Kapitel 37
Ich hatte Eve in noch keinem Moment zuvor so bewundert. Sie war stark und wollte das Schicksal ihrer Freundin und ihr eigenes selbst in die Hand nehmen, egal, was passieren konnte. Auch wenn ich sie immer noch am liebsten an meinem Autositz festgebunden hätte, konnte ich nicht verhindern, einen riesigen Anflug von Stolz und Respekt ihr gegenüber zu empfinden.
Trotzdem musste ich alles versuchen, um sie zu schützen. Also ging ich vor, als wir langsam die asphaltierte Straße in Richtung Strand hinunterliefen. Es war dunkel, man erkannte nur Schemen durch den abnehmenden Vollmond und hörte Scharen von Grillen in den Gebüschen am Straßenrand. Bis das Licht eines Hauses in Sicht kam und ich den Arm nach hinten ausstreckte, um Eve zu stoppen.
»Ist es das?«, fragte ich flüsternd, und mein Blick flog über die Fassade aus hellem Stein und Holz. Ganz bestimmt hatte der Penner Sicherheitskameras und sehr wahrscheinlich auch eine Alarmanlage. So leichtsinnig war er garantiert nicht, denn ich konnte mir vorstellen, dass nicht nur wir rot markiert auf seiner Feindesliste standen.
»Ich weiß es nicht …«, antwortete Eve unsicher. »Ich war nie hier, ich kenne nur Delias Erzählungen. Ich denke schon.«
Das genügte mir. Vor allem, als ich den protzigen Jaguar in der Einfahrt aus groben Steinen entdeckte. Er musste einfach hier sein.
Ich drehte mich zu Eve um und legte meine Hände auf ihre Schultern. »Du weißt, was wir besprochen haben? Wenn unser Eindringen wirklich einen Alarm auslöst, schätze ich, haben wir keine zehn Minuten, um die Sache zu erledigen. Bist du dir ganz sicher, dass du nicht lieber hier warten möchtest?«
Eve nickte, aber ich spürte, dass sie nun doch unsicher wurde, was völlig verständlich war. »Auf jeden Fall.«
Ich legte meine Hand an ihre Wange, und sie schmiegte sich in meine Berührung. »Bleib hinter mir.«
Nach einem letzten Blick auf sie schob ich den Gedanken beiseite, dass es ein Fehler war, sie mitzunehmen, und lief weiter. Eve folgte mir dicht, bis wir die steinerne Hauswand erreichten und innehielten. Kein Geräusch drang vom Inneren zu uns nach draußen. Mein Körper war von den Füßen bis zu meinem Scheitel angespannt. Das Adrenalin rauschte durch meine Venen und ließ mich meine Umgebung zu hundert Prozent wahrnehmen. Mir wurde heiß, und die Angst, dass Dale oder einer seiner Männer uns ab sofort jederzeit erwischen und umlegen könnte, brannte sich förmlich durch meine Nerven.
Dicht an die Wand gepresst, lief ich ums Haus und sah mich immer wieder nach Eve um, die mir nah folgte. Sie war genauso lautlos, wie sie sein sollte, und erneut war ich froh, dass sie für alles in meinem Leben so perfekt schien. Wenngleich ich nicht vorhatte, solche Streifzüge in naher Zukunft zu wiederholen. Ganz bestimmt nicht …
Erfahrungsgemäß waren die Terrassentüren am leichtesten zu knacken, also steuerte ich den Garten an, half Eve über einen hüfthohen Zaun und spähte um die Ecke. Der Pool war durch Strahler unter Wasser in Szene gesetzt, und Licht drang vom Innern des Hauses hinaus. Es war also auf jeden Fall irgendjemand zu Hause. Auch wenn es nicht Dale sein sollte, aber wir mussten nun einen Blick riskieren. Wir hatten nur diese eine Chance.
»Warte kurz«, flüsterte ich an Eve gewandt. Ich lehnte mich nach vorne und sah, dass die Tür tatsächlich einen Spaltbreit geöffnet war. Dale musste sich so etwas von sicher fühlen, was mich fast auflachen ließ. Diesen Fehler würde er garantiert nur einmal machen können.
Klassische Musik drang nun gedämpft nach draußen, und ich sprang einen lautlosen Satz zurück in meine Deckung, als ich einen Schatten entdeckte, der sich im Haus bewegte.
Als ich Eve einen Blick zuwarf, sah ich Angst, doch auch Entschlossenheit. Ich nahm ihre Hand und drückte ohne ein Wort ihre Finger. Nachdem ich sie losgelassen hatte, deutete ich mit dem Zeigefinger zur Terrasse, und sie nickte.
Langsam und gegen die Außenfassade gedrückt, bewegten wir uns nach vorne. Als wir an der Glastür ankamen, lehnte ich mich ein Stück vor und erkannte ein großes Wohnzimmer vor mir. Ein Kamin brannte auf der linken Seite, davor stand eine graue Stoffcouch, die zum Glück unbesetzt war. Auch im Essbereich und in der offenen Küche dahinter befand sich niemand. Ich wartete einen Moment, bis wieder ein Schatten auftauchte und jemand das Wohnzimmer betrat. Dale. Bingo!
Er trug nur eine silberne Pyjamahose und ein passendes Oberteil. Seine Füße steckten in Hausschlappen, und in seiner rechten Hand hielt er ein leeres Weinglas. Sein Blick war geradeaus gerichtet, und er lief selbstbewusst mit durchgedrücktem Rücken durch den Raum bis zu einer Bar in der Ecke. Dort füllte er sich Rotwein in das Glas, stellte die Musikanlage, die danebenstand, ein kleines Stückchen lauter und verließ das Zimmer in die entgegengesetzte Richtung auf der rechten Seite. Ich sah nur noch, wie er in einem dunklen Flur verschwand. Das war unsere Chance.
Eilig lief ich zu der Tür und zog sie zur Seite. Fast lautlos glitt sie auf, und ich betrat zuerst den Raum. Meine Waffe hatte ich auf dem Weg gezogen und hielt sie gestreckt mit beiden Händen vor mir. Wenn Dale auftauchte, würde ich keine Sekunde zögern und einfach abdrücken.
Ich hörte, wie Eve hinter mir herlief, dann ein lautes Räuspern aus dem Flur, und ich stoppte sie erneut mit meinem Arm. Drei Atemzüge lauschte ich in die Stille. Drei Atemzüge dauerte es, bis ich einen weiteren Schritt nach vorne wagte.
Langsam bewegten wir uns vorwärts an den Möbeln vorbei, und immer wieder spähte ich vorsichtig in den Flur. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich halb zu Eve umdrehte.
»Wie besprochen, du suchst Delia, ich kümmere mich um Dale.«
Sie nickte, aber zögerte einen Moment.
»Mir wird nichts passieren!«
Ohne ein weiteres Wort zog sie mich kurz an sich und küsste mich. Bevor ich es mir erlaubte, in unseren Kuss zu fallen, löste ich mich von ihr und umfasste ihre Schultern fest. »Los!« Und meine Anweisung funktionierte wie ein Startsignal. Zügig lief Eve in die entgegengesetzte Richtung, und ich drang weiter in den Flur und lauschte. Im hinteren Zimmer vernahm ich Stimmen und wartete einen Moment. Es hörte sich nicht so an, als wären noch andere Personen in dem Raum, sondern als schaute Dale Fernsehen, irgendeinen Actionstreifen. Also schlich ich weiter. Meine Finger waren feucht, als ich den kalten Knauf leise drehte und vorsichtig die Tür aufdrückte. Ich hielt den Atem an, sah wie vermutet einen laufenden Fernseher und ging auf den hohen Sessel davor zu. Schritt für Schritt näherte ich mich meinem Ziel. Das Weinglas stand auf einem Tisch daneben. Dale musste dort sitzen und am besten jagte ich ihm direkt eine Kugel durch den Rücken.
Doch was, wenn das ebenfalls eine geplante Falle war und Delia stattdessen auf dem Sessel saß? Nein, das konnte ich nicht riskieren.
Die Lehne kam in greifbare Nähe. Ich stellte mich leicht auf den Zehenspitzen auf und schaute über den Rand. Die Sitzfläche war leer. Fuck!
»Wie schön, dich zu sehen, Darling.« Ich fuhr herum, als ich Donnas Stimme vernahm. Ich hatte es gewusst. Dieses Kapitel war noch nicht abgeschlossen.
»Donna«, erwiderte ich nur kalt, ließ die Waffe aber auf sie gerichtet. Auch wenn sie unbewaffnet wirkte, sollte sie nicht das Gefühl haben, ich würde sie unterschätzen. Ich wusste, was für ein berechnendes Biest sie war. »Die Freude liegt wohl nur auf einer Seite.«
Sie lachte. »So charmant wie eh und je.«
»Egal, weshalb du hier bist, es war eine schlechte Entscheidung«, sagte ich nur, und ihr Gesicht gefror kurz zu einer fiesen Fratze.
»Ich hätte gehofft, dass du mich nur einmal so angesehen hättest wie diese billige Schlampe Eve.« Donna spuckte verächtlich ihren Namen aus. »Oder mich nur einmal so gefickt.« Was wusste sie? Anscheinend zu viel. »Stattdessen hast du mich kein einziges Mal angefasst.«
»Unsere Ehe war Schein, hast du wirklich gedacht, wir könnten so tun, als wäre sie echt?«, fragte ich sie, und Donna spielte mit einer Strähne ihres blond gefärbten Haares.
»Stimmt, sie war tatsächlich nicht echt. Gavin hatte mir aber eigentlich gesagt, dass ich dich um den Verstand bringen soll, damit er irgendwelche Details deines Geschäftes bekommt. Schade, dass du kein einziges Mal auf mich eingegangen bist, das hätte mir ziemlichen Ärger mit Gav erspart.«
Ich verkniff mir zu sagen, dass ich mir hätte denken können, dass nicht nur ihr schwachköpfiger Vater hinter unserer arrangierten Ehe steckte. Die Frage war nur, was sollte ich nun mit ihr tun? Im Grunde war sie harmlos, ein Mitläufer, aber durch die Verbindung zu Dale vielleicht weitaus gefährlicher, als man denken mochte. Ich richtete die Waffe immer noch auf sie. »Wo ist Dale?«
Sie lachte unecht. »Gar nicht so weit weg, wie du ahnst. Er wollte das mit dir selbst in die Hand nehmen. Natürlich wollte er das. Er ist schließlich ein ganzer Mann.« Sie war es nicht wert, dass ich auf ihre Anspielung einging. Stattdessen zitterte mein Finger am Abzug. Bis Dale im Türrahmen hinter Donna auftauchte und sie als Schild für sich nutzte. Er dachte wohl nicht, dass ich sie opfern würde, wenn es sein musste. Ich würde. Wenn ich Eve danach in Sicherheit wissen könnte, würde ich jeden verdammten Menschen auf diesem Planeten opfern. Einschließlich mich selbst.
»Hattest du gedacht, dass es so einfach werden würde?« Dale schüttelte den Kopf, und mein Blick flog über seinen halb verdeckten Körper. Mein Projektil war darauf ausgelegt, in meinem Opfer größtmöglichen Schaden anzurichten, und reichte daher nicht aus, um zwei Menschen zu durchdringen. Ich sah keine Waffe, und das Zielen auf ihn wurde mir durch Donna erschwert. Die Pute merkte nicht mal, dass er sie als Deckung missbrauchte. Sie schmiegte sich nur an ihn. »Ich sehe, meine Süße hat schon ein bisschen mit dir geplaudert.«
Ich erwiderte nichts darauf, und Dale schnalzte mit der Zunge.
»Und irgendwie war mir klar, dass Bane es nicht durchziehen würde. Weshalb auch immer, mein Angebot war wirklich großzügig! Vielleicht ist der Waschlappen in den letzten Jahren doch weich geworden.«
»Wieso?«, fragte ich nur, wobei ich es eigentlich gar nicht zu wissen brauchte. Aber irgendetwas sagte mir, dass mehr dahintersteckte als die Sache mit Delia oder Donna. Dale war kein Typ, der sich wegen einer Frau mit jemandem anlegte.
Er seufzte. »Dein Vater ist ein großartiger Mann. Eine Person, der man, ohne zu fragen, folgt, ein Macher, jemand, der einfach alles unter Kontrolle hat. Selbst im Knast würde jeder sein verficktes Leben für ihn riskieren und niemals seine Anweisungen infrage stellen. Auch nicht, wenn es heißt, seinen verräterischen Sohn umzulegen.«
Meine Finger zogen sich enger um den Griff der Waffe. Ich sparte mir meine Worte. Es brachte ja doch nichts. Mein Vater würde das bekommen, was er verdiente. Genauso wie Dale. Also scheiß auf alle beide.
»Wo ist das Mädchen?«
»Weißt du, dass es gar nicht um sie ging? Also zumindest nicht, seitdem ich wieder hier in der Stadt bin. Eigentlich wollte ich deine Kleine mitnehmen, aber ständig war irgendjemand an ihrer Seite, und ich dachte mir, dass ihr beide ihrer Schlampenfreundin sowieso nachrennt. Du würdest alles für Eves hübsche Pussy tun, oder? Ich hätte sie damals nehmen sollen und nicht ihre frigide Freundin!«
»Halt dein dreckiges …« Und bevor ich weitersprechen oder abdrücken konnte, erklang ein Schuss durch den Raum. Donnas Augen wurden kurz größer, dann sackte sie auf dem Boden zusammen. Im gleichen Moment durchzuckte mich ein scharfer Schmerz, und die Luft wurde aus meinen Lungen gepresst. Ich stolperte nach hinten, stürzte und fiel. Schwer schnappte ich nach Sauerstoff und presste meine Hände auf die Brust. Meine Waffe war bei dem Treffer aus Dales Lauf zu Boden gefallen. Er hatte Donna nicht als Schutzschild für sich genutzt, sondern als Deckung für das, was er vorgehabt hatte. Ich hätte es wissen müssen. Halb lehnte ich mit dem Rücken gegen die Wand, versuchte, mich zusammenzureißen und wieder aufzustehen. An die Waffe zu kommen. Eve zu beschützen.
Dale tauchte über mir auf, während ich immer wieder nach Luft schnappte und den immensen Schmerz in meiner Brust kaum ignorieren konnte. »Schade um Donna, sie hat im Bett wirklich alles gegeben. Aber jetzt mache ich endlich alte Fehler wieder gut und kümmere mich um deine Kleine.«