5  GRENZEN

Will Thatcher wendet mir den Rücken zu und schaut, wie Gilbert Reeve, der Schultheiß, und Radulf, der Gerichtsdiener, in ihren Pergamenten herumkramen. Er steht kerzengerade, aber sein Helm sitzt schief, und sein Bein ist hinten von oben bis unten voll Matsch. Einer von Edward Millers Hunden schnüffelt an seinen Stiefeln. Will guckt starr geradeaus und tut, als würde er nichts merken.

»Er mag dich«, wispert mir Amabel Dyer zu.

»Psst! Das hört er doch«, wispere ich zurück, ein bisschen zu laut, und wir kichern beide.

Will Thatcher ist sechzehn und einer von Sir Edmunds Soldaten. Er hat bei der Schlacht von Crécy in Frankreich mitgekämpft, im Tross von König Edward. Jetzt bewacht er nur noch das Herrenhaus von Sir Edmund, trotzdem haftet ihm wegen Crécy immer noch ein bisschen Glanz an. Er ist einer der besten Bogenschützen im Dorf und ziemlich hübsch, aber immer wenn er mich sieht, wird er knallrot, und ich muss einfach kichern. Wenn er doch ein bisschen mehr reden würde. Oder überhaupt den Mund aufbekäme.

Alle aus dem Dorf sind auf dem Anger versammelt, unter der Gerichtseiche. Sir Edmund ist natürlich nicht da – er wohnt in London. Ich bin ihm nur einmal begegnet, da war ich noch ganz klein. Mir ist nicht viel in Erinnerung geblieben. Er saß in einem Pelzmantel auf einem großen kastanienbraunen Zelter, und er und sein Verwalter redeten in einer seltsamen Sprache miteinander. Wie Vater mir später erklärte, war das Französisch.

Der Tisch aus der Zehntscheune steht heute unter der Gerichtseiche. Dahinter sitzen Gilbert und Radulf, sie reden im Flüsterton mit unserm Pfarrer, Sir John. Sir John hat Schreibfeder und Tinte aus dem Skriptorium in der Zehntscheune vor sich und fährt unentwegt mit den Fingern über die Feder. Radulf und Gilbert streiten sich – Gilbert fuchtelt mit den Händen. Ich bekomme nicht mit, was sie sagen, aber Radulf schüttelt den Kopf und brummelt vor sich hin. Alice funkelt die beiden böse an.

»Wer ist gestorben und hat die zwei da zum König gemacht?«, murmelt sie und rückt Edward auf ihrer Hüfte zurecht. Edward streckt sein Händchen aus und will an ihrem Schleier ziehen, aber sie schiebt es gereizt beiseite.

»Halb Europa«, antwortet Vater trocken.

Ned legt sich die Hände um den Hals und japst, als wäre er kurz vorm Ersticken. »Und Schultheiß Gilbert – wird – der Nächste –«

Wir sind nicht so viele, wie wir sein sollten. Vier oder fünf Familien sind schon weg. Sie haben ihr Land verkauft, um nach Norden zu ziehen, wie die Leute aus York, die Robin und ich gesehen haben.

Kann die Pest wirklich bis nach York gekommen sein?

Sir John, der Pfarrer, steht auf.

»Man erzählt sich, die Pest ist in Felton«, verkündet er, und ein Angstschauder läuft durch die Menge. Felton ist nur einen Tag weit weg. Ich drehe mich zu Alice um, sie ist blass geworden. Leise betet sie ein Pater Noster.

»Uns bleibt nur die Hoffnung, dass der Herr uns verschont«, sagt Sir John mit lauter Stimme, um den Tumult zu übertönen. »Wir müssen unsere Sünden bereuen und den Herrn demütig um Verzeihung anflehen.«

Dann redet er über zusätzliche Messen und Gebete und Barfußprozessionen. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was ich bereuen könnte. Mir tut leid, dass ich garstig zu Alice war. Mir tut leid, dass ich Ned und Mag angeschnauzt habe. Mir tut leid, dass ich Alice um ihre strohblonden Haare beneide und überhaupt so viel nachdenke über meine Haare, die viel zu schlapp und kupferrot sind. Und mir tut leid, dass ich mich über die Sommersprossen auf meiner Nase gräme und mich frage, wie es wäre, von Will Thatcher geküsst zu werden.

Das klingt nicht nach viel.

Jetzt erhebt sich Gilbert. Als Schultheiß ist er die Hand und die Stimme von Sir Edmund hier im Dorf. Er sorgt dafür, dass wir alle zur rechten Zeit auf den Feldern sind und unsere Pacht zahlen, und den Hauptfall, wenn jemand stirbt. Und er kauft alles, was Sir Edmund für das Gut braucht – Pflüge und Zuggeschirre und Wagenschmiere, Nägel, Hämmer, Hacken und Hobel. Radulf, sein Gehilfe, ist ein großer Mann mit wächserner Haut, einem langen, trübsinnigen Gesicht und hängenden Wangen und einer Frau mit bösem Mundwerk und spitzen Ellbogen, die in alles ihre Nase steckt und gerne Leute kneift. Trotzdem mag ich Radulf. Er redet kaum etwas, aber für Maggie und Edward hat er immer ein freundliches Wort übrig.

Gilbert streicht sich über den Bart, als wüsste er nicht recht, wie er anfangen soll.

»Also«, sagt er. »Nun ja. Ihr wisst alle, warum wir hier sind. Es muss was passieren – jawohl. Great Riding, hört man, igelt sich ein und schickt alle Reisenden weg. Wir denken – äh –, wir sollten das hier auch tun.«

Radulf hält den Kopf gesenkt und zieht die Mundwinkel nach unten. Ich schiebe mich dichter an Robin.

»Schau dir Radulf an! Warum ist er so bekümmert?«

»Weißt du’s nicht?« Amabel hört Gilbert auch nicht zu. »Radulfs Schwester wohnt in York«, verkündet sie. »Gestern erst hat er Mutter gesagt, er findet, wir sollten die Flüchtlinge aufnehmen. Der Mann würde glatt die Pest hier einschleppen und uns allen den Tod bringen.«

»Er kann doch seine Schwester nicht wegschicken«, sagt Robin, und Amabel ärgert sich.

»Er darf sie nicht nach Ingleforn holen!«, erklärt sie. »So selbstsüchtig kann doch keiner sein, die Krankheit hierherzubringen. Die soll in York bleiben und uns zufrieden lassen!«

Robin dreht sich unbehaglich hin und her, aber die andern Dorfbewohner sind anscheinend der gleichen Meinung wie Amabel. Die Männer beratschlagen, wie sie sich in Gruppen zusammentun und alle Straßen ins Dorf bewachen können.

»Die Leute stehlen auch Vieh«, behauptet ein Kaplan. Erstaunlich, was er alles weiß. Schließlich haben wir die Flüchtlinge gestern zum ersten Mal zu Gesicht bekommen.

»Und was ist mit der Christenpflicht der Gastfreundschaft?«, fragt Robin. Er wirft Alice einen Blick zu, aber die steht stocksteif da und sagt nichts. »Die Leute sterben, wenn keiner sie aufnimmt.«

Alice schlingt den Arm fester um Baby Edward, der wieder seine dicke kleine Faust ausstreckt und an ihrem Schleier zerrt. Alice ist frommer als irgendwer sonst in meiner Familie, von Geoffrey abgesehen, doch diesmal weicht sie Robins Blick aus.

»Die meisten von denen sterben sowieso«, sagt sie. Mir wird klar, dass sie Angst hat.