26  ISABEL ALLEIN

Am nächsten Morgen wache ich früh auf. Die Sonne steigt durch den Spalt an der Scheunentür, und die Kuh stöhnt ungeduldig im Halbdunkel, will gemolken werden. Ich bin einen Moment lang glücklich. Ich weiß, es ist entsetzlich, so was zu sagen, aber es stimmt. Ich rolle mich auf die Seite und sehe Ned auf den Decken sitzen, die roten Haare voll Stroh. Sonst ist er nie so früh wach.

»Was?«, frage ich ihn, selbst noch benommen vom Schlaf.

»Heute müssen wir nicht arbeiten, oder?«, fragt Ned. »Wenn wir nicht wollen.«

»Natürlich müssen wir.« Ich hasse das Nichtstun. »Die Kuh muss gemolken werden, oder? Und die Hühner brauchen ihr Futter. Und –«

»Wir sollen aber nicht arbeiten«, sagt Ned mit seiner hohen, kleinen Stimme. »Ohne Vater will ich nicht zur Ernte!«

»Wer sagt denn, dass wir ernten gehen?«, fragt Robin und richtet sich auf. Dabei fallen ihm die dicken Haare wie ein zusammenstürzender Heuhaufen über die Ohren. »Isabel? Hör nicht auf Isabel – ich bin hier der Vater.«

»Und was machen wir dann?«, sage ich. Schon wahr, auch mir fehlt jede Kraft für die Ernte, wo Alice krank ist und Edward … Ich bin ganz durcheinander und weiß nicht ein noch aus. Aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, den ganzen Tag hier herumzusitzen und nichts zu tun.

»Lass uns angeln gehen«, sagt Robin. »Wir fangen Walt und Alice einen Fisch zum Abendbrot.«

 

Angeln ist eine gute Idee, wie sich zeigt. Die beste Stelle liegt flussaufwärts von Ingleforn, und natürlich ist außer uns keiner da – alle sind tot oder auf den Feldern. Maggie und Ned spritzen erst wild im seichten Wasser herum, dann werden sie ruhiger und versuchen, einen Damm quer über den Fluss zu bauen – was nicht klappt, der Fluss ist viel zu breit. Für einen Damm braucht man eher einen kleinen Bach wie den bei der Abtei.

Robin ist ein guter Angler. Er hat Geduld, und es macht ihm nichts, stundenlang im Wasser zu stehen. Ich schaue ihm zu. In seinem aufgeweckten Gesicht tanzt das Licht, das in bewegten Flecken durch die Blätter dringt. Sollten wir Geoffrey nicht sagen, dass Alice krank ist? Bestimmt wüsste er es gerne. Oder denke ich das nur, weil ich feige bin und gerne hätte, dass er bei uns ist?

Als wir nach Hause kommen, ist die Haustür immer noch zu, aber durchs Strohdach steigt Rauch auf, also muss Vater da sein. Ich lasse Ned und Robin die Fische ausnehmen und krame in einem Berg von Sachen nach Mehl. Maggie hockt im Stroh, fingert an ihrem Rocksaum herum und schaut mir zu.

»Können wir nicht zu Alice?«

»Alice ist krank«, wiederhole ich zum hundertsten Mal.

»Ich will zu Alice!«

»Kannst du aber nicht!«, sage ich. Ich sollte einfühlsamer sein, schließlich bin ich nicht erst seit gestern die große Schwester. Maggie fängt an zu weinen. Nicht ihr übliches Geschluchze, sondern unterdrückte, leise schniefende, beinahe tonlose Tränen.

»Ich will Alice«, jammert sie. Ich setze sie auf mein Knie und lege die Arme um sie. Der Saum ihres Kleids ist vom Spielen im Fluss voll Schlamm und ihre langen strohblonden Haare wirken zottelig. Ich bin jetzt ganz die gute Schwester, ich halte sie und flüstere: »Schh, Mag. Alles in Ordnung, ich bin ja bei dir«, aber sie rammt mir den Ellbogen in den Magen und schreit: »Ich will nicht dich! Ich will Alice!«

»Alles gut«, sagt Robin und kommt zu meiner Rettung. »Alles gut, Mag. Lass Isabel, sie muss zum Bäcker, Brot für uns backen. Wollen wir zwei das Hexenspiel machen? Na?« Mag guckt ihn böse an, aber er packt sie unter den Achseln und trägt sie zum Bett. Und ich finde endlich das Mehl und bringe es zu Emma Baker.

Was soll ich tun, wenn Vater und Alice sterben? Wie kann ich alleine für die Kinder sorgen?

Die Häuser im Dorf liegen still da. Beim Schandstock ist niemand. An den Schießständen feuert ein Mann Pfeile ab – Will Thatcher! Aber er sieht mich nicht, und ich rufe nicht. Auf dem Anger spielen ein paar Kinder. Als ich vorbeigehe, hören sie auf und starren mich an. Ob ich Mag wohl ab und zu bei ihnen lassen könnte? Oder hätten ihre Eltern zu viel Angst?

Emma Baker arbeitet am Ofen, zusammen mit ihrem letzten Lehrling, einem rotgesichtigen Jungen namens Philip. Mit aufgerollten Ärmeln und schweißnassem Gesicht steht er am Blasebalg und pumpt. Sie schaut auf, als ich ankomme, und sagt: »Isabel! Wie geht’s Alice?«

»Sie ist krank«, sage ich und mache mich darauf gefasst, weggeschickt zu werden. Ich könnte ihr das nicht einmal verübeln – sie muss an ihre drei eigenen Kinder denken.

Aber sie saugt Luft durch die Zähne und sagt: »Das ist schlimm, Isabel. Sag deinem Vater, es tut mir leid.« Dann nimmt sie das Mehl. »Komm mit«, sagt sie und nickt dem rotgesichtigen Philip zu, der sich keuchend den Schweiß von der Stirn wischt. Ich folge ihr ins Haus, wo sie einen Teller vom Tisch nimmt und mir drei Forellen gibt. Sie sind noch warm vom Räuchern.

»Für euch«, sagt sie.

Auf einmal würde ich am liebsten weinen. Ich komme zurecht, wenn Leute gemein zu mir sind, aber Freundlichkeit zermürbt mich. Ich blinzle sie an und nuschle irgendwas, sie klopft mir auf die Schulter. Dann brüllt sie ihre Tochter Maude an, weil der Kessel übergekocht ist.

 

Ich sehe Vater nicht, lasse Brot und Fisch aber auf der Türschwelle stehen und rufe: »Vater! Da ist Essen!«

Dann scheuche ich die andern nach hinten in den Hof. Wir setzen uns alle nebeneinander auf den Rand vom Wassertrog und essen unser Brot und die Fische. Als ich wieder nach vorne zum Hauseingang gehe, ist das Essen verschwunden.

 

Am zweiten Tag bin ich gerade beim Melken der Kuh, als Gilbert Reeve an unser Tor stolziert kommt. Der dicke Bauch hängt ihm aus dem Kittel. Er will wissen, wieso wir nicht schon längst beim Acker am Hügel sind, was denn gestern mit uns los war und ob mir nicht klar ist, dass sie unsern Ochsen für den Heuwagen brauchen? Ich erkläre ihm, dass Alice krank ist und Vater sich um sie kümmert, und er sagt, das sei alles gut und recht, aber wir seien schließlich gesund, oder? Und wie soll Robert Thatchers Gespann mit nur drei Ochsen den Wagen ziehen?

Ich merke, dass wir in diesem Streit nur den Kürzeren ziehen können, also holen Robin und ich die Kleinen, und wir verbringen den Tag auf dem Feld, Robin und ich als Garbenbinder und Ned und Mags als Ährenleser. Die Leute halten Abstand, sind aber höflich. Auch Richard ist da und nickt uns zu, doch Vater muss ihm gesagt haben, er soll nicht in unsere Nähe kommen, denn er spricht nicht mit mir. Auch ein paar Frauen weichen uns aus, was Maggie nicht begreift. Mir ist es egal. Wenn die nicht mit mir reden wollen, will ich auch nicht mit ihnen reden. Was für ein schäbiges Verhalten, nachdem Alice zu vielen im Dorf so gut gewesen ist! Sie hat Robin aufgenommen und mir erlaubt, Margaret zu besuchen, und Robert Smiths Töchter hat sie zum Essen eingeladen. Agnes mit der Hasenscharte schnieft bloß und dreht sich weg, als wir mit Gilbert aufs Feld kommen, aber die Witwe von Robert Smith, Beatrice, setzt sich beim Essen zu uns und fragt nach Alice, und dann gibt sie Maggie ein Stück Brot mit Rosinen und Honig.

»Alice ist ein guter Mensch«, sagt sie. »Sag deinem Vater, wenn ihr was braucht, sind wir da.«

Soll ich zu den Mönchen gehen und um Hilfe bitten? Soll ich Geoffrey Bescheid sagen?

Robin findet es furchtbar, hier auf dem Feld zu sein, das sehe ich. Sein Körper ist steif wie ein Brett und sein Kiefer verkrampft. In den letzten Wochen hat er immer mit einem Mann namens Hugh zusammengearbeitet – Robin bindet das Getreide, das Hugh schneidet. Aber heute arbeitet Hugh mit Alison Spinner und weicht unauffällig aus, als Robin Anstalten macht, zu ihm zu gehen. Das ist bloß eine Kleinigkeit, doch Robin läuft gleich rot an und bindet die Garben stattdessen für Beatrice.

Beim Essen berühre ich ihn am Arm.

»Robin …«

»Wieso sind wir überhaupt hier?«, sagt er. »Die wollen uns doch nicht. Und ich will auch nicht hier sein. Wie würdest du dich fühlen, wenn Alison krank würde – oder Beatrice – oder eine von den Kleinen …« Er macht eine Kopfbewegung zu Maggie und Ned und den andern Kindern, die sich gegenseitig durch die Stoppeln jagen. »Wenn sie sterben würden?« Seine Stimme ist so hoch wie die von Ned. »Und du wärst schuld? Wie würdest du dich fühlen?«

Wieder berühre ich seinen Arm. Ist Edward wegen Robin krank geworden? Hat Robin den Pesthauch in unser Haus gebracht? Ich dachte immer, der Pesthauch würde stinken, aber Robin riecht gut. Kann er trotzdem schuld sein?