Dass Robin jetzt bei uns im Haus lebt, ist wirklich seltsam. Am Anfang bin ich unsicher und ein bisschen verlegen. Ich weiß nicht, wie ich mit jemandem umgehen soll, der erlebt hat, wie die eigene Mutter an der Pest stirbt. Aber dann schaue ich mir einfach ab, wie sich Alice verhält, die forsche, liebevolle, praktische Alice. Sie schimpft mit den Kleinen, wenn sie Robin plagen, besänftigt Vater, wenn der zu viel von ihm verlangt, und schickt ihn nach draußen – »Hol mir ein bisschen Holz, Robin, ja?« –, wenn sie merkt, dass ihm die Enge in unserm kleinen Haus zu viel wird.
Robin ist still und in sich gekehrt in diesen ersten Tagen. Meine Versuche, ihn zu trösten, wischt er beiseite – »doch nicht jetzt, Isabel!« – und geht lieber alleine zu den Schießständen, zum Brunnen oder in den Wald. Mag folgt ihm wie ein anhänglicher kleiner Hund überallhin und scheint verwundert über die seltsam gedämpfte Art ihres alten Freundes. Immer wieder zeigt sie ihm etwas, das ihn interessieren könnte: »Schau, Robin, hier ist der Käse, den Alice und ich gemacht haben. Guck mal, das sind unsere Hühner. Die Hacke hier hat Vater gemacht, siehst du?« Robin nimmt das hin, er hat viel mehr Geduld als Alice oder ich.
»Schick sie zu mir, wenn sie dich stört«, sagt Alice, aber Robin schüttelt den Kopf.
»Das macht mir nichts. Mag ist doch lieb.«
Vater gelingt es, Margarets Kuh an Edward Miller zu verkaufen. Dessen eigene Kuh und alle seine Schafe sind an der Pest gestorben. Die Hühner behalten wir, nur Margarets Hahn wandert in den Kochtopf. Schließlich will keiner jeden Tag einen Hahnenkampf auf dem Hof.
Tagsüber ist Robin meistens mit Vater und Ned auf den Feldern. Wenn er zurückkommt, reden wir nicht viel. Wir sitzen zusammen beim Feuer, ich webe, spinne oder flicke, und er sieht mir zu, oder er schaut ins Feuer, den Kopf auf mein Knie oder meine Schulter gelegt, und schweigt.
»War es furchtbar?«, frage ich ihn eines Abends, als er schon fast eine Woche bei uns wohnt, und ein Schaudern überläuft ihn.
»Erzähl’s mir«, sage ich, aber das tut er nicht.
Er sagt nur: »Die werden verrückt, Isabel. Nach einer Weile. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind und wer du bist. Es kümmert sie nicht mal, dass sie im eigenen Blut und der eigenen Scheiße liegen. Ist wohl auch besser so …«
Fünfhundertfünfzig Menschen leben in unserm Dorf, wenn man die Soldaten von Sir Edmund mitzählt, und noch mehr kommen durch, bleiben ein paar Tage und ziehen weiter – die fahrenden Händler und die Fuhrleute und der Mann, der die Schafe mit Brandzeichen versieht.
Als wir heute hinten in der Kirche stehen, hält Vater den Blick gesenkt, aber Alice dreht den Kopf hin und her und zählt die Fehlenden und die Toten. Dreiunddreißig sind diese Woche gestorben. Fehlen tun noch mehr. Edward Miller steht mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen gegen eine Säule gelehnt. In der letzten Woche hat er seine Mutter und seine zwei Töchter verloren. Die Ältere saß mit ihrer Spindel am Feuer. Es wusste überhaupt niemand, dass sie krank ist. Ihre Mutter ging nach draußen, um die Hühner einzufangen, und als sie zurückkam, war das Kind tot. Amabels Großmutter ist auf die gleiche Art gestorben. Dieser Tod ist der schlimmste von allen. Jeden Morgen beim Aufwachen frage ich mich: Wer ist heute Nacht gestorben? Ich berühre Robin und Mag mit dem Handrücken, um zu sehen, ob noch Wärme in ihrem Körper ist. Wenn Vater und Robin später als sonst von den Feldern zurückkommen, denke ich: Vielleicht sind sie tot umgefallen. Die ganze Zeit über – jeden Tag, jeden Moment – habe ich das Gefühl, unter einer Axt zu sitzen und darauf zu warten, dass sie mich erwischt. Bei jedem Geräusch und jedem Weinen schrecke ich zusammen. Ich habe Angst, jede Minute, jeden Tag.
Genau wie Alice sehe ich mich in der Kirche um, in Erwartung schlechter Nachrichten. Emma Baker fehlt auch. Sie ist nicht krank, aber ihren Mann hat die Pest erwischt. Seitdem ist der Dorfbackofen nicht mehr in Betrieb. Einer der Lehrjungen ist bei Ausbruch der Seuche weggelaufen, der andere hat eine kranke Mutter und wird zu Hause in Great Riding gebraucht. Ich mag mir nicht vorstellen, was passiert, wenn John Baker stirbt. Ein Dorf ohne Ofen ist doch kein Dorf. Was sollen wir ohne Brot tun?
Die beiden jüngsten Kinder des Schmieds sind in der Kirche, doch ihre Eltern fehlen. Der Vater ist tot und die Mutter zu Hause bei dem kranken großen Sohn. Als Alice die beiden sieht, dreht sie den Kopf und stupst mich an.
»Geh rüber und sag Alice Smith, dass sie nach der Kirche zu uns kommen und mit uns essen sollen. Die armen kleinen Würmer. Ihre Mutter hat genug zu tun, auch ohne dass sie noch kocht.«
Ich schiebe mich zwischen den Leuten durch. Alice Smith ist so alt wie Ned und hat glatte, strähnige schwarze Haare. Ihre kleine Schwester ist jünger als Mag.
»Alice sagt, ihr sollt nach der Kirche mit uns kommen und bei uns essen«, verkünde ich. Sie starrt mich an.
»Können wir nicht. Wir müssen heim, nach unserm Bruder schauen.«
Ich rücke Edward auf meiner Hüfte zurecht und mache ein böses Gesicht.
»Alice sagt, ihr seid arme kleine Würmer. Sie sagt, eure Mutter hat genug zu tun, sie kann nicht auch noch kochen.«
Alice Smiths kleine Schwester steckt sich die Hand in den Mund und guckt von mir zu ihrer Schwester. Alice Smiths weißes Gesicht verfärbt sich.
»Unsere Mutter kann viel besser kochen als eure Alice!«, ruft sie. Die Leute vor uns drehen sich um und legen den Finger auf den Mund. »Wir brauchen kein Essen von euch!«
Die Haare ihrer Schwester sind wirr und ungekämmt, und die Gesichter der beiden sehen schmuddelig aus, aber ich beiße mir auf die Zunge und gehe zurück zu Alice und Vater.
»Sie sagt, ihre Mutter könnte besser kochen als du«, erkläre ich Alice, und sie seufzt.
»Also wirklich, Isabel! Was hast du bloß gesagt? Was ist nur los mit dir in letzter Zeit?«
Was mit mir los ist? Ganz einfach – das Ende der Welt ist los! Der viele leere Platz in der Kirche, die frisch aufgebuddelte Erde überall auf dem Friedhof. Alice ist verrückt. Wenn das Jüngste Gericht käme und um uns herum die Toten aus ihren Gräbern steigen würden, würde Alice sicher sagen: »Isabel, kämm dir die Haare, wasch dein Gesicht und bohr dir nicht in der Nase. Was sollen Jesus und der heilige Michael sagen, wenn sie dich so sehen?«
Am Dienstagmorgen stirbt John Baker. Man munkelt, es sei jemand nach Great Riding geschickt worden, um einen andern Bäcker zu holen – aber welcher Bäcker kommt schon in ein Pestdorf? –, oder vielleicht käme John Bakers Bruder, der in Felton wohnt und angeblich noch weiß, wie man den Ofen anfeuert. Aber schon am Dienstagabend steigt Rauch vom Ofen hoch. Alice dreht den Kopf.
»Wer hat das denn hingekriegt?«
»Einer von den Lehrjungen vielleicht?«, sagt Vater.
Aber es ist anders. Als Mag und ich am Abend unser Mehl hinbringen, ist Emma Baker dabei, Holz in den Ofen zu schichten, zusammen mit dem Lehrjungen, dessen Mutter krank war.
»Was machst du da? Bist du jetzt Bäcker?«, fragt Mag mit großen runden Augen.
»Jemand muss es machen«, erklärt Emma. Dafür, dass ihr Mann gerade gestorben ist, sieht sie erstaunlich vergnügt aus. Ihr rundes Gesicht ist rot, und sie hat die Ärmel hochgekrempelt. »Steh nicht da und glotz mich an, Watt! Wenn das Feuer ausgeht, setzt es eine Tracht Prügel, dass du eine Woche lang nicht stehen kannst!«
»Wirst du Bäcker bleiben, wenn die Pest vorbei ist?«, frage ich Emma.
»Na ja, ich wüsste nicht, wer’s sonst machen soll«, sagt sie. »Watt! Hast du nicht gehört?«
»Emma mochte John nie besonders«, sagt Alice, als ich ihr davon erzähle. »Es sei der Wunsch ihres Vaters, dass die beiden heiraten – er dachte, das wäre ein schönes Leben für seine Tochter, obwohl ich so einen großen Ofen wirklich nicht auf meinem Hof haben wollte. Und wer kümmert sich ums Haus, wenn Emma den Bäcker spielt?«
»Maude ist groß genug«, sagt Vater. Alice schnieft.
»Tja!«, sagt sie. Dann guckt sie mich an. »Und komm du nicht auf dumme Gedanken, mein Fräulein. Bild dir ja nicht ein, du kannst den Hof übernehmen, wenn deinem Vater was zustößt!«
»Ich könnte es jedenfalls besser als Robin«, gebe ich zurück.