Kapitel 20
„Wieso sind wir nicht in der Schule und im Kindergarten?“, verlangte Conrad zu wissen.
Christelle gab ihm dieselbe Antwort, die sie schon die letzten gefühlt fünfhundert Mal gegeben hatte, die er gefragt hatte.
„Ihr habt heute frei und dürft einen Ausflug machen.“ Den Zusatz „Ist das nicht toll“, den sie während der ersten paar Male noch mit vorgetäuschtem Enthusiasmus hinten drangesetzt hatte, ließ sie schon lange weg. Ihr fehlte einfach die Energie, zumal die beiden Kinder nicht darauf zu reagieren schienen. Zumindest nicht in der Art und Weise, wie sie es erwartet hatte. Statt sich zu freuen, weinte Aria bereits seit vierzig Minuten vor sich hin, seit sie herausgefunden hatte, dass sie ihre Freundin heute nicht sehen würde. Conrad hatte ebenfalls missbilligend die Stirn gerunzelt. Was um Himmels willen stimmte mit den beiden nicht? Wünschte sich nicht jedes Kind einen zusätzlichen freien Tag? Ihre beiden offensichtlich nicht. Sie war nur froh, dass Conrad daran gedacht hatte, Arias Lieblingsstoffhasen mitzunehmen. Das hatte wenigstens verhindert, dass ihr Geschrei zur Lautstärke einer Heulboje anwuchs.
Das ist alles Jasons Schuld, dachte sie grollend, während sie unablässig die Zufahrt zur Tankstelle beobachtete. Von ihr hatten sie dieses fehlplatzierte Pflichtbewusstsein bestimmt nicht.
Abermals warf sie einen Blick auf die Uhr an ihrem Armaturenbrett. Sie warteten bereits seit fast einer Stunde auf diese verlogene Ärztin. Sie hatte erwartet, dass sie sich ein wenig beeilen würde. Aber das bestätigte ihre Vermutung, dass ihre Besorgnis um die Kinder nichts weiter gewesen war als ein geschickter Schachzug, um Jason für sich zu gewinnen. Aria und Conrad waren seine Schwachstelle. Eine Schwachstelle, die sie selbst geschickt für sich zu nutzen gewusst hatte. Ihr wurde ein wenig mulmig bei dem Gedanken, dass sie kurz davorstand, ihr Druckmittel aus der Hand zu geben.
Eine Welle der Übelkeit überkam sie und sie schluckte. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Ein leichtes Zittern durchlief ihren Körper. Sie brauchte dringend ein paar Pillen. Die Wirkung ihrer Reservetablette ließ bereits wieder nach. Mit fahrigen Händen strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Entscheidung war schon richtig. Diego war ihre Zukunft. Ohne ihn … sie wusste nicht, was sie ohne ihn machen würde, auch wenn sie heute Morgen so getan hatte, als könnte er ihr gestohlen bleiben. Sie sehnte sich danach, dass er sie, wie zu Anfang ihrer Beziehung, als Frau wahrnahm. Gerade mithilfe der Tabletten würde der Sex bestimmt noch viel besser werden. Sie konnte es nicht erwarten, ihn heute Abend zu verführen. Ach Quatsch, heute Nachmittag! Schließlich wollte sie bis zum nächsten High nicht bis abends warten. Bestimmt hatte er sich inzwischen wieder beruhigt. Vor allem, wenn er hörte, dass keine Kinder mehr da waren, auf die sie Rücksicht nehmen mussten.
„Was macht Mia hier?“, fragte Conrad und presste sein Gesicht ans Fenster. Er war sich sicher, dass er sie in dem Auto gesehen hatte, das eben an ihnen vorbei auf den nächsten Parkplatz gefahren war.
„Mia?“, fragte Christelle und setzte sich erschrocken auf. Sie war da! Und ihr Sohn hatte sie vor ihr gesehen? Und kannte sie offenbar so gut, dass er sie auf Anhieb erkannte? Eifersucht traf sie wie ein Pfeil.
„Ja. Mia. Und eine andere Frau. Ich glaube, sie heißt Bertha.“
„Scheiße. Sie sollte doch alleine kommen. Hatte ich ihr das nicht gesagt?“ Mit einer Zeugin hatte sie nicht gerechnet. War das etwas Schlechtes? Oder nicht?
Conrad drückte sich erschrocken in seinen Sitz, als wollte er Abstand von ihr nehmen. Und wenn schon, sie hatte jetzt keine Zeit, sich um seine Befindlichkeiten zu kümmern. Wieder überlegte sie, ob sie davonfahren sollte. Hektisch blickte sie sich nach einer Möglichkeit um, um unerkannt abzuhauen. Doch es war bereits zu spät. Offensichtlich hatten die beiden Frauen Conrad ebenfalls erkannt. Auf jeden Fall winkten sie und kamen auf das Auto zu.
Christelles Herz klopfte wie verrückt, als sie zusah, wie die beiden Frauen näherkamen. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie so aufgeregt war. Schließlich war sie im Begriff, etwas Gutes zu tun, redete sie sich ein. Immerhin hatte Jason seit Jahren behauptet, dass er das Sorgerecht für die Kinder wollte. Jetzt konnte er mal sehen, wie es war. Beschissen war es. Aber das würde er noch früh genug erfahren.
Entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen, drehte sie sich zu den Kindern um.
„Los, raus mit euch.“
„Raus?“, fragte Conrad verständnislos.
Genervt davon, dass ihr Sohn ausgerechnet heute seine Stimme wiedergefunden hatte und jede ihrer Anweisungen in Frage stellte, stieg sie aus und riss die Tür zum Rücksitz auf. Mit einem Handgriff löste sie die Gurte von Arias Kindersitz und zerrte das überraschte Mädchen grob aus dem Fahrzeug.
„Hey!“, rief Mia, als sie die unsanfte Behandlung sah, und rannte los. „Pass doch auf. Sie ist doch ein kleines Mädchen!“
„Noch ist sie meine Tochter“, zischte Christelle.
„Nicht mehr lange!“, gab Mia zurück und zog Aria in ihren Arm.
Sobald Conrad kapiert hatte, was seine Mutter vorhatte, kam Bewegung in ihn. Wie der Blitz schnallte er sich ebenfalls ab, griff sich Arias Hasen, den sie fallen gelassen hatte, kletterte aus dem Auto und eilte an die Seite seiner Schwester. Erleichtert sah er, wie Mia sie tröstete. Er mochte Mia. Sein Dad mochte Mia auch. Vielleicht, vielleicht würde doch noch alles gut werden. Aber vorerst würde er wachsam bleiben.
„Sch … Alles wird gut. Wir fahren jetzt zu eurem Dad“, flüsterte Mia dem kleinen Mädchen ins Ohr.
Conrad hörte ihre Worte. Sofort schlug sein Herz schneller. War das wirklich wahr? Gleichzeitig verspürte er Gewissensbisse. Wenn er zu seinem Dad ging, würde er seine Mom nicht mehr so oft sehen. Dieser Gedanke machte ihn traurig und froh zugleich. Seit seine Eltern sich getrennt hatten, verhielt sich seine Mom seltsam. Seit Diego so oft bei ihnen war, noch mehr. So seltsam, dass es ihm Angst machte. Diego hatte Aria wehgetan und Mom hatte nur gelacht. Immer, wenn die Erwachsenen da waren, wurde ihm übel. Er verstand es nicht. Er wusste nur, dass ihm bei Dad nie schlecht wurde. Mom hatte zwar behauptet, sein Dad wolle ihn und seine Schwester nicht mehr sehen. Aber wieso hatte er dann Bozo gekauft? Und Mia war nett. Sie hatte dafür gesorgt, dass sie Pferde streicheln konnten. Trotz der vielen, verwirrenden und sehr widersprüchlichen Gedanken in seinem Kopf rückte er näher an Mia heran.
„Nicht so schnell“, warnte Christelle und versuchte, nach ihm zu greifen. Ihr war gerade aufgegangen, dass sie die Tatsache, dass Jason die Kinder unbedingt wollte, zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Mia ließ jedoch nicht zu, dass sie Conrad zu fassen bekam. Als sie Christelles Absicht erkannte, stellte sie sich schützend vor Conrad und drehte sich zur Seite, sodass sie auch an Aria nicht herankam.
Verärgert stützte Christelle die Arme in die Seite. Was fiel dieser Schlampe eigentlich ein? Tat so, als würden ihr die Kinder bereits gehören? Die würde sich noch wundern!
„Wo ist das Geld?“
Bertha, die mit so etwas gerechnet hatte, zog unauffällig ihr Handy hervor und fing an, die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, zu filmen.
„Welches Geld?“, fragte Mia und legte schützend einen Arm um Aria, während sie die andere Hand hinter ihren Rücken streckte. Erleichtert spürte sie, wie Conrad sie ergriff. Ihre Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft. Trotzdem versuchte sie, möglichst ruhig zu bleiben. Sie wollte den Kindern jedes unnötige Drama ersparen. Die Armen hatten schon genug mitgemacht. Aber sie würde die Kinder auch keine Sekunde lang Christelle aushändigen. Diese Frau war böse. Wenn sie sich vorstellte, dass sich Jason seit Jahren damit herumschlagen und die Kinder nach jedem Besuch wider besseres Wissen dieser Hexe aushändigen musste, wurde ihr richtiggehend schlecht. Im Notfall würde sie mit den beiden ein Sprint hinlegen und sich mit ihnen in der Toilette der Tankstelle verbarrikadieren, bis der Sheriff kam.
„Du dachtest wohl nicht, dass du die beiden umsonst kriegst?“, fragte Christelle spöttisch. Das Adrenalin verstärkte ihr Zittern. Um es zu unterdrücken, verschränkte sie die Hände.
„Du sagtest, ich soll die Kinder übernehmen. Von Geld hast du nichts gesagt.“
„Muss ich vergessen haben“, entgegnete sie schnippisch. „Aber das war ja klar, dass ich dieses Opfer nicht umsonst bringen würde.“
Mia hob ungläubig die Augenbrauen.
„Opfer? Was für ein Opfer? Du hast angerufen und gesagt, ich soll die beiden abholen. Und jetzt meinst du, du könntest auch noch Profit aus der Tatsache schlagen, dass du sie loswerden willst?“
Diese Frau war unfassbar. Es tat ihr leid, dass Conrad und Aria diese Worte mit anhören mussten. Aber irgendwie musste sie versuchen, Christelle Einhalt zu gebieten. Und da ihre Superwoman-Fähigkeiten gerade Pause machten, hatte sie nur Worte, um sich zu wehren.
„Nenn es, wie du willst. Aber wenn dir die Kinder nicht ein paar Tausender wert sind, kannst du die Sache vergessen. Dann nehme ich sie wieder mit.“
Ihre Stimme klang gelangweilt, als wäre es ihr ganz egal, wie das Resultat der Verhandlungen aussah. Dabei war das Gegenteil der Fall. Das Geld würde ihr Macht verleihen. Macht, die sie aktuell nicht hatte und sich dringend wünschte. Vor allem, wenn es ihr zu mehr Drogen verhalf.
„Nur um das zusammenzufassen“, mischte Bertha sich täuschend beiläufig ein, während sie immer noch ihr Handy scheinbar zufällig in der Hand hielt. „Mia gibt dir einige tausend Dollar und du trittst alle Rechte an den Kindern an Jason ab?“
Überrascht schaute Christelle zu Bertha hinüber, als hätte sie ganz vergessen, dass diese auch noch da war. Sie legte den Kopf schräg und überlegte. Schließlich nickte sie.
„Ja. Das trifft es ziemlich genau. Fünftausend.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Mia. „Wenigstens eine, die begreift, um was es geht.“
Mia schaute Bertha entgeistert an. Woher sollte sie so plötzlich einige tausend Dollar herzaubern? Sie hatte nicht so viel Geld, und selbst wenn sie es hätte, würde sie es wohl nicht mit sich herumtragen.
Bertha zwinkerte ihr verstohlen zu. Sollte das etwa ausreichen, um sie zu beruhigen? Das tat es definitiv nicht. Besorgt schaute sie zu, wie ihre Freundin in ihre Handtasche griff und das Klemmbrett mit dem Papier der Anwältin hervorzog. Stimmt. Das hätte sie fast vergessen. Sie hielt den Atem an und betete, dass Christelle unterschreiben würde. Das löste zwar das Geldproblem nicht, aber zumindest hatte sie dann schon mal etwas in der Hand. Unmerklich bewegte sie sich und die Kinder in Richtung ihres Autos. Am liebsten wäre sie mit ihnen auf der Stelle dahin gerannt.
Bertha hielt Christelle die Verzichtserklärung und einen Kugelschreiber unter die Nase.
„Was ist das?“, fragte Christelle misstrauisch.
„Nur ein Dokument, damit es später keine Missverständnisse gibt. Du willst doch das Geld?“
Christelle nickte. Bertha ließ ihr keine Zeit, nachzudenken.
„Also dann, hier unterschreiben, bitte.“
Etwas überrumpelt griff Christelle nach dem Stift. Sie fing an, das Dokument zu überfliegen, doch nach den ersten Zeilen gab sie es auf. Sie wollte nur noch weg hier. Jetzt, wo sie kurz vor dem Ziel war, wurde der Drang nach den Pillen unerträglich. Die Aussicht, ihren Erfolg Diego unter die Nase zu reiben, steigerte ihre Aufregung noch. Ein machtvolles Gefühl, wie ein Rausch, ergriff sie. Schwungvoll setzte sie ihre Unterschrift auf die gestrichelte Linie.
Bertha steckte alles wieder in ihre Tasche. Dann ging sie um Christelle herum und holte die Kindersitze aus Christelles Auto.
Christelle schaute ihr verständnislos zu. Nervös von einem Bein aufs andere tretend, fragte sie schließlich: „Und das Geld? Wo ist es?“
Mia bückte sich zu Conrad. Es war an der Zeit, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Sie hegte die Vermutung, dass es besser war, wenn sie nicht mit anhörten, was Bertha zu sagen hatte. Sie hatte zwar nach wie vor keine Ahnung, was Bertha plante, doch das musste sie auch nicht. Sie vertraute ihr völlig.
„Kannst du deinen Sitz zu meinem Auto tragen? Dann nehme ich Aria und den zweiten Kindersitz.“
Conrad schenkte ihr einen ernsten Blick, der ihr fast das Herz brach. Schließlich nickte er unmerklich, bevor er sich seinen Autositz schnappte und ihn mühsam anhob.
Mia hob Aria hoch und setzte sie auf ihre Hüfte.
„Bequem?“, fragte sie sie.
Aria versteckte ihr Gesicht hinter ihrem Hasen. Mia seufzte und griff nach dem zweiten Sitz. Gemeinsam schleppten sie alles zu ihrem Auto.
Christelle sah der Prozession nach. Es war ein seltsames Gefühl, die beiden gehen zu sehen. Ein Gefühl, über das sie lieber nicht länger nachdachte. Dann fiel ihr ein, dass sie das Geld noch gar nicht hatte. Sofort waren alle Gedanken an die Kinder wie weggeblasen.
„Gib mir das Geld“, herrschte sie Bertha an.
Bertha ignorierte sie. Stattdessen beobachtete sie Mia und die Kinder auf dem Weg zum Auto. Erst als alle drei sicher im Inneren des Fahrzeugs saßen, drehte sie sich zu Christelle um. Sie hob das Handy.
„Ich habe alles auf Video. Inklusive deines Versuchs, deine Kinder zu verkaufen. Ich bin mir sicher, das wird den Richter sehr interessieren.“
Christelles Augen verengten sich zu Schlitzen. Wollte ihr die dumme Kuh etwa drohen?
„Willst du mir damit sagen, dass du mir einfach die Kinder wegnimmst? Glaub mir, das gefällt dem Richter auch nicht besser. Das fällt unter Kindesentführung.“
Bertha lächelte kalt.
„Ach, ich denke schon. Schließlich habe ich deine unterschriebene Verzichtserklärung. Du hast eben sämtliche Rechte und Pflichten, was die Kinder angeht, an Jason abgetreten. Von diesem Augenblick an hast du überhaupt nichts mehr zu melden.“
Christelle sah rot. Wutentbrannt stürzte sie sich auf Bertha. In diesem Moment fuhr Mia neben Bertha heran und stieß von innen die Tür auf. Bertha duckte sich, um Christelles Schlag auszuweichen, und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Rasch zog sie die Tür zu.
„Gutes Timing. Fahr, fahr, fahr.“
„Glaub mir, das hatte ich sowieso vor“, gab Mia sarkastisch zurück und trat aufs Gas. „Was bin ich froh, dass du mitgekommen bist. Ich weiß nicht, wie ich das ohne dich gemacht hätte.“
„Gerne. Jederzeit wieder“, antwortete sie mit einem Funkeln in den Augen.
Mia unterdrückte ein Lachen.
„Dir hat das Ganze auch noch Spaß gemacht!“, stellte sie ungläubig fest.
Bertha grinste.
„Natürlich.“ Sie drehte sich zu den Kindern um, die händchenhaltend auf der Rückbank in ihren Kindersitzen saßen und die Frauen mit großen Augen anstarrten. „So. Wir fahren jetzt zu eurem Dad. Aber das ist eine ganz schöne Strecke. Sagt Bescheid, wenn ihr aufs Klo müsst.“ Sie schaute von einem zum anderen, um sicherzugehen, dass ihre Worte angekommen waren.
„Alles gut bei euch?“, fragte Mia besorgt über die Schulter und suchte im Rückspiegel Blickkontakt.
Beide nickten, immer noch damit beschäftigt, die Ereignisse der letzten Stunde zu verdauen.
„Und jetzt, wichtige Frage: Wer will Gummischlangen? Saft? Schokolade? Chips?“
Conrad runzelte die Stirn.
„Einfach so?“ Die Erfahrung seines kurzen Lebens hatte ihn bereits gelehrt, dass im Leben selten etwas umsonst war.
Bertha beugte sich noch etwas mehr zwischen den Sitzen nach hinten und flüsterte verschwörerisch: „Es ist ein Bestechungsversuch. Wir hoffen, dass die Zeit für euch schneller vorüber geht, wenn ihr leckere Sachen zum Knabbern habt. Dann fragt ihr vielleicht nicht ganz so oft, wie lange es noch dauert, bis wir da sind.“
Conrads Mundwinkel zuckte.
„Chips“, verkündete Aria unbekümmert.
Das Kind musste eine extra Schutzschicht aus Teflon haben, so gut, wie es Krisen wegsteckte, dachte Mia.
„Einmal Chips für die junge Dame“, verkündete Bertha und machte eine große Show aus dem Öffnen der Tüte.
Als Conrad immer noch nichts sagte, reichte sie ihm beide Einkaufstüten nach hinten. „Wenn du später auf etwas Lust hast, bediene dich einfach, okay?“
Erleichtert sah Mia im Rückspiegel, wie er die Tüten in Empfang nahm. Nur wenig später sah sie, dass er sich einen Apfel genommen hatte.
Immerhin. An einem Tag wie diesem musste man auch die kleinsten Erfolge feiern.
*
Jason lehnte die Tür zum Kinderzimmer an. Conrad und Aria schliefen dicht aneinander gekuschelt im unteren Bett des Etagenbetts. Bozo, der ihnen schon den ganzen Abend nicht von der Seite gewichen war, hatte am Fußende seinen Platz eingenommen. Erschöpft ließ er sich gegen die Wand sinken. Puh. Was für ein Tag. Er hatte geglaubt, im falschen Film zu sein, als ihn Mia endlich erreicht und ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. So schnell wie möglich hatte er seinen Arbeitstag beendet und war nach Hause gefahren. Einige Details waren ihm immer noch nicht klar. Aber die erste Priorität war gewesen, den Kindern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Und das hieß: Normalität. Also hatten sie Spaghetti gekocht und zusammen gegessen. Nach dem Essen hatten die Kinder gebadet. Erleichtert hatte er festgestellt, dass weder Aria noch Conrad neue Verletzungen davongetragen zu haben schienen. Zumindest nicht physischer Natur.
Jetzt, nach drei Gute-Nacht-Geschichten, schliefen sie tief und fest.
„Hey“, sagte Mia leise.
Wortlos griff er nach ihrer Hand und zog sie an sich heran. Bereitwillig schmiegte sie sich an seinen Körper und schlang ihre Arme um seinen Hals.
„Danke“, flüsterte er in ihr Ohr. „Danke, dass du mir meine Kinder gebracht hast. Geht es dir gut?“
Mia lachte leise.
„Das sollte ich eher dich fragen. Aber lass uns runter gehen. Sonst wachen die Kinder noch auf.“
„Gute Idee. Die beiden brauchen ihren Schlaf.“
Im Wohnzimmer angekommen, hielt ihm Mia sein Telefon hin.
„Cole hat vorhin angerufen. Vielleicht rufst du ihn zurück?“
Besorgt griff er nach seinem Handy.
„Was er wohl will?“
Mia zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Aber in Anbetracht dessen, dass wir in Independence sind und bestimmt schon alle wissen, was heute passiert ist, hat es vermutlich mit Aria und Conrad zu tun.“
„Das befürchte ich leider auch. Meinst du, das kann bis morgen warten?“
„Bestimmt. Sonst hätte er sicher eine Nachricht hinterlassen.“ Etwas ratlos beobachtete sie Jason. Sie wollte ihm gerne helfen, doch sie wusste nicht, wie. Sie war ziemlich sicher, dass er versuchte, mit den Ereignissen dieses verrückten Tages fertigzuwerden. Nur war das leichter gesagt als getan.
„Willst du einen Tee? Oder lieber einen Kaffee?“
Vielleicht ein unzulängliches Angebot. Aber manchmal waren es die kleinen Gesten, die am meisten bedeuteten.
Jason, der tief in Gedanken versunken gewesen war, als sie ihre Frage stellte, blinzelte. Dann machte er einen großen Schritt auf sie zu und schlang ihr die Arme um die Taille.
„Dich. Ich brauche nur dich. Hilfst du mir, für ein paar Stunden alles zu vergessen?“
Mias Herz flog ihm entgegen. Sie legte beide Hände auf seine Wangen und zog ihn zu sich herunter, um ihn zu küssen. Diese Aufgabe übernahm sie gerne.
Erleichtert küsste er sie zurück. Wie immer dauerte es nur Sekunden, bis der Funken zwischen ihnen zu einem lodernden Feuer anwuchs. Bald war jeder Gedanke an anderes wie weggeblasen und es existierten nur noch Mia und die wunderbaren Gefühle und Empfindungen, die sie in ihm auslöste.
Eine Stunde später schlichen sie sich wie zwei Teenager, die nicht von ihren Eltern erwischt werden wollten, hoch in ihr Zimmer, wo sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fielen.