Kapitel 30
Wenn es eines gab, das ich gut konnte, dann war es, Dinge zu ignorieren. Ich hatte lange mit Delia gesprochen, und wir hatten beschlossen, Dale ins Leere laufen zu lassen. Wenn wir nun auf seine Drohungen oder sein bloßes Erscheinen in unserem Leben reagierten, hätte er erneut Macht über uns, und das war das Letzte, was wir wollten.
Also ließ ich die Blumen entsorgen und behielt die Karte für den Fall der Fälle als Beweismittel. Aidan verstand unsere Entscheidung nicht, aber ihm blieb nichts, als sie zu akzeptieren und ein noch größeres Auge auf mich zu haben, wenn er konnte. Er bestand darauf, mich morgens von zu Hause abzuholen, mit mir ins Büro zu fahren und mich am Abend wieder heimzubringen. Ich stimmte zu, weil es mich beruhigte, jemanden an meiner Seite zu haben. Denn Cole hatte sich seit unserem letzten Treffen nicht mehr gemeldet.
Einerseits war es gut so, andererseits vermisste ich ihn und die Sache zwischen uns, die erfüllend und schön hätte werden können. Wir hatten ganz am Anfang gestanden, und ich trauerte den Dingen hinterher, die wir zusammen hätten erleben können.
Aber ich verstand seine Reaktion auf meine Fragen und dass er es damit abschloss. Denn ehrlicherweise würde ich sie irgendwann wieder stellen. Einfach, weil mich alles interessierte, was in seinem Kopf vorging.
Delia hatte sich ihren Beschützer in Form von Byron an die Seite geholt. Byron war zwar eigentlich sanft wie ein Lamm, aber wenigstens machte seine hünenhafte Gestalt auf den ersten Blick gewaltigen Eindruck.
So fühlten wir uns einigermaßen sicher bei dem miesen Spiel, das Dale mit uns treiben wollte. Aber nicht mit uns!
»Soll ich noch mit hochkommen?«, fragte Aidan, als wir vor meiner Haustür parkten. Ich zögerte. Denn auch wenn ich mich äußerlich stark gab, hatte ich jedes Mal, wenn ich einen Schritt in meine Wohnung tat, das Gefühl, beobachtet zu werden.
»Nein danke«, antwortete ich und lächelte schwach.
Aidan nickte. »Wenn irgendetwas ist, melde dich! Okay?«, sagte er eindringlich, weil er wusste, ich würde seine Hilfe nur mit Zwang annehmen. Ich verabschiedete mich von ihm und stieg aus dem Auto.
Er wartete, bis er mich durch die gläserne Außenfassade im Aufzug verschwinden sah, dann schlossen sich die Türen, und ich war wieder auf mich allein gestellt.
Mit klopfendem Herzen steckte ich, in meinem Stockwerk angekommen, den Schlüssel in meine Wohnungstür. Das Pfefferspray hatte ich griffbereit in meiner Handtasche verstaut, bereit, es sofort herauszuziehen.
Als ich die Tür öffnete, stockte ich. Hatte ich heute Morgen nicht alle Lichter angelassen, damit ich keine finstere Wohnung vorfand? Aber wieso lagen nun alle Räume in bedrohlicher Dunkelheit?
Ich schlug mit der flachen Hand auf den Lichtschalter neben der Tür. Vielleicht hätte ich mir doch lieber einen Rottweiler als Beschützer zulegen sollen, wie es mir Delia im Halbernst vorgeschlagen hatte. Sie konnte auf Byrons Neufundländer vertrauen. Auch wenn der genauso ungefährlich wie sein Besitzer selbst war.
Ich bemühte mich, kein Geräusch zu machen, und zog das Pfefferspray hervor. Mit langsamen Schritten bewegte ich mich nach vorne. Meine Handflächen wurden schweißnass. Mein Puls dröhnte in meinen Ohren. Vielleicht hatte es nur mal wieder einen kurzzeitigen Stromausfall gegeben, der in New York nicht selten war. Vielleicht. Wahrscheinlich hätte ich auch einfach nur aus meiner Wohnung stürmen und abhauen sollen. Also wieso tat ich das nicht? Ich blieb stehen, wollte mich gerade umdrehen und weglaufen, da ging das Licht von allein auch im Wohnzimmer an. Mir entfuhr ein Schrei, als ich die dunkle Gestalt auf meiner Couch entdeckte.
»Raus hier oder ich rufe die Polizei!«, schrie ich panisch, und der große Männerkörper stand langsam auf. Er hob die Hände.
»Ich wollte dir keine Angst einjagen! Aber bitte richte dieses Ding nicht auf mich.«
»Ian?!« Ich ließ meine Hand sinken. Was wollte er denn hier? »Wie bist du hier reingekommen und wieso verdammt noch mal sitzt du im Dunkeln auf meiner Couch?«
Ian lachte kurz und zuckte mit den Schultern. »Erhöht die Dramatik.«
»Idiot! Du hast mich zu Tode erschreckt!« Ich war immer noch nicht über den Berg, und meine Nerven waren allesamt am Durchdrehen. Mein gesamter Körper zitterte, und ich war unglaublich sauer auf ihn. Er war genauso sadistisch veranlagt wie Cole!
Ians Grinsen wich aus seinem Gesicht, als er sah, wie aufgelöst ich war. Mit schnellen Schritten kam er auf mich zu und zog mich in eine Umarmung. Irgendwie hatte das Gefühl, ihn hier zu wissen, etwas Tröstliches an sich. Wenn sich schon Cole nichts aus mir machte.
»Es tut mir leid, ich dachte nicht, dass es dich so mitnimmt!«, sagte er leise und ließ mich los.
»Schon okay.« Ich versuchte, mir nichts mehr anmerken zu lassen, zog meinen Mantel aus, den ich über die Lehne meiner Couch hängte, und ließ mich mit einem Seufzer auf die Sitzfläche fallen. Ian nahm neben mir Platz und legte seinen Arm auf der Rückenlehne ab. Erst jetzt fiel mir auf, dass er anstatt seines üblichen Anzuges eine Jeans und ein graues Shirt mit einem Harry-Potter-Aufdruck trug. Meine Mundwinkel zuckten, und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Wie konnte man ihn in dem Aufzug ernst nehmen?
»Ein Potterhead?«
Auch in Ians Gesicht trat wieder dieser jungenhafte Ausdruck. Er sah an sich herunter und zog an dem Saum seines Shirts, als hätte er eben erst bemerkt, was er trug. »Hat mir meine kleine Schwester geschenkt.«
»Das hätte ich in deiner Situation auch behauptet. Wenn du jetzt zugibst, dass Hermine dein heimlicher girls crush
ist, verzeihe ich dir vielleicht sogar die Aktion von eben.«
Ian rutschte näher und senkte die Stimme. »Ich stehe eher auf Snow White. Ohne die sieben Zwerge.« Er lachte laut, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Na gut, ich wollte es wenigstens mal versucht haben.«
Ich fand Ian immer noch attraktiv, aber dadurch, dass ich Cole richtig kennengelernt hatte, lechzte mein Körper nach mehr als einem netten Kerl. Obwohl ich auch in Ians blauen Augen dieses dunkle Glimmen bemerkte, das Frauen einfach anzog.
»Also, was tust du hier? Wie du reingekommen bist, will ich gar nicht erst wissen. Übrigens finde ich es furchtbar unheimlich, dass ihr alle kein Problem mit verschlossenen Türen habt!«
»Ich bin nicht eingebrochen, das erst mal dazu. Ich hab deinen Schlüssel von Cole.«
»Von Cole?« Ich sank tiefer in die Sitzfläche.
»Er hat doch einen Schlosser für dich beauftragt, und die haben ihm einen Ersatzschlüssel angefertigt.«
»War ja klar …«
Ian zuckte mit den Schultern. Sein Grinsen wurde wieder breiter. »Das ist eure geheime Fantasie, damit will ich nichts zu tun haben.«
»Und du hast dir einfach den Schlüssel geschnappt und wolltest mich im Dunkeln nach Feierabend überraschen?« Ich verstand immer noch nichts. Ian wurde wieder ernster. Kurz, aber lang genug, dass ich die Sorgenfalten auf seiner Stirn richtig deutete.
»Wir haben Dinge gehört, die uns ein wenig in Aufruhr versetzt haben.«
»Kannst du endlich mal Klartext sprechen? Was habt ihr gehört und von wem um Himmels willen?!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Möchtest du mir etwas zum Namen Gavin Dale sagen?«
Mir wich alles Blut aus dem Gesicht, und wieder nahm mein Herz einen unangenehmen Turbo auf. »Nein.«
»Das dachte ich mir schon, deshalb habe ich ein wenig geforscht.«
Ich wurde wütend! Was nahmen sich Ian und Cole eigentlich heraus, einfach in meinem Leben zu schnüffeln! »Was soll das, Ian? Wieso steckst du deine Nase in Angelegenheiten, die dich nichts angehen? Oder wollte Cole, dass du das hier tust?«
»Nein, Cole weiß von nichts, außer, dass ich hier bin. Aber er hat mich nicht geschickt.«
»Natürlich nicht«, murmelte ich. Wieso sollte sich Cole auch noch für mich interessieren?
Das Zeichen mit seinem Abgang und Nichtmelden war klar und deutlich. Ian rutschte näher zu mir und nahm meine Hand. Seine Berührung war warm und tröstlich. »Ich habe dir schon mal gesagt, dass Cole nicht einfach ist. Wenn du denkst, er wäre abgefuckt, dann weißt du nicht, wie sehr. Er kann Gefühle nicht offen zeigen, geschweige denn ausdrücken. Aber ich kann dir als Einziger, der Cole wirklich kennt, sagen, dass er nur die Dinge beschützt, die er liebt, und er hat verdammt vieles in die Wege geleitet, um dich in Sicherheit zu wissen. Er ist übrigens nicht gerade begeistert, dass dein Geschäftspartner dich jeden Morgen hier abholt und wieder heimbringt.« Ian drückte meine Finger. »Aber so ein bisschen Eifersucht hat noch keinem geschadet. Im Gegenteil.«
»Also was hast du …«
In dem Moment polterte es dröhnend gegen die Eingangstür meiner Wohnung, und Ian lachte laut auf. Hier waren doch alle verrückt geworden, oder nicht?
Er stand auf, zog sich sein Shirt über den Kopf und schmiss es auf die Couch. »Was soll das?«, fragte ich verstört.
»Das wirst du gleich sehen.« Selbstsicher lief er zur Tür, und ich verfolgte seinen trainierten Rücken mit meinen Augen, bis er im Flur verschwand. Ich hörte tiefe Stimmen, die lauter wurden, dann stand auf einmal Cole inmitten des Türrahmens. Sein Atem ging schnell, und seine Brust hob und senkte sich immer heftiger, als sich unsere Blicke trafen und ineinander verloren. Kein Wort kam über seine Lippen, aber sein harter Gesichtsausdruck sprach Bände. Ian schob sich an ihm vorbei und riss ihn so aus der Starre.
»Niemand hat gesagt, dass du sie ficken sollst«, knurrte Cole, und Ian zwinkerte mir so zu, dass Cole es nicht sah.
Er fuhr herum und verschränkte die Arme vor der immer noch nackten Brust. »Aber es hat auch niemand gesagt, dass ich es nicht tun soll.«
Ian forderte Cole heraus, und es sah fast so aus, als ob Cole gleich eine Waffe zog, um ihn umzulegen. Sein Blick drückte auf jeden Fall alles aus, was man wissen musste, und als er von Ian zu mir wanderte, spürte ich die Gänsehaut, die meinen Nacken hinaufkroch. Wie jedes Mal, wenn Cole mich ansah.
»Verschwinde, sonst vergesse ich mich.«
»Nein«, erwiderte Ian schlicht, und Cole ballte die Hände zu Fäusten. Ich war fasziniert von der immensen Ladung testosterongeschwängerter Macht, die hier im Raum hing. Es war, wie einen Kampf zwischen zwei Raubtieren zu beobachten, die umeinander schlichen. Man wusste nicht, wer zuerst zuschlug. »Ich hätte kein Problem mit einer weiteren Runde. Na, Cole, nicht noch mal Lust auf eine Ménage-à-trois?«
»Du Wichser …«
Bevor sich Cole auf Ian stürzen konnte, stand ich auf. »Lasst den Scheiß! Dafür haben wir wirklich keine Zeit!«
Sie hielten beide inne und sahen mich an. Ian löste sich als Erster aus der Starre, nahm sein Shirt und zog es sich über den Kopf. Er ging auf Cole zu, tätschelte ihm die Schulter und sagte irgendetwas zu ihm, das ich nicht verstand.
»Bye, Snow White, und viel Spaß mit dem großen, bösen Wolf!«, rief er fröhlich, und das Letzte, was ich hörte, war die zuschlagende Haustür. Stille legte sich über uns, in der ich das Knistern, das zwischen uns wuchs, immer stärker vernahm.
»Was soll das alles, Cole?«, flüsterte ich kaum hörbar, als traute ich mich eigentlich nicht, diese Worte auszusprechen. Coles Ausdruck änderte sich nicht. »Ich versteh gar nichts mehr …«
»Komm her.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Ich habe dir eine Frage gestellt.«
»Und ich dir einen Befehl gegeben.«
Ich lachte bitter auf. Egal was Ian sagte, Cole war nicht dazu geschaffen, zu kommunizieren, und auch wenn ich mit seiner Verschlossenheit vorher kein Problem gehabt hätte, brauchte ich gerade nicht mehr als ein paar Antworten. Diese starke Anziehung hin oder her, das konnte so nicht weitergehen. Nicht, solange Dale da draußen war und Ian mir kryptische Dinge erzählte. Von wem wusste er von Dale und was wusste Cole?
Der fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dabei schabten seine Finger laut über die unrasierten Stoppeln. Mir fiel auf, dass sie länger waren als sonst und unter seinen Augen dunkle Ringe lagen. Er wirkte müde, als hätte er seit Tagen nur Nachtschichten eingelegt.
In diesem Moment tat er mir leid. Irgendetwas musste es gegeben haben, das ihn zu dem gemacht hatte, was er war. Und egal, was es war, er kam damit nicht klar, auch wenn er nach außen hin einen anderen Eindruck machte. Ich ging einen Schritt auf ihn zu, und der Ausdruck in seinem Gesicht wurde wieder härter, wuchs erneut zu dem dominanten Mann an, als den ich ihn kennengelernt hatte. Er brauchte die Kontrolle. Aber nicht, wie er sagte, weil es in seiner Natur lag. Er brauchte sie, weil es das Einzige war, das ihm Sicherheit gab.
Noch ein Schritt, und Cole bewegte sich keinen Zentimeter. Er verharrte an Ort und Stelle und beobachtete meine Bewegungen auf ihn zu.
»Hier bin ich«, hauchte ich und blieb kurz vor ihm stehen. »Und ich möchte Antworten.«
Seine Hand wanderte zu meiner Kehle. Sein Griff verstärkte sich, aber ich streckte mich ihm noch ein Stück entgegen. »Hast du mit Ian geschlafen?«
»Cole …« Musste ich ihm das wirklich sagen? Glaubte er so wenig an sich … an uns?
»Ich habe dir eine einfache Frage gestellt.« Noch ein bisschen zogen sich die Finger um meinem Hals zusammen. Ich schaute ihm tief in die dunklen Augen. Sah das Feuer, den Schmerz, das Verlangen … und mehr.
»Nein.«
Und plötzlich lagen seine Lippen auf meinen. Besitzergreifend wie zuvor, doch mit einem Funken Sanftheit. Er drängte mich gegen die Wand, damit ich ihm und seinen gierigen Küssen nicht entkam. Meine Hände fuhren durch seine Haarsträhnen und zogen ihn daran noch enger zu mir. Ich musste es mir eingestehen, ich hatte ihn vermisst. Sehr sogar.
Cole löste sich von mir und sah mich an. Seine Finger gruben sich tief in meine Hüften, während er mich weiterhin an der Wand gefangen hielt.
»Was wisst ihr über Dale? Cole, was sind das für Narben, haben sie mit ihm zu tun?«, fragte ich vorsichtig, und Cole zögerte.
»Es sind nicht die sichtbaren Narben, die uns ausmachen, sondern die unsichtbaren«, sagte er leise als Antwort auf meine Frage, und ich legte meine Hand an seine Wange. Nun wusste ich noch weniger, was er meinte oder sogar fühlte.
»Und wie viele davon trägst du, Cole Craft?«, wisperte ich und wünschte mir, dass ich die Male, die ihn zeichneten, damit ungeschehen machen könnte. Kaum spürbar drückte er seinen Kopf in meine Handfläche, und ich fühlte die rauen Bartstoppeln auf meiner Haut.
»Ich möchte nicht getröstet werden«, erwiderte er in demselben Ton, und ich verstand genau, was er damit meinte. Er erzählte mir nichts, weil er nicht wollte, dass ich ihn anders ansah. Er hatte Angst vor Gefühlen, aber in gewisser Weise hatte ich das ebenso. Wir hatten es beide nicht gelernt, mit ihnen umzugehen.
»Ich tröste dich nicht, ich bewundere deine Stärke. Siehst du Mitleid in meinen Augen?« Er zögerte, aber schüttelte daraufhin leicht den Kopf. Ich löste meine Finger und packte eines seiner Handgelenke. Langsam öffnete ich die beiden kleinen Knöpfe und schob vorsichtig den schwarzen Stoff seines Hemdes nach oben. Meine Fingerspitzen glitten sanft zuerst über seine sehnigen Unterarme, bis sie die wulstartigen Erhebungen erreichten. Bedächtig führte ich seine Handgelenke zu meinen Lippen und küsste sie. »Du bekommst von mir kein Mitleid, nur Bewunderung, was du aus deinem Leben gemacht hast. Trotz der Umstände.« Ich hatte angenommen, dass er mir seinen Arm entzog, aber stattdessen sah er selbst auf die Narben, und kurz hatte ich den Eindruck, er versinke in Erinnerungen, die so schmerzhaft waren, dass sie kaum ein Mensch überleben konnte.
»Du weißt eigentlich überhaupt nicht, wer ich bin«, sagte er leise, aber ohne Vorwurf, als er erneut meinen Blick suchte.
»Dann zeig es mir«, erwiderte ich eindringlich und hielt die Luft abwartend an.