Sonntag, früh am Morgen, Anfang Juni. Noch ist es dunkel, das aschgraue Licht kurz vor Sonnenaufgang. Unten weint mein Bruder Edward, unser Baby. Neben mir drückt Ned sein Gesicht ins Kopfpolster und stöhnt, aber ich liege da und lausche. Alice klettert aus dem Bett, ich höre es knarren. Einen Augenblick später läuft sie über den Lehmboden. Ich drücke mich auf die Ellbogen, tue den Vorhang beiseite und spähe nach unten. Alice hat nur ein wollenes Unterkleid an und die Schlafhaube auf. Ihre strohblonden Haare sind ganz zerzaust, wie immer am Morgen. Sie lässt sich auf einen Schemel sinken und öffnet das Unterkleid. Ich sehe ihre schweren, fleckigen Brüste. Edward schreit nicht mehr, sondern fängt an zu saugen. Alice merkt, dass ich ihr zuschaue, und hebt den Blick. Sie lächelt.
»Bist du wach?«, fragt sie. »Zieh dich an und weck die andern, ja? Jemand muss Wasser holen.«
Ich habe eine große Familie. Vier Brüder, zwei von ihnen älter, zwei jünger als ich, und eine kleine Schwester. Meine großen Brüder wohnen nicht mehr bei uns. Richard hat für sich und seine Frau Joan eine Kate gebaut, am andern Ende vom Dorf. Nach Richard kommt Geoffrey, mein Lieblingsbruder. Mit elf ist er in die Abtei von St. Mary gezogen. Er will Priester werden.
Danach komme ich, dann Ned, neun Jahre alt und mit roten Haaren, und dann Margaret, die Kleine in der Familie, trotz Baby Edward. Die beiden liegen zusammengerollt neben mir auf der Matratze. Ich schüttele Ned.
»Nedkin, Zeit zum Aufwachen.«
Ned seufzt und rollt sich noch fester zu einem kleinen, warmen Ball aus Ellbogen und Knie.
Margaret schläft noch, mit einer strohblonden Haarsträhne im Gesicht. Wachwerden fällt ihr leicht, sie klappt ihre blauen Augen auf und strahlt mich an.
»Ist jetzt Morgen?«
»Ja. Komm, zieh die Kleider an.«
Vater hat den Zwischenboden für uns eingezogen, eine Holzbühne unter dem Dreieck des Hausdachs. Der Boden hat genau die richtige Größe für unsere Matratze aus Sackleinen und Heu. Im Winkel zwischen Dachschräge und Boden sind Getreidesäcke, Talglichter und aufgerollte Seile verstaut. Keine Ecke bleibt ungenutzt.
»Ned!« Ich schüttle meinen Bruder noch mal. »Mach schon!«
Ich ziehe mir den Kittel über und klettere barfuß die Leiter hinunter. Maggie kommt mit ihrem Kleiderbündel hinterher. Ich helfe ihr, die Schuhe zuzumachen, und zerre den Kamm durch ihre Haare. Sie jammert.
»Das tut weh!«
»Schon gut.«
Alice nimmt mir den Kamm aus der Hand und macht sich geduldig an Maggies wildem Haarschopf zu schaffen. Ich hocke mich auf die unterste Stufe der Leiter und streife im Dunkeln meine Hose über. Alice hat noch kein Feuer gemacht, und die Läden vor den schmalen Fenstern sind geschlossen. Ich zittere in der Kälte.
Die Herdstelle ist in der Mitte. Alice’ Krüge und Töpfe und Becher stehen auf Borden hoch über dem Tisch, damit die Tiere nicht drankommen. Alles, was wir sonst jeden Tag brauchen, ist an den Wänden aufgereiht – Eimer und Sicheln und Säcke mit Gerste, außerdem ein halb volles Fass Dünnbier und Alice’ Webstuhl mit einem angefangenen Tuchballen. Der Verschlag unter unserm Zwischenboden ist mit einer Decke zugehängt, die Vater an den Querbalken genagelt hat. Dahinter ist das Bett von Vater, Alice und Edward.
Hinter der Flechtwand am andern Ende wacht langsam das Vieh auf. Unsere Kuh Beatrix schnaubt mich an. Wir haben zwei Ochsen für den Pflug, eine Kuh, ein Schwein, acht Hühner und einen jungen roten Hahn. Vater sagt immer, er will einen Kuhstall bauen, tut es aber nie. Mir macht das nichts. Ich finde es gemütlich, dass wir alle zusammen schlafen, ich mag das eigenartige Schnauben und Atmen der Tiere in der Nacht und ihre Wärme im Winter. Ihr kräftiger, erdiger Geruch passt gut zu den andern Gerüchen im Haus, zu Holzrauch und Stroh und zu Thymian und Rosmarin.
Ich heiße Isabel. Ich bin vierzehn Jahre alt und kann mir nicht vorstellen, jemals ein anderes Leben zu führen als das hier.
Wie furchtbar falsch ich damit liege.
»Fertig«, sagt Alice, und Mag auf ihren Knien lehnt sich zurück. »Du siehst aus wie ein Mädchen, das Wasser holen will. Ned? Schläfst du immer noch? Am Ende steht die Sonne früher auf als du, dabei wissen wir alle, was die für ein Langschläfer ist! Komm schon.«
Aber die Sonne ist schneller als Ned und taucht die zerzausten Wolkenfetzen in ein blasses Frühmorgenrosa. Der Sommer kommt. Das spüre ich, als ich auf dem Weg zum Brunnen den leeren Eimer hin und her schlenkere. Bald kommen Sonnenschein und Erntezeit, bald gehen wir im Fluss bei der Kirche schwimmen. An einem Morgen wie heute scheint die Krankheit weit weg zu sein.
Unser Haus steht am Rand des Dorfangers im Schatten von zwei großen Hainbuchen, etwas abseits von den andern Gebäuden im Dorf. Bis zum Brunnen ist es nicht weit. Ich laufe übers Gras, vorbei an den Dorfhäusern. Bei der Wassermühle, um den Anger herum und beim Fluss stehen die Häuser dicht an dicht, aber je weiter man sich von der Kirche entfernt, desto mehr Platz gibt es zwischen ihnen. Die Kirche liegt in der Mitte von Ingleforn. Hier sind auch die Schmiede und das Backhaus und die Dorfeiche, wo der Verwalter von Sir Edward dreimal im Jahr Gericht hält. Auf der andern Seite vom Friedhof liegen die Schießstände, an denen alle gesunden Männer das Bogenschießen üben müssen. Wobei Sir Edward es nicht weiter schlimm findet, wenn sie es manchmal vergessen, vor allem in der Erntezeit oder wenn Heu gemacht wird.
Die Straße aus York läuft, so weit wie ich ihr gefolgt bin, immer am Fluss entlang. Über die Brücke bei der Wassermühle kommt sie ins Dorf und führt an der Kirche und dann vor unserm Tor vorbei. Fast jeden Tag sind Fuhrleute unterwegs, und im Frühling ziehen Pilger zum Grab des heiligen William von York, außerdem gibt es Wanderprediger, Kaufleute, Aussätzige, Verrückte und heilige Narren.
Die beiden großen Dorffelder – das bei den drei Eichen und das am Hügel – liegen vor unserer Tür, das eine rechts, das andere links. Vater bestellt fast eine ganze Landhufe, aufgeteilt zwischen beiden Feldern. Auf der Rückseite vom Haus liegen ein Wäldchen und dahinter das Herrenhaus von Sir Edward. Zu den Weihnachtsfeierlichkeiten gehen wir hin, sonst halten wir uns lieber fern. Die Reichen sollst du nicht stören, dann stören sie dich auch nicht. Sir Edward hat in Devon noch ein Anwesen, das größer ist, und dazu ein geräumiges Haus in London, dort lebt er die meiste Zeit des Jahres. Gott schütze ihn.
Hinter dem Herrenhaus ist das nächste Dorf, Great Riding, und hinter den entlegensten Feldern von Great Riding liegt die Abtei, in der mein Bruder Geoffrey lebt. Hinter der Abtei kommt Riding Edge und dann immer weiter Ackerland – eine flache, fruchtbare Landschaft, ideal zum Pflügen. Sie breitet sich bis nach York hin aus, das zwei Tagesmärsche von hier entfernt liegt. In York war ich noch nie. Alice sagt, es ist den weiten Weg nicht wert.
»Hier sein ist besser, Isabel. Hier sein ist besser!«
Am Brunnen sind schon viele Frauen und Kinder. Sie nicken mir zu, alle noch schläfrig und zerzaust. Die pummelige Amabel Dyer mit den Kupferhaaren lächelt mich an. Sie ist ungefähr so alt wie ich, und wir verstehen uns gut.
Die Frauen stehen zusammengedrängt und reden.
»Jetzt ist sie schon in York!«
»York!«
»Fünfzig sind tot, hab ich gehört.«
»Hundert, heißt es.«
»Mein Mann sagt, die Straße aus York ist voll von Leuten, die Richtung Norden wollen. Auf Pferden und Ochsenkarren, und Reiche in ihren vornehmen Sänften, die sich von Dienern tragen lassen, statt zu laufen.«
Amabel Dyer und ich sehen uns an.
»Stimmt das mit York?«, flüstert sie. »Weiß Geoffrey was?«
Mein Bauch wird hart.
»Nie im Leben«, verkünde ich. »Das ist doch bloß Gerede.«
Aber von der Freude dieses schönen Morgens ist nichts mehr übrig.
York ist nicht mal einen Tagesritt entfernt.
York ist so gut wie hier.