Meinst du, ich hätte es jemand erzählen sollen?«, frage ich Robin. Es sind ein paar Tage vergangen, und wir bringen gerade das Vieh von der Weide zurück, ich unsere Kuh und die beiden Ochsen, Robin die alte Milchkuh mit dem verkrüppelten Horn. Hinter uns geht warm und diesig die Sonne unter.
»Nein …«, meint Robin, aber er klingt unsicher. »Warum kümmert dich das so?«
Warum mich das kümmert? Ich weiß nicht. Doch, ich weiß es schon. Wenn ich dafür sorge, dass die kleine Edith – die zierliche flachsblonde Edith, die so zart und zerbrechlich ist wie ein Küken – am Leben bleibt, gibt es Hoffnung für uns alle: für Ned und Maggie und Edward und die ganze bunte Schar von Leuten, die ich lieb habe. Aber indem ich mich für ihr Leben einsetze, bringe ich meine Familie womöglich noch mehr in Gefahr. Mir brummt der Kopf, wenn ich versuche, das zu entwirren. Bin ich eine gute Christin, wenn ich Radulf dabei helfe, die Heimatlosen aufzunehmen? Oder tue ich etwas Dummes, Leichtsinniges und Gefährliches?
»Kümmert es dich denn nicht?«, frage ich stattdessen. »Ein kleines Mädchen, so alt wie Ned?«
»Sicher …«, sagt Robin. »Aber viele kleine Mädchen in Neds Alter sind schon gestorben.«
»Na ja …«, sage ich. »Wenn sie den Pesthauch mitgebracht hat, ist er schon da.«
In den letzten Tagen ist die Zahl der Flüchtlinge geschrumpft, es kommen kaum noch welche die Straße entlang. Überhaupt zieht fast niemand mehr nach Norden. Keine Fuhrleute, keine Krämer, keine Ablasshändler und keine Pilger, auch sonst kommt niemand mehr auf dem Weg nach Duresme oder York durch unser Dorf. Unheimlich ist das.
An der Schmiede beschlägt Robert Smith gerade ein Pferd. Sein Sohn hält den Pferdekopf fest, während Robert die Nägel in den Huf treibt. Ein paar Frauen stehen am Brunnen und reden, und am Straßenrand spielt eine kleine Schar Kinder mit einem Kätzchen. Tolly Hogg, der Schweinehirt, führt die Schweine zurück ins Dorf, und ein paar Hühner picken im Dreck. Alles ist wie immer, glücklich und wohlbehalten.
Zu Hause schimpft Alice mit Ned.
»Du solltest auf das Feuer aufpassen und nicht zum Würfeln auf den Anger gehen! Schau, was passiert ist!« Im Haus riecht es rauchig und angebrannt, und im Boden vom Kochtopf ist ein schwarzes Loch. »Woraus sollen wir jetzt essen?«
Maggie sitzt auf dem Boden und spielt mit Baby Edward. Sie lässt ihre molligen Finger auf seinem Gesicht tanzen, während Edward nach ihnen grapscht. Er greift gerne nach allem, was er sieht – Flammen, Mustern auf Stoff, Murmeln, Würfeln. Und was er in den Fingern hat, versucht er aufzuessen. Als wir an die Tür kommen, rennt uns Maggie entgegen und ruft: »Robin! Robin!«
Robin schnappt sie und wirbelt sie rundherum, bis sie schreit. Dann hält er sie mit dem Kopf nach unten. Sie quiekt und grapscht nach seinen Beinen, aber kaum hat er sie auf die Füße gestellt, ruft sie: »Noch mal! Noch mal!«
Alle kleinen Kinder lieben Robin.
Alice ist ordentlich in Rage.
»Steh nicht rum!«, faucht sie Ned an. »Du musst los zu Muriel und den Topf holen, den ich ihr geliehen habe. Sonst gibt’s heute Abend nichts zu essen!«
»Nein«, sage ich rasch. Ned ist ein Plappermaul. »Lass Ned. Ich geh schon.«
Das Licht lässt nach, als ich durchs Dorf zu Radulfs Haus gehe. In den Baumkronen über meinem Kopf singen die Vögel, und über den Teichen am Waldrand schwirren Schnaken.
Das Haus liegt still in der Senke. Rauch kräuselt sich über dem Strohdach, und im Gras picken die Hühner, sonst sieht alles verlassen aus.
Ich klopfe an die Tür. Es dauert unendlich lange, bis Radulf aufmacht.
»Isabel!«, sagt er. »Ach – Isabel. Das ist jetzt nicht …«
»Ich brauche nur den Kochtopf von Alice«, sage ich schnell. Edith soll keinen Ärger bekommen. »Ich will gar nicht bleiben.«
»Ach«, sagt Radulf. »Nun ja …« Zaudernd steht er auf der Türschwelle, aber da höre ich, wie drinnen im Haus ein Kind schreit. Ein hohes, gequältes Wimmern.
»Wenn …«, sagt Radulf. »Wart einfach hier.«
Radulf schlägt mir die Tür vor der Nase zu. Ich höre ihn drinnen im Haus herumklappern und fluchen, und dann ist da wieder dieses Weinen, diesmal lauter.
Die Tür schwingt von selbst auf.
Edith sitzt aufrecht in einem niedrigen Bett bei der Herdstelle. Schon von der Schwelle kann ich erkennen, wie rot ihr kleines Gesicht ist. Schon von hier rieche ich den süßen, leicht fauligen Geruch, wie von alten Äpfeln. Schon von hier sehe ich die schwarze, geschwollene Beule an ihrem Hals, so groß, dass sie das Gesicht zur Seite schiebt.
Ich weiß nicht viel, aber was das heißt, weiß ich.
Die Krankheit ist bei uns angekommen.