augen und legte all ihre Gefühle für ihn in ihren Blick. Ihre Hoffnungen, ihre Sehnsucht und ihre Liebe. Sie hoffte, es war genug.
Jason sah sich nach Lee um und machte eine auffordernde Bewegung mit seinem Kinn. Lee nickte und bückte sich. Spartacus stand auf und fasste mit seinen Zähnen behutsam den Henkel eines kleinen, geflochtenen Korbs. Lee deutete in Jasons Richtung. Unsicher sah der Hund von einem zum anderen.
Jason, der endlich begriffen hatte, was Lee mit der Planänderung gemeint hatte, rief den Hund zu sich.
„Hey, Spartacus. Komm zu mir.“
Endlich setzte sich der Hund in Bewegung. Sein Schwanzstummel wedelte, als er bei den beiden ankam. Erwartungsvoll setzte er sich hin und wartete brav, bis ihm Mia den Korb vorsichtig abnahm. Jason war vorbereitet und holte einige Hundekekse aus der Tasche seiner Lederjacke.
Bozo, der zwar um den Job herumgekommen, aber natürlich ebenfalls dabei war, rannte los, als er die Kekse witterte. So schnell ihn seine kurzen Beine trugen, galoppierte er zu dem Brautpaar, wo er prompt an Jasons Hosenbeinen hochstieg.
„Typisch Golden Retriever“, tönte es aus der Reihe, in der Kat und Paula saßen.
Jason verteilte seine letzten Kekse, während Mia beiden über den Rücken streichelte.
„Das war eine schöne Idee“, lobte Mia und schaute ihn von der Seite an.
Er konnte nicht widerstehen und drückte ihr einen kurzen Kuss auf den Mund.
„Ich glaube, es steht uns noch ein Schritt bevor“, sagte er und deutete auf den Korb. Darin lag ein dunkelblaues Kissen, auf dem zwei Ringe festgebunden waren. Mit einem Zug an einem der Bänder lagen sie frei. Jason griff nach dem kleineren und schob ihn auf Mias Finger. Er passte perfekt.
„Aber wie …“
„Ich habe einen deiner Ringe gemessen“, antwortete er verschmitzt.
„Ich wusste nicht einmal, dass wir Ringe haben würden“, staunte sie. Sie griff nach dem zweiten Ring und erwiderte die Geste, bevor sie aufschaute und ihn anlächelte.
Die Schicksalsgöttin meinte es heute gut mit ihm, dachte Jason, als er in ihre Augen schaute. Er las Hoffnung und Zuneigung in ihrem Blick. Vielleicht würde sie eines Tages seine Liebe erwidern. In der Zwischenzeit hatte er genug für sie beide.
„Jetzt küss sie endlich“, johlte jemand in den Sitzreihen. Ein paar Pfiffe ertönten.
„Sollen wir?“, fragte er Mia.
„Müssen wir wohl“, antwortete sie und grinste. „Dann bieten wir ihnen doch die Show, die sie erwarten!“
Spätestens mit diesen Worten bestätigte sich seine Vermutung. Er war ein Glückspilz. Nur zu gern kam er ihrer Aufforderung nach. Eine Hand um ihre Taille geschlungen, die andere an ihrem Nacken bog er sie hintenüber, bevor er sie küsste.
Hinter ihnen klatschten die Leute. Shauna filmte, was das Zeug hielt. Jemand murmelte das Wort „filmreif“, jemand anders die Worte „nicht jugendfrei“.
Mia hörte nichts von all dem. Wie jedes Mal wurde sie von Jasons Kuss in eine völlig andere Welt entführt. Eine Welt, in der nichts anderes existierte außer sie beide.
Erst als Bozo genug davon hatte, ignoriert zu werden, und Jason am Hosenbein packte, lösten sie sich voneinander.
„Wow.“
Jason strich mit dem Daumen ein letztes Mal über ihre Lippen. Sie glänzten rosig und waren leicht geschwollen von dem Kuss.
„Wow ist eine sehr treffende Beschreibung. Komm. Wir müssen noch unsere Heiratserlaubnis unterschreiben.“
Bozo ließ nicht locker, seine Zähne fest in den Stoff von Jasons Hose vergraben. Lee sprang von seinem Sitzplatz in der vordersten Reihe auf und kniete sich neben dem Welpen nieder.
„Komm, kleiner Zerstörer. Du kannst zu Onkel Lee kommen. Deine Eltern haben gerade nichts Besseres im Kopf, als vor großem Publikum zu knutschen.“ Er wedelte mit einem Schweineohr vor Bozos Nase herum. Das stinkende Ding bot genügend Versuchung, dass der Welpe von Jasons Hose abließ. Die neue Beute im Maul, ließ er sich bereitwillig von Lee hochheben.
Thor, der geduldig neben ihnen gewartet hatte, präsentierte ihnen ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber.
„Hier“, er deutete auf die Linie, „und hier bitte unterschreiben.“
Mia nahm den Stift entgegen und setzte zum Schreiben an, als ihr plötzlich einfiel, dass sie gar nicht wusste, welchen Namen sie jetzt schreiben sollte.
„Welcher Name?“, zischte sie Jason zu.
„Welcher Name?“
„Ja. Nehme ich deinen an? Oder behalte ich meinen? Darüber haben wir gar nie gesprochen.“
Wie hatten sie das nur vergessen können?
„Wie du möchtest“, antwortete Jason. „Christelle hat damals ihren Namen behalten. Meiner war wohl nicht chic genug.“
Das vereinfachte die Sache für Mia.
„Dann nehme ich deinen an.“
Schwungvoll schrieb sie ihren Vornamen hin, dann stoppte sie abrupt.
„Wie heißt du mit Nachnamen?“
Thor, der natürlich alles mitanhörte, lachte los. Vergeblich versuchte er es hinter einem gespielten Hustenanfall zu verstecken.
„Bright. Ich heiße Bright.“
Auch Mias Mundwinkel zuckten.
„Schöner Name. Mia Bright. Mir gefällt der Klang.“
„Dann bin ich froh.“
Sie beugte sich abermals über das Dokument und setzte ihren neuen Namen darunter. Ein paar Sekunden später händigten sie das nun unterschriebene Dokument wieder an Thor aus, der versprach, es am nächsten Tag umgehend ans Standesamt zu schicken.
Jason bot Mia seinen Arm an.
„Wollen wir, Mrs. Bright?“
Ein erwartungsvoller Schauer lief über Mias Haut, als sie ihre Hand in seine Armbeuge legte. Sie war tatsächlich Mrs. Bright. Und wenn sie nicht alles täuschte, hatte sie nicht nur einen Ehemann auf dem Papier, sondern auch sein Herz gewonnen.
*
Ace, der Chef der Feuerwehr, stand in einer Ecke des Diners und versuchte, seine Laikahündin Lilo & Maybellene, die kleine Schipperkehündin seiner Frau Paige, dazu zu bringen, ruhig auf ihrer Decke liegen zu bleiben. Stattdessen tanzten sie aufgeregt um ihn herum und taten ihr Bestes, ihn in die Leinen einzuwickeln, die er in der Hand hielt.
„Wieso lässt du sie nicht einfach frei?“, fragte Luke, sein Stellvertreter, amüsiert.
„Weil Lilo klaut wie ein Rabe. Und Maybellene fürchtet sich vor so vielen Menschen, wenn ihre Freundin nicht in der Nähe ist.“
„Hast du das Lilo mal erklärt?“
Ace warf ihm einen bösen Blick zu.
„Sie kommt ihren Beschützerpflichten sehr wohl nach. Aber eben erst, nachdem sie das Buffet geplündert hat.“
Luke lachte und wandte sich seinem Lieblingszeitvertreib bei solchen Anlässen zu, dem Beobachten der Gäste. Eben begrüßten zwei Frauen das Brautpaar. Von seinem Standort aus sah er die Neuankömmlinge nur von hinten. Allerdings war es eine sehr ansprechende Aussicht. Die eine dunkelhaarig, die andere blond. Die dunkelhaarige trug ihre Tätowierungen an beiden Armen zur Schau und hatte die Hand auf den Kopf eines riesigen Irischen Wolfshundes gelegt. Ob das wohl ihrer war? Aber es war vor allem die etwas kleinere der beiden Frauen, die es ihm angetan hatte. Ihre sagenhaft schönen Beine wurden erst im oberen Drittel von einem Stück fließendem Stoff unterbrochen. Der Rock schmiegte sich an ein wohlgerundetes Hinterteil, deutete eine schmale Taille an, um sich über eine beeindruckende Oberweite zu spannen. Seine Hände juckten bei dem Gedanken, diese Kurven mit seinen Fingerspitzen zu verfolgen. Wer war sie? Er legte den Kopf schräg, um einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. Ohne Erfolg.
Entschlossen, diesen Umstand zu ändern und sich vielleicht sogar vorzustellen, klopfte er Ace kameradschaftlich auf die Schulter und wünschte ihm viel Erfolg mit seinem vierbeinigen Problem. Die Verwünschungen, die sein Freund ihm hinterher schickte, hörte er schon nicht mehr. Schließlich war es ja so was wie Tradition, bei einer Hochzeit eine der Brautjungfern abzuschleppen. Bei seinen recht vulgären Gedanken wand er sich innerlich, auch wenn er sich zugleich versicherte, dass ja nichts dabei war, wenn zwei Erwachsene einvernehmlich einen One-Night-Stand hatten. Und er brauchte dringend etwas, was ihn von seiner absolut unpassenden Faszination von einer gewissen nervigen, aber sehr verlockenden Mitarbeiterin ablenkte. Himmel, er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er zum letzten Mal Sex gehabt hatte. Das konnte doch nicht gesund sein.
Er näherte sich den beiden von hinten. Seinen Blick ausschließlich auf das Brautpaar gerichtet, streckte er seine Hand zwischen den beiden Frauen hindurch, um Mia und Jason zu gratulieren, bevor er fragte: „Wollt ihr mich nicht vorstellen?“
Mia runzelte ungläubig die Stirn und sah ihn an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Was zum Teufel spielte Luke für ein Spiel? Klar, Zoé kannte er wahrscheinlich nicht. Aber Sunny sah er jeden Tag.
Jason hingegen konnte sich gut vorstellen, was hier lief. Er fand es sehr lustig, dass Luke Sunny nicht erkannt hatte. Von hinten und ganz anders gekleidet als sonst, war das kein Wunder. Oder war er etwa wegen Zoé hier? Er bezweifelte es. Ganz Independence wusste, dass Luke und Sunny scharf aufeinander waren. Es war allen ein Rätsel, weshalb die beiden nicht schon längst zusammen waren.
Er setzte dazu an, alle einander vorzustellen, als Sunny ihn gedehnt fragte: „Sieh mal an, wen wir hier haben? Ihr habt aber auch jeden eingeladen …“
Offenbar hatte sie aus dem Augenwinkel gesehen, wie Luke sich näherte. Jason grinste. Das würde lustig werden.
Luke erstarrte und schloss die Augen. Nicht im Ernst! Diese Stimme. Wie in Zeitlupe drehte er sich zu der Blonden um, die Augen schmal zusammengekniffen.
„Sunny“, stellte er überflüssigerweise fest, als er ihr endlich gegenüberstand.
Sunny sah so aus, als würde sie vor lauter Belustigung gleich platzen.
„Dir ist also mein Name doch noch eingefallen.“
„Ich habe dich nicht erkannt“, erwiderte er steif. „Was machst du denn hier in diesem Aufzug? Kein Wunder, dass ich dich nicht erkannt habe!“ Er zuckte unmerklich zusammen. Selbst in seinen Ohren klang er wie ein verklemmtes Arschloch. Aber er würde seine Worte nicht zurücknehmen.
Sunnys mildes Amüsement wandelte sich in Ärger.
„Was meinst du damit? Das ist ein Kleid!“
„Ein sehr schönes noch dazu!“, mischte sich Mia ein.
Während er noch nach den richtigen Worten suchte, lehnte Zoé sich vor.
„Nur weil dir offenbar bis jetzt entgangen ist, dass Sunny Brüste hat, gibt dir das noch lange nicht das Recht, sie in Verlegenheit zu bringen! Überleg dir also gut, was du sagst.“
„Und wer bist du?“, fragte er verärgert, immer noch völlig von der Rolle durch Sunnys unerwartet sexy Auftritt. Zudem erstickte er vermutlich nächstens an sexueller Frustration.
„Hast du einen Dollar für mich“, fragte sie Sunny beiläufig.
Diese hob fragend die Augenbrauen, griff aber folgsam nach ihrer Clutch, kramte daraus einen Dollarschein hervor und gab ihn an Zoé weiter.
„Danke.“ Wieder an Luke gewandt, beantwortete sie seine Frage.
„Ich bin Zoé, Sunnys Anwältin. Jungs wie dich verspeise ich zum Frühstück.“ Ihr Lächeln glich eher einem Zähnefletschen. Ihr Riesenvieh von Hund sah dagegen geradezu sanftmütig aus.
Luke konnte nicht fassen, was er hörte. Jungs? Seit Jahren hatte niemand außer den Disney Sisters es gewagt, ihn so zu nennen. Wozu brauchte Sunny eine Anwältin? Und wieso waren auf einmal alle gegen ihn? Als er auch in Mias Blick nur Mitleid las und sah, dass Jason kurz davor war, lauthals zu lachen, beschloss er, den Rückzug anzutreten. Zu Hause wartete eine Flasche Jack Daniels auf ihn. Die Lust auf Gesellschaft, insbesondere weibliche mit traumhaften Kurven, war ihm sowieso vergangen. Okay. Letzteres war schlichtweg gelogen. Aber manche Situationen verlangten geradezu nach ein wenig Selbstbetrug. Das hier war so eine.
So würdevoll wie möglich verabschiedete er sich steif von Sunny, Zoé und Mia. Jason schenkte er ein knappes Nicken. Was war eigentlich aus der sogenannten Männersolidarität geworden? Oder wurde die im Zuge einer Hochzeit automatisch aufgehoben? Er wusste es nicht.
*
Die Gruppe sah ihm nach, wie er sich seinen Weg durch die verschiedenen Gäste bahnte und durch die Tür nach draußen verschwand.
„Herrje, dieser Typ hätte dich am liebsten an Ort und Stelle verschlungen!“ Zoé fächelte sich Luft zu.
„Wenn er eine Comicfigur wäre, hätte er seine Zunge vom Boden aufrollen müssen“, bestätigte Jason mit einem Kopfnicken.
Mia grinste.
„Wann geht ihr endlich miteinander ins Bett?“
Sunny schüttelte den Kopf.
„Vermutlich erst, wenn die Hölle zufriert. Aktuell weigert er sich, es überhaupt in Betracht zu ziehen, unter anderem, da ich für ihn arbeite.“
Mia grinste.
„Ach. Auch so ein Sturkopf wie mein Bruder einer war.“
Lee hatte eine ähnliche Geschichte mit Bertha erlebt und sie deshalb fast verloren. Zum Glück war Bertha erfinderisch genug gewesen, um das zu verhindern. Jetzt waren sie seit einigen Monaten ein Paar.
„Wieso sind Männer solche Idioten?“, fragte Sunny frustriert.
Zoé zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Wenn du die Antwort auf diese Frage findest, bist du wahrscheinlich eine reiche Frau.“
„Lass uns etwas essen“, schlug Mia vor und steuerte zielstrebig das Buffet an.
„Ladies, bis später. Meine Frau hat Hunger“, rief Jason und eilte Mia hinterher.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast glauben, diese Hochzeit sei echt“, bemerkte Zoé nachdenklich.
Sunny starrte sie verblüfft an.
„Natürlich ist das echt. Das sieht man doch.“ Sehnsüchtig fügte sie hinzu: „Ich habe schon lange nicht mehr so ein verliebtes Paar gesehen.“