19  ERNTE

Zeit verstreicht. Die Tage werden heller und länger. Bald ist Erntezeit, und ich weiß nicht, wie wir es schaffen sollen, all die Gerste von den Feldern zu holen. Fürs Ernten braucht man viele Hände – Männer fürs Schneiden, Frauen und Kinder fürs Binden der Garben, alte Leute und Winzlinge wie Mag für die Nachlese: Sie stolpern hinter den Garbenbindern her und klauben die heruntergefallenen Ähren auf.

Im Sommer ist unsere Scheune immer voller Erntearbeiter. Sie schlafen im Heu und rösten Brot und Käse auf der alten eisernen Feuerstelle. Die Erntezeit ist hart, aber auch schön. Die Erntearbeiter bringen Flöten und Pfeifen und Trommeln mit. Sie zünden Lagerfeuer auf dem Dorfanger an und spielen und erzählen bis tief in die Nacht Geschichten. Alice hat mich bis jetzt immer früh ins Bett geschickt, wenn die Tänzer am Feuer noch beim Wirbeln und Springen waren. Dieses Jahr, hatte ich gehofft, wäre ich alt genug, um mit Robin oder Will in den endlosen Abend hinein tanzen zu dürfen.

Aber dieses Jahr ist alles anders. Wer sucht Arbeit in einem Pestdorf? Ein paar Leute sind gekommen – Bettler und arme Männer und Frauen, die schon alles verloren haben, was es zu verlieren gibt. Doch jetzt gibt es lohnendere Verdienstmöglichkeiten als das Ernten. Die Fremden im Dorf sind unsere Totengräber und Sargträger, sie pflegen die Kranken, laufen im Trauerzug mit und läuten die Totenglocken.

Ich weiß nicht genau, wie viele Leute gestorben sind, aber inzwischen müssen es über sechzig sein. Glaube ich. Vielleicht auch mehr. Die Kirchenglocken läuten jetzt jeden Tag, manchmal zwei oder drei oder vier Mal. Ich sehe Simon oft an unserm Haus vorbeirennen, mit seinem kleinen Beutel mit Öl und den Kerzen am Arm. Er hat uns versprochen, dass die Seelenmessen nachgeholt werden, wenn dieses unglückselige Sterben vorbei ist. Im Moment muss er nur zusehen, dass er alle unter die Erde bekommt.

Im Dorf stehen immer mehr Häuser leer. Zweimal habe ich Kranke halb nackt und irrsinnig durchs Dorf laufen gesehen. Manchmal fällt es erst auf, dass jemand gestorben ist, wenn die Nachbarn den Verwesungsgestank riechen. Muriel vom Bach war schon eine Woche tot, bevor sie gefunden wurde. Ihre kleine Tochter war noch bei ihr im Bett, halb verhungert und stinkend, voll Kot und voll Blut. Ihre Tante hat sie zu sich genommen, aber nicht alle Kinder finden ein neues Zuhause. Ein paar dreckige, zerlumpte Jungen aus York haben Edward Miller zwei Hühner gestohlen. Eine Familie aus dem Süden, die vor der Pest geflohen ist und nirgends mehr hinkann, hat Sarah Fisher den Lauch aus dem Gartenbeet gezogen. Diese Leute sind nicht zur Ernte da. Sie wollen nicht in einem Pestdorf bleiben, aber sie müssen essen, wie wir alle.

Vater scheint das Läuten der Totenglocken nicht zu hören und auch nicht zu merken, wie leer es in der Kirche ist. Die Sorge um seine Felder zermürbt ihn. Wenn man ihn ansieht, könnte man auf die Idee kommen, dass ihm mehr an seiner Gerste liegt als an Robins Mutter und Radulf und Muriel und der kleinen Joanie Fisher und Geoffrey in der Abtei, von dem wir immer noch nichts gehört haben.

Auf den Feldern steht viel mehr Gerste, als wir alleine ernten können. Vater hat versucht, Leute zu finden, die bereit sind, auf unserm Land zu arbeiten. Er hat Stephen Dyer viel Geld dafür geboten, damit er uns beim Ernten hilft statt seinem Vater. Stephen war in Versuchung – er hat sich auf die Lippe gebissen und verstohlen hin und her geguckt. Aber seine Schwester Matilda hat es mitbekommen und sofort mit Vater herumgezetert, es sei grausam und herzlos, die Not anderer auszunutzen.

»Du bist genauso schlimm wie die Totengräber!«, hat sie gesagt und in den Staub gespuckt.

Die neuen Totengräber lassen sich ihre Dienste immer teurer bezahlen. Seit Adam, der Küster, gestorben ist, verlangen sie für das Begräbnis eines Toten allen Ernstes ein ganzes Schwein – so viel, wie Sir John fürs Lesen der Messe haben wollte! Sogar die Bettler, die dem Totenkarren hinterherlaufen, verlangen immer mehr. Und nach dem Begräbnis stolzieren die Totengräber im Dorf herum, schlagen sich den Bauch mit Schinkenspeck voll und verschwenden ihr Geld mit Dünnbier und Weißbrot. Und ein widerliches Gerücht macht die Runde – dass sie in die Gräber steigen und den Toten die Ringe von den Fingern nehmen, ihnen die Perlen von den Hälsen rauben. Ob das wahr ist, weiß ich nicht.

»Ich versteh nicht, wieso du dir solche Sorgen machst«, sagt Alice grummelnd zu Vater. »Ist doch keiner in Gefahr zu verhungern dieses Jahr.« Da hat sie recht. Dieses Jahr gibt es mehr als genug, selbst wenn wir die Hälfte der Gerste auf den Feldern verkommen lassen.

»Warum deine Kraft verschwenden und Korn einbringen, das keiner essen wird?«, sagt Alice und lässt Edward auf ihrem Schoß auf und ab hüpfen. »Das sind Dummköpfe, die Großen, was, mein Süßer?«

Alice versteht das nicht. Robin auch nicht.

»Immer mehr Arbeit«, stöhnt er und reckt seine langen Arme. »Wir werden die reichsten Toten in ganz England!«

Robin ist es nicht gewöhnt, so hart zu arbeiten, wie Vater das von ihm verlangt. Margarets Land war verpachtet, und obwohl Robin ihren Gemüsegarten versorgt, seine Frondienste für Sir Edward geleistet und beim Heumachen und der Ernte geholfen hat, kam Margarets Geld größtenteils vom Weben und Bierbrauen. Vater nimmt Robin jeden Morgen mit auf die Felder, wo sie mit Richard die Vögel verscheuchen und Unkraut jäten und die Arbeit der Helfer tun, die wir für keinen Lohn der Welt bekommen. Abends sinkt er am Feuer nieder, zieht sich die Kapuze übers Gesicht und streckt die langen Arme und Beine aus. Vater meint, die harte Arbeit tut Robin gut, und vielleicht hat er recht. Jedenfalls sieht Robin inzwischen viel gesünder aus als bei seiner Ankunft hier. Er hat Muskeln, wo vorher nur Knochen waren. Robins Beschwerden nimmt Vater nie ernst.

»Kommst du holzhacken mit mir?«, fragt er, und Robin stöhnt. »Du weißt schon, dass du noch viel härter arbeiten musst, wenn du erst deinen eigenen Hof hast.«

»Was für eine Freude!«, sagt Robin. »Wie aufregend!«

Vater bemüht sich, streng zu schauen, doch seine Mundwinkel zucken.

»Lass doch den armen Jungen«, sagt Alice, und genau das haben Vater und Robin erwartet. »Trink einen Krug Dünnbier, Junge, und hör nicht auf ihn.«

Mit Robin in einem Haus zu leben und das Bett mit ihm zu teilen – ist noch immer seltsam. Vorher hat es mich kein bisschen verlegen gemacht, mich zum Schlafen auszuziehen und morgens wieder in die Kleider zu steigen, aber auf einmal finde ich es unbehaglich, dass er mich in meinem Unterkleid sieht, und noch viel unbehaglicher, ihn in seinen dünnen Kniehosen zu sehen. Ich weiß nicht, ob es Robin genauso geht, er spricht nicht darüber. Aber mir ist aufgefallen, dass er die Decke fast bis zum Kinn zieht, wenn er sich schlafen legt, obwohl die Nächte immer kürzer und heißer und drückender werden.

Auch sonst bin ich in seiner Gegenwart auf eine Art schüchtern, wie ich es sonst nie war. Ich weiß immer genau, wo er ist, wenn wir beide im gleichen Raum sind, und ich horche auf, wenn er etwas sagt. Ich erwische mich dabei, wie ich ihn beobachte, wenn ich denke, dass er es nicht merkt. Mir fallen Dinge an ihm auf – wann er erschöpft oder wütend ist oder traurig. Er hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, mit Ned und Maggie zu leben, die dauernd an einem herumzerren wie zwei kleine Welpen. Maggie will Aufmerksamkeit: »Guck, was ich da habe, Isabel!« – »Guck, was ich kann, Robin!« Ned piesackt einen so lange, bis man ihn irgendwann anbrüllt oder ihm eine Ohrfeige verpasst, dann ist er beleidigt und verkriecht sich. Robin versteht nicht, wie das ist mit kleinen Brüdern und Schwestern. Er nimmt alles viel zu ernst und grämt sich, wenn etwas schiefläuft.

Vater und Alice mag er gern, glaube ich. Alice ganz bestimmt. Und Vater ist immerhin freundlich zu ihm, auch wenn in seinem Herzen außer der Sorge um seine Felder und die Seuche kaum etwas Platz hat. Alice macht sich ganz allgemein Sorgen, um uns alle.

Richard und ich sind die Einzigen, die Vater verstehen.

»So viel Gerste, die auf den Feldern zugrunde geht«, sagt Richard, und ich nicke.

»Was für ein Schlamassel«, sagt Richard und schüttelt den Kopf. »Was für ein heilloses Schlamassel.«