6  PROZESSION

Der Abt führt die Prozession an. Er schwingt im Laufen ein Gefäß mit brennendem Weihrauch und versucht mit lateinischen Psalmen die Dämonen zu verscheuchen und die guten Erdgeister anzulocken. Oder die Engel. Wahrscheinlich eher die Engel.

Die andern Mönche folgen ihm in dichten Reihen und mit gesenkten Köpfen. Ich zähle einunddreißig kahle, warzige Köpfe, was hinkommt, denn acht Mönche sind schon zu alt für eine Prozession, und der Krankenbruder und sein Gehilfe sind in der Abtei geblieben. Mein Bruder Geoffrey läuft ganz hinten, nicht in den Reihen der Mönche und nicht mit den Leuten aus dem Dorf. Armer Geoffrey, nicht dies und nicht das. Er ist hochgeschossen im letzten Jahr und erinnert mich an Unkraut, das im Dunkeln wächst und die Sonne sucht. Sein strohblonder Haarschopf fällt ihm seltsam über die Ohren, die runde Tonsur mitten auf dem Kopf ist sonnenverbrannt vom heißen Wetter der letzten Tage. Geoffrey ist kein Mönch. Er ist noch zu jung dafür – gerade mal eineinhalb Jahre älter als ich. In der Abtei ist er, um Latein und Französisch und die Geschichten aus der Bibel zu lernen und alles, was er sonst noch wissen muss, um Priester zu werden.

Es ist ein kalter Tag, einer von den düsteren, windigen Tagen, wie es sie mitten im Sommer manchmal gibt, und als der Abt die vierzehnte Bibelstelle vorliest, fängt es zu regnen an. Mag wimmert.

»Mir ist kalt. Ich will meine Schuhe.«

Ich zittere und ziehe meinen Umhang enger um mich.

 

Wir beten zu Gott, er möge der Pest ein Ende bereiten. Uns verschonen. Wir bitten Ihn um Vergebung für alle Sünden, die wir begangen haben. Barfuß und voller Reue werfen wir uns vor Ihm in den Staub und flehen Ihn an, Seine Krankheit von unsern Türen fernzuhalten. Und von den Türen derer, die wir lieben. Bitte lass uns davonkommen, bitte, bitte. Schick Deinen göttlichen Zorn zu den Leuten, die wirklich böse sind, in York und in London oder auf der andern Seite des Meers.

In manchen Gegenden hat das gewirkt, in Cornwall und in Devon. An ein paar Dörfern ist die Pest einfach vorbeigezogen, so wie die zehn ägyptischen Plagen die Häuser der Israeliten verschonten. Aber Geoffrey behauptet, der Papst selbst hätte die Prozessionen in Avignon geleitet und seine Leute trotzdem nicht retten können.

Nach der Prozession hängt mir der Matsch schwer und klobig an den Füßen, wahrscheinlich fallen sie mir nur deshalb trotz der Kälte nicht ab. Geoffrey und Robin und ich gehen zum Füßewaschen runter an den Fluss. Robin hat unter den Jungen aus dem Dorf nicht viele Freunde – meistens hält er sich an mich und Amabel und an Alison Spinner. Aber mit Geoffrey hat er sich schon immer gut verstanden, auch als wir noch klein waren.

Ich bin Geoffrey gegenüber ein bisschen schüchtern, was immer so ist, wenn ich ihn lange nicht gesehen habe. Dann fällt mir alles Mögliche an ihm auf, das ich vergessen habe. Wie groß er ist. Dass er sich in den fünf Jahren, die er schon bei den Mönchen lebt, einen normannischen Akzent angewöhnt hat. Wie ihm sein strohblondes Haar ins Gesicht fällt und wie er den Kopf zurückwirft, um es aus den Augen zu kriegen.

»Geht’s dir gut?«, frage ich ein bisschen nervös. »Kommst du zum Mittsommerfest? Habt ihr wirklich allen Leuten aus York ein Bett gegeben?«

Bei der letzten Frage verzieht Geoffrey das Gesicht. »So vielen wie möglich. Den Rest lassen wir in der Scheune schlafen. Mach dir keine Sorgen, Isabel. Erzähl mir lieber, wie es dir geht – und Vater – und Ned und Maggie.«

»Uns geht’s gut«, sage ich. »Edward hat schon drei Zähne! Und er kann sich umdrehen – und klatschen und –«

»Tüchtiger Junge«, sagt Geoffrey, aber er kennt Edward kaum und macht sich nicht viel aus ihm. Wie seltsam, einen Bruder zu haben, den du nicht kennst und auch nicht lieb hast! Das kann ich kaum begreifen, genauso wenig, wie ich mir vorstellen kann, wie es wäre, wenn Alice nicht zu uns gehören würde und uns nicht lieb hätte oder wir sie nicht.

»Ich glaub nicht, dass ich zum Mittsommerfeuer kommen darf«, sagt er. »In der Abtei ist so viel zu tun, jetzt, wo all die Leute da sind.Ich habe mich mit Galen befasst. Ich wüsste gern, ob er so was wie diese Pest je erlebt hat.«

»Galen?«, frage ich. »Ist das der Krankenbruder?«

Geoffrey lacht. »Das ist einer der Väter der Medizin«, erklärt er. Anscheinend sieht er mir an, wie verwirrt ich bin. »Galen hat vor Hunderten von Jahren gelebt, Isabel.«

»Ah.« Geoffrey weiß immer mehr als ich, egal worum es geht. »Wirst du also Krankenbruder?«

Geoffrey lässt den Kopf über seine Stiefelschnalle hängen. Ohne aufzusehen, sagt er: »Könnt ihr ein Geheimnis bewahren?«

»Klar«, sage ich. Robin nickt.

»Noch ist es nicht beschlossen – erzähl also Vater nichts –, aber vielleicht werde ich früher geweiht.«

»Früher? Aber warum denn?«

»Was glaubst du wohl?«, gibt Geoffrey zurück, der im Geist schon wieder zur Antwort springt, während ich noch nicht mal die Frage richtig verstanden habe. Ist doch klar, warum: Weil so viele Priester gestorben sind, unten im Süden, wo die Pest schon angekommen ist. Weil die Priester in die Pesthäuser geschickt werden, wo sie die faulige Luft einatmen und die Sterbenden von ihren Sünden freisprechen. Weil Geoffrey genau dafür in eine fremde Gemeinde geschickt werden soll, wo der Pfarrer tot ist und jeder im Ort die Krankheit hat.

»Machst du das?«, fragt Robin. »Wenn sie sagen, du sollst?«

»Ich will«, sagt Geoffrey, guckt aber immer noch auf seine Stiefel. Ich glaube ihm nicht. Geoffrey ist wegen der Bücher und Wörter ins Kloster gegangen und weil er die Namen von Steinen und Sternen und von Heiligen und Knochen lernen will. Er ist nicht hingegangen, um neben Sterbenden zu sitzen. Ich würde ihm gern sagen, er soll das nicht tun, er soll nicht gehen. Aber wenn jemand stirbt, ohne dass ihm ein Priester die Beichte abgenommen und ihn von seinen Sünden freigesprochen hat, muss er in die Hölle. So viele Menschen – gute Menschen: Mönche, Nonnen, Christenleute – brennen jetzt im Höllenfeuer, weil ihr Pfarrer gestorben ist und nicht rechtzeitig ein neuer kam. Falls Geoffrey gebeten wird, als Priester seine Pflicht zu tun, kann ich ihm nicht sagen, er soll es nicht tun. Ich kenne meinen Bruder. Falls sie ihn fragen, dann macht er es.

»Außerdem«, sagt er und beantwortet die Frage, die ich ihm nicht gestellt habe, weil ich mich vor der Antwort fürchte, »ist es da auch nicht gefährlicher als in der Abtei.«

Seine Stimme klingt, als wollte er, dass wir nachfragen, wie er das meint. Ich will gar nicht wissen, was sich hinter seinen Worten verbirgt, aber Robin sagt: »Wieso? Ihr habt doch nicht die Pest dort, oder?«

Geoffrey spielt mit den Fingern an der Messingschnalle seines Stiefels. Er antwortet nicht.

»Habt ihr doch nicht, oder?«, sagt Robin. »Geoffrey! Ihr habt sie nicht!«

Geoffrey ist ganz weiß im Gesicht. »Ihr dürft es keinem verraten!«, sagt er. »Der Abt will nicht, dass im Dorf Panik ausbricht. Und wenn Vater wüsste …«

Vater ist mir egal. Der Abt eigentlich auch. Mein Herz beginnt zu rasen, und mein Kopf ist dumpf und schwer und voller Angst. Die Pest ist in der Abtei. Die Pest ist drei Meilen weg. Die Pest ist in der Krankenstube, in der mein Bruder Geoffrey arbeitet.

»Isabel?«, sagt Geoffrey, und als ich mich zu ihm umdrehe, sehe ich, wie er blinzelt, mit besorgtem und irgendwie verkniffenem Gesicht. »Isabel –«

Ich krieche zu ihm, wobei ich mir die Röcke mit Matsch verschmiere, und schlinge ihm die Arme um den Hals. Er umarmt mich, und ich atme seinen Geruch ein. Er riecht nach Weihrauch und Tinte, dazu ein bisschen nach Matsch und Stroh und der feuchten Luft über dem Fluss.

»Geh nicht zurück«, sage ich. »Bitte nicht. Komm mit nach Hause, damit du in Sicherheit bist.«

Geoffreys lange, knochige Arme halten mich fest. Ich denke an das, was die Bibel über Standhaftigkeit und Gottvertrauen und Pflicht sagt und wie egal mir das alles ist, wenn es bedeutet, dass mein Bruder zurück an einen Ort muss, wo die Pest wütet. Aber Geoffrey sagt bloß: »Isabel, sie kommt auch hierher«, und da weiß ich, dass nicht einmal der kleine Schutz, den ich ihm geben kann, irgendetwas nützt.