Kapitel 35
Ich trat nach draußen ins Freie und wischte mir mit einem schwarzen Stofftaschentuch die Blutreste von den Knöcheln. Nichts. Dales Männer waren loyaler, als ich gedacht hatte. Obwohl ich sie direkt zu Hause überrascht hatte, hatten sie mir nicht ein Wörtchen darüber gesagt, wo sich der Wichser aufhielt.
Wahrscheinlich war es deshalb früher für ihn so leicht gewesen, ungestraft davonzukommen. Er hatte ein breites, dunkles Netz über die Stadt gespannt. Doch nun war ich involviert, und jetzt sollte er lieber anfangen, zu bereuen, was er alles getan hatte. Obwohl ihm das auch nichts mehr brachte.
Eve und ihre Freundin hatten ein Recht darauf, Rache für all die Jahre voller Angst zu bekommen, und sie sollten wissen, dass Dale ihnen nie wieder irgendetwas antun könnte.
Ich setzte mich in meinen Wagen und warf das Taschentuch in den Fußraum. Scheiße. Ich war immer noch bei null.
Frustriert drückte ich auf den Startknopf meines Autos, und bevor ich losfahren konnte, meldete die Freisprecheinrichtung einen Anruf. Es war Eve.
Ich ging sofort dran. »Was ist los?«
»Hey, hier ist Ian. Gut zu wissen, dass du noch lebst und nur bei meinen Anrufen nicht drangehst.«
»Ist was mit Eve?«, fragte ich, weil mich der Umstand irritierte, dass Ian ihr Handy hatte.
»Alles in Ordnung, ihr geht es gut.«
Ich atmete erleichtert auf. »Was ist dann?«
»Eve hat ein Bild geschickt bekommen. Darauf ist Delia zu sehen, gefesselt und in irgendeiner Halle an einem Hafen in Jersey gefangen.«
Ich trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. »Du weißt, dass das eine Falle ist.«
»Selbstverständlich. Aber wir sind trotzdem auf dem Weg dorthin.«
»Wir?« Ich umfasste das Leder und drückte zu, während sich mein Kiefer zusammenpresste.
»Eve wollte mitkommen.«
»Und du hast einfach getan, was sie wollte? Bist du dir im Klaren, dass das gefährlich für sie ist?! Dass Dale nur das möchte! Er hat ihr mit dem Tod gedroht, verdammte Scheiße! Ian!«
»Es geht um ihre Freundin, Cole«, sagte er nur eindringlich, und ich atmete tief ein. Laute Flüche kamen über meine Lippen, ohne dass ich es hätte verhindern können.
»Gib sie mir«, erwiderte ich unterdrückt.
Ian zögerte. »Sie ist ziemlich durcheinander, ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre.«
Ich schloss die Augen und unterdrückte die Wut, die alles vor mir verschwimmen ließ. Nicht er hatte das zu entscheiden. Freund hin oder her.
»Schick mir sofort die verfickte Adresse!« Mit diesen Worten legte ich auf und wartete, bis Ians Nachricht nach Minuten ewigen Wartens endlich ankam. Ich würde vor ihnen da sein. Ich musste es! Damit ich Eve davon abhalten konnte, direkt in Dales beschissene Falle zu laufen!
Ian konnte ohne Frage mit einer Waffe umgehen, aber ich sollte es sein, der sie beschützte. Weil sie mir mehr bedeutete als mein verdammtes Leben. Sie war alles, was ich noch wollte, und ich hatte nicht mal den Mut gehabt, ihr das zu sagen.
Weil ich ein riesengroßer, verdammter Feigling war.
Die Räder meines Lexus drehten durch, als ich fest auf das Gaspedal trat. Von hier aus waren es nur zwanzig Minuten bis zur Adresse. Eintausendundzweihundert Sekunden, in denen ich nun kaum noch atmen konnte.
***
Nachdem ich mehrmals versuchte, Scott, den für Delia beauftragten Mann während der Fahrt anzurufen und er nicht ans Telefon ging, festigte sich der Gedanke, dass irgendetwas passiert sein musste. Scott war absolut zuverlässig und loyal. Dale hätte ihn niemals bestechen und ihn damit überreden können, Delia zu ihm zu bringen. Ich musste herausfinden, was passiert war, aber erst nachdem ich Eve abgeholt und in Sicherheit gebracht hatte.
Ich war sogar zwei Minuten schneller gewesen, als ich gedacht hatte. Trotzdem parkte Ians Aston Martin vor einer breiten Halle, die in der Dunkelheit eines großen Hafens lag, der um diese späte Uhrzeit zumindest in diesem Teil menschenleer war. Doch ich wusste, das war nur eine Täuschung.
Dales Männer mussten sich hier überall verstecken. Wahrscheinlich bekam ich eine verdammte Kugel durch den Schädel gejagt, wenn ich jetzt mein gepanzertes Auto verließ. Aber ich musste es riskieren. Für Eve. Und ihre Freundin.
Bitterkeit verteilte sich auf meiner Zunge. Bisher hatte ich meine Fähigkeiten und Möglichkeiten noch nie für eine gute Sache genutzt. Wahrscheinlich wäre das heute eine einmalige Geschichte, wenn wir es tatsächlich schafften, beide Frauen unbeschadet da rauszuholen.
Ich stieg aus und lief auf die Halle zu. Als ich an Ians Wagen vorbeikam, erkannte ich, dass er leer war, und fluchte unterdrückt. »Verdammt, Ian, hättet ihr nicht warten können?«, murmelte ich.
Mein Herz trommelte heftig gegen meinen Brustkorb. Ich war nie aufgeregt, wenn ich mit diesem Schlag Menschen zu tun hatte, wie Dale einer war und zu denen ich in gewisser Weise selbst zählte. Aber diesmal ging es nicht um mich.
Gerade deswegen musste ich versuchen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich atmete tief durch und kundschaftete mit wachsamen Blicken die Gegend aus. Bis jetzt hatte ich noch niemanden hier gesehen. Die Straßenlaternen warfen unruhiges Licht auf den Asphalt, und die Halle wirkte wie ein dunkles Ungetüm, das über mir aufragte. Ich konnte nicht einfach durch die Vordertür hineinspazieren. Ian hatte mir mit der Adresse auch das Bild von Delia geschickt. Sie saß im Halbdunkeln, hatte den Kopf bewusstlos gesenkt, und ihre blonden Haare ergossen sich wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht. In ihrem Schoß lag eine weiße Calla, was auch immer das zu bedeuten hatte. Doch auf dem Bild hatte man hauptsächlich sie und einen dunklen Holzstuhl gesehen. Nichts, was darauf hindeutete, dass sie wirklich hier war.
Wäre es eine andere Situation und würde diese Falle nicht meilenweit gegen den Wind stinken, wäre ich ganz bestimmt nicht hier.
Ich lief um die Halle herum und suchte eine Seitentür, während ich meine Waffe zog und entsicherte, damit ich sie jederzeit benutzen könnte. Immer heftiger trieb mein Herzschlag in die Höhe und pochte schwer in meinem Hals, in dem gleichzeitig ein fieser Klumpen entstand. Das hier war nicht gut. Gar nicht gut.
Ich entdeckte eine schmale Metalltreppe, die ein Stockwerk nach oben zu einer geöffneten Tür führte. Es war sicherlich besser, wenn ich von oben kam. Also stieg ich langsam und vorsichtig die Stufen hoch. Die Leiter wackelte und ächzte unter meinem Gewicht, doch sie hielt, bis ich den oberen Absatz erreichte. Mit der Waffe voraus spähte ich in das Innere und in Dunkelheit. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die noch düsteren Lichtverhältnisse innerhalb der Halle gewöhnt hatten und ich einen schmalen Flur erkannte. Er war nicht sehr lang, und es gab nur eine Tür am Ende, die wahrscheinlich zu weiteren Räumlichkeiten und nach unten führte.
Eve
. Immer wieder sah ich ihr Gesicht vor meinem geistigen Auge und schluckte die bittere Galle hinunter, die mich innerlich verätzte. Was, wenn sie gar nicht mehr hier waren? Wenn ich sie verpasst hatte? Wenn Dale sie schon verschleppt hatte? Wenn jemand hinter dieser Tür auf mich wartete und mich einfach erschoss, ohne dass ich Eve retten konnte?
Gedanken, Worte, Ängste kreisten in meinem Kopf und hämmerten gegen meinen Schädel, bis ich die Tür erreichte und mein Ohr vorsichtig dagegen presste. Vernahm ich Stimmen oder verhörte ich mich? Es war eher ein Murmeln, jemand, der monoton etwas erzählte. Vielleicht Dale.
Leise drückte ich die Klinke nach unten und spähte durch den Spalt. Wie erwartet stand ich in einem Raum, von dem nun mehrere Türen abgingen. Ich lauschte und machte die Stimme in einem Zimmer auf der rechten Seite aus.
Am liebsten hätte ich das Türblatt aufgetreten und den Typen zur Strecke gebracht. Aber ich wusste nicht, was dahinter lag und ob ich mit einer ziellosen Ballerei nicht Eve oder Ian traf.
Also ging ich zur Tür, öffnete sie mit einem kräftigen Tritt und hielt die Waffe in beiden Händen nach vorne gestreckt in den Raum, während ich langsam nachrückte.
Mein Blick flog über das Szenario vor mir. Ian und Eve saßen auf dem Boden in einer Ecke. Mein Partner presste seine Handfläche auf die linke Schulter, aber aus seinen Fingern quoll eine beträchtliche Menge Blut. Ich sah zu Eve, die ihre Arme um ihre angewinkelten Beine geschlungen hatte und sich nun aufrichtete. In ihrem schönen Gesicht lagen Tränenspuren, aber sie wirkte nun hoffnungsvoller.
Bevor ich an ihrem Anblick hängen blieb, scannte ich den Raum weiter. Den Mann, der mit schaukelnden Beinen auf einem Tisch saß und eine Waffe auf mich richtete, hätte ich niemals hier vermutet.
»Ich dachte, du nimmst keine Aufträge an, wenn es sich dabei um Frauen oder Kinder handelt?«
Bane zuckte mit den Schultern und schnalzte mit der Zunge. Ich hatte Ian mehr als einmal gesagt, dass wir ihm nicht vertrauen konnten. Jemand, der diesen Job nur wegen des Geldes machte, war nur loyal, so lange nicht ein anderer mehr zahlte. Und Dale hatte Kohle. Genug davon.
Wahrscheinlich hatte er Ian sogar hierhergelockt und sich so gegeben, als wäre er auf unserer Seite, nur um diese Nummer dann abzuziehen. Mieses Stück Scheiße …
»Hm, ja«, sagte er gleichgültig und sah zu Eve. »Aber bis jetzt ist sie ja auch noch nicht tot.«
Mein Kiefer mahlte, und meine Waffe deutete genau auf seinen breiten Schädel. Er stand auf, und seine blauen Augen wirkten fast unnatürlich hell, während sein Gesicht zu einer Fratze aus Schatten und Licht verzogen war. Ich sah, was er war. Ich hatte es schon immer gesehen. Wenn man so lange nach seinen eigenen Gesetzen lebte wie er oder ich, verlor man irgendwann jede Moral oder Menschlichkeit. Der Unterschied zwischen uns war nur, dass ich nun etwas hatte, was ich verlieren konnte. Er nicht. Er war nun der einsame Wolf unter uns. Und das wusste er.
»Was willst du, Bane?« Es musste irgendeinen Grund geben, warum er Ian und Eve noch nicht umgelegt hatte. Er wollte etwas, und ich musste nur herausfinden, was das war.
»Das, was ich immer möchte und diesmal ein kleines bisschen mehr.«
»Und wenn ich dir das gebe und dich laufen lasse, wer sagt mir, dass du in einer Woche nicht noch mehr verlangst oder uns trotzdem umlegst?«
Bane grunzte, und am liebsten hätte ich ihm das Lachen aus seiner bescheuerten Visage geschossen. Scheiß auf die Sauerei. »Du mich laufen lassen? Kann es sein, dass du diese Situation hier gerade nicht richtig deutest.« Sein Gesichtsausdruck wurde wieder härter. »Craft, ich konnte dich Arschloch noch nie leiden, aber trotzdem hatte ich immer einen kleinen Funken Respekt für dich übrig. Ich habe keine Lust, dir ständig aufzulauern und dich auszunehmen. Das Ganze wäre mir zu mühsam, und du bist nicht mein Nabel der Welt, Darling. Außerdem werden wir beide nicht jünger, aber irgendwann kommt ein Bursche, der uns das Zepter aus der Hand nehmen und unsere hübschen Schädel wegblasen wird. Bis dahin will ich mit meinen Millionen irgendwo am Strand sitzen, auf meinem Schwanz ein knackiger Frauenarsch und in meiner Hand eine kalte Margarita.«
»Das heißt, du willst nur Kohle?« Ich lachte auf. »Und das soll ich dir glauben?«
Bane zuckte mit den Schultern und deutete mit der Waffe auf Eve. Ein Knurren kam über meine Lippen, und ich machte einen Satz auf ihn zu, doch er sprang zurück und zog den Arm in meine Richtung. Wir standen nun voreinander und bedrohten uns beide mit unseren Waffen. Ich sah die Kälte in seinen Augen, und er erkannte meine. Jeder von uns könnte ohne schlechtes Gewissen abdrücken, und ich würde es tun, wenn ich mir sicher sein könnte, dass Eve nichts passierte. Aber das konnte ich nicht, also tat ich nichts.
»Dale hat mich beauftragt, Delia umzulegen, aber das habe ich abgelehnt.«
Ich erinnerte mich an den Anruf, den Ian bekommen hatte, als Murphy bei uns gewesen war und uns mit seinen lächerlichen Forderungen belästigt hatte.
»Dann hat er mir das Dreifache geboten, wenn ich dich aus dem Verkehr schaffe.«
Ich schluckte. Das war mir irgendwie schon bewusst gewesen.
»Und na ja, ich bin eben ein geldgeiler Penner und du augenscheinlich keine Frau, also habe ich kein Problem mit meinem Gewissen.«
Mein Finger zitterte über dem Abzug, als ich Eves Schluchzen vernahm.
»Aber ich biete dir einen Deal an.« Er sah kurz hinüber und erwiderte dann meinen Blick. Nun sah ich etwas anderes in seinen Augen. Nicht nur Kälte. Der Schmerz verdrängte sie und übernahm die Kontrolle. Seine Stimme wurde ernster, und er schluckte hart. »Und du kannst auf mein Wort zählen, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man etwas verliert, das man liebt.« Er ließ seinen Arm sinken, aber ich schaffte es noch nicht, erleichtert auszuatmen oder das Gleiche zu tun. »Dale ist ohnehin ein Flachwichser mit Mundgeruch, also hol ich die vierfache Menge morgen bei euch ab und ihr werdet nie wieder irgendetwas von mir hören. Hab sowieso die Schnauze voll von New York. Zu kalt im Winter, und die Leute sind alle Snobs.«
Wieder wanderte mein Blick zu Eve. Sie hatte eine Handfläche auf den Mund gepresst und zitterte. Ian dagegen war totenblass und sah nur noch starr in den Raum, als wäre er überhaupt nicht mehr wirklich anwesend. Ich musste schnell entscheiden, wenn ich meinen besten Freund hier lebend rausholen wollte. Andererseits wusste ich nicht, ob ich Bane tatsächlich vertrauen konnte und er uns nicht alle drei kaltmachte, wenn ich einknickte.
Ich sah ihn an. Er hatte seine Waffe auf den Tisch hinter sich gelegt und hielt mir seine freie Hand zum Einschlagen hin. Mein Puls pochte in meinen Ohren. Es war, als würde die Zeit stillstehen.
Mit einem Seufzen senkte ich die Waffe und hielt ihm dagegen meine Rechte hin. Auf Banes Lippen erschien ein Lächeln, und wir schlugen ein.
»Ich hoffe sehr, dass du morgen noch lebst, Craft, wenn nicht, hol ich mir die Kohle definitiv woanders.«
Mir war klar, was er mir mit seiner Drohung sagen wollte, deshalb nickte ich nur. »Morgen, wie vereinbart.«
»Okay, dann will ich euch mal allein lassen, denn ich glaube, ihr braucht nun unbedingt jemanden, der sich das ansieht.« Er deutete auf Ian und hob dann entschuldigend die Hand. »Und sorry, Mann, aber du hättest nicht auf mich schießen sollen.«
Ian verzog nur schmerzhaft das Gesicht, hob schwerfällig seine freie Hand und zeigte Bane den Mittelfinger. Der lachte kurz auf.
»Ach ja, außerdem tut es mir auch leid für euren Mann Scott, ich hab ihm gesagt, er soll einfach abhauen, aber er wollte für euch unbedingt sein jämmerliches Leben riskieren.« Ich presste die Zähne so fest aufeinander, dass ich dachte, mein Kiefer brach. Ich hoffte, er würde tatsächlich schnell das Land verlassen, denn würde er sich noch länger hier aufhalten, wäre er tot. »Bye, ihr Freaks.« Damit verließ er das Zimmer. Ich verdrängte meine Wut und stürzte zu Eve. Während ich sie fest an mich zog und sie sich schluchzend in mein Hemd krallte, wandte ich mich zu Ian um und zog mein Handy heraus.
»Der Doc wird sich um dich kümmern, okay? Halt durch, Ian!«
Auch Eve löste sich wieder von mir und hielt nun Ians freie Hand. Ich hasste den Geruch und das Aussehen von Blut, und mir wurde übel. Als ich das Klingeln in der Leitung vernahm und das Telefonat angenommen wurde, atmete ich erleichtert aus. Ian würde durchkommen! Jetzt galt es nur, Delia zu finden! Lebend!