Kapitel 12
Ich ging nicht auf Dates. Aber diese Verabredung war auch weniger ein Date als mehr eine geschäftliche Angelegenheit.
Trotzdem saß ich in meinem Lexus vor Eves Haustür und überlegte, wieso ich überhaupt hier war.
Okay, wenn es eines gab, das mich neben vielen negativen Eigenschaften ausmachte, dann, dass ich nicht log. Ich sagte entweder gar nichts oder ich war ehrlich. Wieso also belog ich mich dann selbst?
Ich stand auf Eve seit dem ersten Tag unserer Begegnung. Sie war die erste Frau, bei der ich ernsthaftes Interesse entwickelt hatte. Was wäre gewesen, wäre ich an der Silvesternacht nicht auf Abstand gegangen? Hätte ich ihr den Vorschlag, den ich ihr nun machen wollte, früher unterbreitet? Hätten mich diese Fragen, diese ungewohnte Unsicherheit, dann nicht gequält?
Scheiß drauf. Ich fand es nur heraus, wenn ich endlich das loswurde, was mir auf der Zunge brannte. Also stieg ich aus meinem Auto und verriegelte es mit der Funkfernbedienung auf dem Weg zu Eves Haustür. Sie wohnte in keiner schlechten Gegend in der Upper East Side zwischen Hotels, Hochhäusern und kleineren Bauten mit winzigen, schmiedeeisernen Zäunen. Als ich ihren vollständigen Namen wusste, war es ein Leichtes für mich gewesen, ihre Anschrift herauszufinden.
»Hey! Sie können hier nicht parken!«, stoppte mich eine männliche Stimme, und ich drehte mich langsam um. Ein Officer stand vor meinem Lexus. Als er mich erkannte, hob er abwehrend die Hände. »Mr Craft! Ich hatte ja keine Ahnung! Haben Sie einen neuen Wagen? Schickes Teil.«
»Guten Abend, Harry«, antwortete ich nur und wandte mich wieder ab, um weiterzugehen. Dies war keine Angelegenheit, der ich nachgehen musste. Das zehnstöckige, mit braunen Klinkersteinen verbaute Haus lag direkt an der Kreuzung einer Hauptverkehrsstraße. Parken war in New York sowieso ein Ding der Unmöglichkeit, wieso also nicht die Annehmlichkeiten meines Geschäfts auch in dieser Hinsicht ausnutzen? Wenn wir schon das halbe NYPD geschmiert hatten, konnten wir auch davon profitieren.
Im unteren Bereich des Wohnhauses befanden sich Geschäfte, Restaurants und Bars, die sich über die gesamte weitere Straße erstreckten. Ein Portier in einem braunen, schlecht sitzenden Anzug, der nach Käse und abgestandenem Rauch stank, öffnete mir die Tür, bevor ich den Eingangsbereich durch eine Glastür betrat und auf die Aufzüge zugehen wollte. Doch ehe ich sie erreichte, glitten die Lifttüren auf, und ihr Anblick verschlug mir die Sprache. Eve. Sie trug einen cremefarbenen, engen Wintermantel mit hohem Kragen. Ihre dunklen, dicken Haare lagen wellig auf ihren Schultern und bildeten einen kompletten Kontrast zu ihrem hellen Teint und dem dunkelroten Kussmund. Mein Atem beschleunigte sich, wenn ich daran dachte, wie ihr Arsch ausgesehen hatte, als mein Gürtel ihre Haut traf. Wie lange ihr Duft noch in meiner Nase gelegen hatte. Oder ihr Geschmack auf meiner Zunge.
Ich schluckte und besann mich zurück in diesen Moment. Sie hob den Blick und stieg aus dem Aufzug. Ihre hohen Schuhe hallten auf dem Steinboden, und als sie mich erfasste, stockte sie kurz in der Bewegung, nur um in fließender Geschwindigkeit weiter auf mich zuzugehen. Sie war die pure Verlockung. Alles an ihr.
»Hi«, hauchte sie, und allein dieses Wort von ihren roten Lippen machte es mir schwer, meine Kontrolle zu behalten. Ich umfasste fest ihr Handgelenk und zog sie zu mir, schob meinen Mund knapp vor ihr Ohr und drückte einen Kuss auf ihren Hals, der sie erschauern ließ.
»Hi.« Der Blick aus ihren hellblauen Augen, die mich neugierig musterten und in denen ein Feuer entflammte, ließ mich fast an Ort und Stelle meine Kontrolle verlieren. »Du siehst fantastisch aus.«
»Danke«, antwortete sie, und anstatt dass sie mir schüchtern auswich, wie es viele Frauen nach einem Kompliment taten, sahen wir uns immer noch fest in die Augen. Ich erlebte es nicht oft, dass mir jemand standhielt, aber Eve war stark. Doch selbst sie hatte eine andere Seite, das hatte ich an Silvester gespürt, als sie sich mir freiwillig dargeboten hatte. Eine Seite, bei der sie es genoss, die Kontrolle an jemanden abzugeben, der sie an Grenzen brachte, von deren Existenz sie nicht einmal etwas geahnt hatte. Fuck. Ich wollte dieser Jemand sein. Nun mehr denn je.
Der Duft ihres Parfüms hing mir immer noch in der Nase, als ich ihre Hand nahm und sie Richtung Ausgang führte.
»Du kannst froh sein, dass ich mich auf diese Einladung eingelassen habe«, sagte sie, während wir nach draußen und zurück zu meinem Wagen liefen.
»Wer behauptet, dass es eine Einladung ist?«, erwiderte ich ohne eine weitere Regung, und kurz spürte ich die Unsicherheit, die sie erfasste, was mich fast so etwas wie amüsierte.
»Ich habe kein Problem damit, meine Rechnung selbst zu begleichen«, sagte sie fest, und ich hielt sie vor der Beifahrertür auf und sah ihr erneut in die hellen Augen. Sanft strich mein Zeigefinger von ihrer Schläfe über ihre Wangen zu ihren Lippen. Vielleicht sollten wir dieses Essen und die ganzen unnötigen Formalitäten einfach überspringen? Wir wussten doch beide, worauf dieses Treffen hinauslaufen würde.
»Daran habe ich keinen Zweifel. Und es ist eine Einladung. Du wirst in meinem Beisein keinen Cent bezahlen, sonst lege ich dich an Ort und Stelle über mein Knie«, antwortete ich, löste mich von ihr und öffnete ihr die Tür. Ihre Augen funkelten nun dunkler, bevor sie sich ohne ein Wort auf den tiefen Sitz meines Autos schob, und während ich die Beifahrertür zuschlug, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Als wir zwanzig Minuten später das The Top of the Standard
erreichten und den Raum betraten, begrüßte uns ein Kellner in weißem Hemd und schwarzer Weste.
»Guten Abend, Mr Craft. Ihr üblicher Tisch steht für Sie bereit.« Er deutete zu seiner Linken in den hinteren Bereich des Raumes, in dem es deutlich ruhiger zuging als hier vorne. Im Hintergrund drangen die sanften Klänge des Klavierspielers an mein Ohr, neben murmelndem Stimmengewirr und Geklapper der drei Barkeeper hinter der kreisrunden Bar, die sich mitten im Raum befand. Durch die bodentiefen Fenster konnte man einen direkten Blick auf die Skyline von New York erhaschen. Während ich Eve mit meiner Hand an ihrem unteren Rücken hinter dem Kellner herführte, bewunderte sie die Aussicht und ich ihr Profil.
Wir bekamen einen separaten Platz, der durch hohe Pflanzkübel und die Sitzlounge aus beigefarbenem Leder diskret vom Hauptraum abgetrennt wurde. Kniehohe Glastische mit goldener Umrandung schlossen das runde Gesamtbild der Lokalität ab. Ich war gerne hier. Weil die Barkeeper etwas von den Drinks verstanden und die Kellner wussten, was Privatsphäre bedeutete.
»Es ist wunderschön hier«, sagte Eve, während ich ihr aus dem Mantel half und ihn dem Oberkellner reichte. Ich ließ es mir nicht nehmen, den Anblick ihrer festen Rundungen in dem engen schwarzen Kleid zu genießen, während sie einen Schritt auf das Fenster zuging. »An die Aussicht werde ich mich wohl nie gewöhnen, auch wenn ich schon so lange hier lebe.« Ich trat neben sie. Einerseits widerstrebte es meiner verkorksten Auffassung von Beziehungen, mehr über sie zu erfahren, andererseits wollte ich nichts dringender.
»Du kommst nicht von hier?«
»Wie man unschwer an meinem Dialekt erkennen kann, nein«, sagte sie und ich erwiderte ihr sanftes Lächeln, als sie sich mir zuwandte. »Etwas außerhalb von Newport, Rhode Island. Viel Wasser, Möwenkacke und das typische Kleinstadtgefühl mit allem, was es mit sich bringt. Tratsch, Tratsch und Tratsch. Ich mag die Anonymität der Großstadt.«
»Mir geht es genauso«, gab ich zu und war mir vollkommen bewusst, dass mich diese Anonymität sogar vor dem sicheren Untergang bewahrte. Kurz entstand ein Moment der Verbundenheit zwischen uns, den ich umgehend brechen musste.
»Wollen wir?«, fragte ich und deutete auf eines der Sofas. Eve nickte. Sie setzte sich auf das, das direkt parallel vor dem Fenster stand. Ich nahm auf dem anderen Platz, aber nicht weil ich nicht bei ihr sein wollte. Im Gegenteil. Ich traute mir selbst nicht über den Weg.
Es dauerte keine zwei Minuten, da brachte ein weiterer Kellner eine Flasche des teuersten Weines auf der Karte. Er öffnete sie und schenkte uns zwei Gläser ein.
»Haben Sie schon gewählt?«
»Geben Sie uns noch fünf Minuten«, erwiderte ich und er verließ uns wieder.
»Es hat mich ehrlich gesagt überrascht, dass du mit mir essen wolltest.«
Ich legte meinen linken Arm auf der Rückenlehne ab und ließ sie nicht aus den Augen. »Weshalb?«
Sie schlug die Beine übereinander, und ihr Kleid rutschte noch ein Stückchen über ihren nackten Oberschenkel nach oben. Ein kleines bisschen nur, aber es reichte aus, dass meine Augen kurz auf diesem Anblick verweilten. Alles, was zwischen uns stand, brachte die Luft zum Flirren und war purer Sex. Ich war ein Mann der Kontrolle. Jemand, der selbst in den Stunden mit einer Frau nie wirklich abschalten konnte. Aber Eve hatte irgendetwas an sich, das ich nicht benennen, von dem ich aber definitiv mehr haben wollte.
»Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du ein Mann wärst, der eine Frau zu einer Verabredung einlädt.«
Richtige Annahme. »Und ich finde es erfrischend, dass du alles aussprichst, was dir auf der Zunge liegt«, antwortete ich ihr, ohne ihr wirklich meine Gründe für dieses Treffen offenzulegen, und reichte ihr das Weinglas. Wir stießen an und tranken einen Schluck. Vielleicht eine Taktik, ihren Fragen noch etwas zu entkommen.
Sie drehte den Stiel in ihrer Hand und senkte kurz den Blick. »Ich habe gelernt, was es heißt, Lügen um mich zu haben und mit ihnen aufzuwachsen.« Noch ein Punkt, den ich zu hundert Prozent unterschreiben konnte. »Deswegen versuche ich mein Leben anders aufzubauen und bin bisher gut damit gefahren.«
»Verstehe. Mir geht es ähnlich«, erwiderte ich und war selbst darüber überrascht, wie viel ich mit dieser einfachen Aussage von meiner Vergangenheit verriet. Sie schenkte mir dafür ein kleines Lächeln, und es herrschte einige Sekunden Stille zwischen uns. Erwartete sie nun, dass ich noch weiter über meinen Schatten sprang und von meiner beschissenen Kindheit erzählte? Auch wenn ich nicht log, ich sprach trotzdem nicht über alles. Es änderte sowieso nichts an dem Vergangenen.
»Wie kommt es eigentlich, dass du wusstest, wo ich wohne?«, fragte sie. »Man könnte fast annehmen, du hast ziemlich gute Stalkerfähigkeiten.«
»Jeder in New York, der ein paar Kontakte sein Eigen nennen kann, würde einen schlichten Wohnort herausfinden.«
Sie runzelte die Stirn und wirkte nicht überzeugt.
»Aber lass uns doch lieber über etwas Interessantes sprechen.«
»Zum Beispiel?«
»Dich.«
Sie schmunzelte erneut. »Und wenn ich zuerst ein paar Einzelheiten über dich wissen möchte, bevor ich dir meine schmutzigen Geheimnisse anvertraue?«
Ich rutschte ein Stück zur Seite und räusperte mich. »Das Wort ›schmutzig‹ aus deinem Mund ist nicht gerade hilfreich, damit ich meine Beherrschung weiter aufrechterhalten kann.«
»Stimmt, was sollen die Kellner über deine Manieren denken? Ach genau, du hast ja gar keine, denn normalerweise bestimmt man nicht einfach über ein Abendessen, sondern fragt.«
»Du bist trotzdem hier«, bemerkte ich trocken, und sie betrachtete mich einige Sekunden.
Dann stand sie auf, strich sich den Rock glatt und nahm ihre Handtasche. »Bin gleich wieder da. Wenn der Kellner kommt, bestell mir einfach das Gleiche, was du nimmst«, sagte sie, umrundete die Sitzlounge und verschwand hinter einer Ecke.
Frauen waren kompliziert. Ich hatte ihr noch nicht mal mein Angebot unterbreitet, und schon war ich gefühlt im Aus gelandet. Doch wenn ich eines wusste, dann wie man wieder ins Spiel zurückkam.