Nach der Kirche gehen Robin und ich zum Holzholen in den Wald.
»Stell dir William in Schottland vor!«, sagt Robin. »Meinst du, Robert Bruce macht Kleinholz aus ihm? Ich finde ja, wir sollten auch weg, aber Mutter meint, wir bekämen nicht genug für unser Land, und außerdem will sie Großmutter die Mannsteuer nicht aufbürden.«
»Du würdest aus Ingleforn weggehen?« Schon von dem Gedanken wird mir schwindlig. Ich kenne nichts außer Ingleforn – die Hügel hinter uns, den Wald beim Dorf, das komische Kirchlein mit der verbogenen Turmspitze. Schon als ich noch kleiner war als Maggie jetzt, habe ich auf Vaters Acker mitgeholfen, bin den Schnittern gefolgt und habe die heruntergefallenen Gerstenhalme aufgeklaubt. Wie kann Robin so leichten Herzens ans Weggehen denken?
Robin grinst mich an. »Du guckst schon wieder wie ein Bauer.«
»Wie ein Bauer?«
Er spitzt die Lippen und legt die Stirn in Falten. »Robin, wieso machst du dir nichts aus dem Hafer? Schau mal, die Bohnen, wie schön! Vater hat vier Morgen dazugekauft, da haben wir dieses Jahr noch mehr Arbeit, ist das nicht herrlich?«
Ich schubse ihn. »Besser als dein Gesicht.« Dabei hat Robin ein liebes Gesicht, immer in Bewegung, immer mit lachendem Mund, aber jetzt spiele ich Robin, die Schlafmütze, lasse den Kopf baumeln, die Zunge raushängen und klappe die Augen zu.
»Ach je … gibt’s Arbeit? Warum macht … das nicht … Isabel? Ist so … gemü-ü-ütlich hier …«
»Klingt doch gut«, sagt Robin, zugleich bückt er sich aber und hebt einen Ast auf. Mein Beutel ist fast voll. »Ja, ich würde weggehen. Ich wär lieber arm und am Leben als hier und tot. Hast du von dem Nonnenkloster gehört …«
»Ja, hab ich!« Was im Nonnenkloster passiert sein soll, ist die schlimmste Geschichte von allen – in diesem Jahr voller Schrecken, mit den vielen Berichten über Dörfer, in denen nur noch Tote sind, über Leichen auf den Straßen, die verrotten und von Raben und Schweinen gefressen werden, über verhungernde Kinder neben Feldern voller Korn, das niemand mehr erntet, über Leute, die ihre Angehörigen alleine sterben lassen, sodass keiner mehr da ist, der die Totenglocken läutet oder eine Messe liest.
»Ich glaub nicht mal die Hälfte von dem, was die Leute erzählen«, sage ich zu Robin. »Außerdem kannst du nicht weg. Du gehörst Sir Edmund, genau wie ich, wenn du deine Großmutter nicht für deine Freiheit büßen lassen willst. Also bleiben wir hier. Wozu das Grübeln?«
Ich dränge mich an Robin vorbei und laufe den Hang hoch, der Beutel mit Holz schlägt mir gegen den Rücken, und die Stöcke bohren sich mir ins Fleisch wie Fragen, die keiner hören will. Vielleicht kommt die Seuche nicht bis zu uns. Kann doch sein.
Ich trete aus dem Wald. Und erstarre.
Ein langer Trupp von Leuten zieht aus York die Straße entlang. Außer in kalten Wintern ist die Straße nicht besonders gefährlich, trotzdem reisen die wenigsten Leute allein, denn in den Wäldern gibt es Wegelagerer und Geächtete. Aber einen so großen Zug wie den hier habe ich noch nie gesehen. Menschen und Vieh, Rufe und Stimmengewirr, schrilles Quieken von Schweinen, heulende Kinder. Da sind Reiter, die nichts weiter dabeihaben als das, was in ihre Satteltaschen passt, Packpferde, die mit den Besitztümern ganzer Familien beladen sind, sogar ein Gefährt, das wie ein Heuwagen aussieht und auf dem sich Bettzeug und Möbel türmen, da sind Hühner in Käfigen und launisch herumspringende Gänse, Menschen allein und Menschen in Gruppen, Spielleute und Geistliche, Aussätzige und Bettler neben Familien mit Bediensteten, und da ist sogar eine von zwei Pferden getragene überdachte Sänfte, die gefährlich kippelt, als sich die Pferde durch Matsch und Löcher kämpfen.
Ich höre Robins Schritte hinter mir. Ihm stockt der Atem, er kann nur noch keuchen.
»Wo wollen die hin?«, sage ich, ohne den Blick von der Straße zu lösen. Robin beugt sich vor, stützt die Hände auf die Knie. Er atmet tief durch.
»Duresme. Schottland. Hierher.«
»Doch nicht hierher!« Das geht nicht. Ich weiß, wie sich die Krankheit ausbreitet. Sie wohnt in den Häusern der Armen und Elenden. Übertragen wird sie durch Miasmen – üble Dünste. Wer den Pesthauch von Kranken einatmet, wird selbst auch krank. Um verschont zu werden, muss man die tote Luft mit Lavendel und Rosmarin und Rosenblüten und andern lieblichen Düften abwehren.
»Die bringen die Krankheit her!«, sage ich.
Robin schüttelt den Kopf. »Die wissen Bescheid. Schau da!«
Er zeigt auf zwei Männer aus unserm Dorf, die mit denen aus dem Zug reden. Trotz der Entfernung erkenne ich Gilbert Reeve, den Schultheiß, und Philip de Coverley, den Büttel. Die beiden sprechen mit einem kleinen Knäuel von Männern und zeigen die Straße entlang.
»Die schicken sie weg«, sagt Robin, aber …
»Sie sollen zum Kloster!«
Die Abtei von St. Mary liegt etwa drei Meilen östlich von Ingleforn. Die Mönche werden die Reisenden nicht abweisen. Sie geben allen Obdach – Soldaten, Bettlern, einmal haben sie sogar einen Boten von König Edward bei sich aufgenommen. Aber …
»Aber da ist Geoffrey!«
Robin schaut weg, zurück zur Straße. »Wird schon alles gut gehen, Isabel, ganz bestimmt.«
Doch er denkt an die Geschichte vom Nonnenkloster. Genau wie ich. Eine Truppe von Spielleuten, die im Frühjahr durch Great Riding gezogen ist, hat sie erzählt. Großes Grausen hatte sie erfüllt über ein Kloster in Frankreich, in dem alle Nonnen außer einer die Pest bekamen und starben.
»Man sagt, die Nonnen hätten’s mit Teufeln getrieben«, behauptete der Flötenspieler, worauf die Trommlerin den Kopf schüttelte.
»Sie haben die Kranken aus dem Dorf gepflegt«, sagte sie. »Daran sind sie gestorben.«
»Alle außer einer tot«, staunte Alice.
Die Trommlerin antwortete: »Nur eine war noch da, die Toten zu begraben und ihre Namen in das große Klosterbuch zu schreiben. Danach hat sie sich im Fluss ertränkt.«
Das ist die Geschichte, die uns so viel Unbehagen bereitet. Nonnen – gute Frauen, die den Kranken halfen und Fremde bei sich aufnahmen, wie Gott es von ihnen verlangt. Gerade weil sie so fromm waren, hatten sie sterben müssen. Und die letzte von ihnen hatte sich ertränkt. Ihre offenen langen Haare waren im Wasser getrieben, wie die einer wahnsinnigen Selbstmörderin, und ihre Seele war zur Hölle gefahren.
Das ist die allerschlimmste Geschichte.