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„Sagen Sie mir bitte nicht, dass Sie das ganze Zeug aus New York mitgebracht haben.“
Savannah ignorierte den missgelaunten Mann, der auf der Couch saß und einige Papiere durchging, während sie eine ganze Reisetasche mit Weihnachtsdekorationen ins Haus schleppte und sich eigentlich daranmachen wollte, die Hütte festlich zu schmücken. Morgen war Weihnachten, und Savannah würde ihr allerliebstes Fest des Jahres nicht ohne die entsprechende Dekoration verbringen.
Sie hatte Baumschmuck, Mistelzweige, Weihnachtsstiefel zum Aufhängen, Lichterketten, einen Weihnachtskranz, Kerzen und natürlich eine Girlande aus künstlicher Tanne für den Kamin dabei. Ihr fehlte zwar noch ein Baum, den sie gleich neben dem Kamin aufstellen wollte, aber Savannah war zuversichtlich, dass sie hier irgendwo im Wald ein kleineres Exemplar finden und fällen würde. Sie befanden sich schließlich nicht umsonst mitten im Wald. Wenn sie hier keinen Tannenbaum finden würde, wo sonst?
„Natürlich habe ich die Dekoration aus New York mitgebracht. Wir haben schließlich Weihnachten“, erwiderte sie freundlich, auch wenn sie Griffin nicht ansah, sondern ihre liebsten Besitztümer sorgsam auspackte und eine CD mit Weihnachtsliedern in die Musikanlage einlegte. Gleich darauf erklang festlicher Gesang, der sie lächeln ließ. Genau darauf hatte sie sich das ganze Jahr schon gefreut. Sie konnte es kaum erwarten, die untere Etage gemütlich herzurichten und Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen.
„Und deshalb haben Sie das gesamte Sortiment von Macy’s mitgeschleppt?“
Vorsichtig entwirrte sie eine Lichterkette, nachdem sie eine Weihnachtskugel aus der Luftpolsterfolie gepackt hatte. „Erstens habe ich gar nicht so viel Dekoration dabei und erst recht nicht das ganze Sortiment von Macy’s, schließlich habe ich nur einen kleinen Teil meiner Weihnachtsdekoration mitgebracht, und zweitens gehört ein schön geschmücktes Wohnzimmer zu Weihnachten dazu. Finden Sie nicht?“
„Nein, finde ich nicht.“
Savannah verdrehte angesichts seiner brummigen Antwort die Augen.
Wieso wunderte es sie nicht, dass er mit Weihnachtsdekorationen nichts am Hut hatte? Die meisten Männer legten keinen Wert auf ein schönes Zuhause, aufeinander abgestimmte Textilien, hübsche Inneneinrichtungsgegenstände oder gar Dekorationen, die an die jeweilige Jahreszeit angepasst waren. Adam dagegen hatte sich gerne die Zeit bei Pinterest vertrieben, um auf neue Ideen zu kommen, wie er seine Wohnung einrichten und gestalten …
Sie unterbrach sich selbst und schüttelte innerlich den Kopf, denn Adam war – wie sie nun mit eigenen Augen gesehen hatte – nicht wie die meisten Männer. Jedenfalls nicht wie die meisten heterosexuellen Männer.
Vorsichtig warf sie Griffin einen verstohlenen Blick zu und sagte sich mit einem Anflug von Resignation, dass sie angesichts seines absoluten Desinteresses an Dekorationsfragen sicher sein konnte, dass er nicht schwul war.
Ja, Griffin machte ganz und gar nicht den Eindruck, schwul zu sein.
Und das gefiel Savannah, denn Griffin konnte trotz seiner zuweilen abweisenden Art ziemlich charmant sein, auch wenn seine Witze meistens auf ihre Kosten gingen.
Davon abgesehen sah er relativ gut aus mit dem haselnussbraunen Haar und den dichten Augenbrauen. Na ja, um ehrlich zu sein, sah er nicht nur relativ gut, sondern sehr gut aus, auch wenn Savannah ihm das niemals ins Gesicht gesagt hätte. Außerdem hatte er schöne Augen, die er momentan hinter der Brille verbarg, die ihm einen intellektuellen Touch verlieh. Offenbar trug er diese Brille immer, wenn er arbeitete – was er sehr oft tat. Gestern hatte er stundenlang gearbeitet, und heute brütete er wieder über Papieren, auch wenn er dies nicht in seinem Schlafzimmer tat, sondern im Wohnzimmer.
Seit Penny seinem Rüden gestern ein blutiges Ohr verpasst hatte und Griffin auf dem Boden gelandet war, herrschte eine friedliche Koexistenz zwischen ihnen, die nur ab und zu dadurch unterbrochen wurde, dass Griffin vorschlug, Penny einen Maulkorb zu verpassen, sie auf Tollwut untersuchen zu lassen oder sie im Wald auszusetzen. Außerdem hatte er seit gestern Abend nur rund fünfmal vorgeschlagen, dass Savannah mit ihrer gemeingefährlichen Teppichratte in einem Hotel besser aufgehoben wäre als hier.
Savannah wertete das als gutes Zeichen, dass Griffin endlich akzeptierte, dass sie Weihnachten hier verbringen würde. Zusammen mit Penny. Und zusammen mit all der wunderschönen Weihnachtsdekoration, die Savannah so sehr liebte.
„Diese ganzen Weihnachtsdekorationen sind absolute Zeitverschwendung“, grollte er plötzlich. „Erst ist man stundenlang damit beschäftigt, alles aufzuhängen, und wenige Tage später ist man stundenlang damit beschäftigt, alles wieder abzuhängen.“
Sie drehte sich nicht zu ihm um. Stattdessen hakte sie gelassen nach: „Lassen Sie mich raten: Ihre Frau ist ein absoluter Weihnachtsfan.“
„Wie kommen Sie auf meine zukünftige Exfrau?“ Wieder klang seine Stimme nach einem missgelaunten Grollen.
Savannah zuckte mit den Schultern und schmückte weiter die Girlande, die sie über den Kamin hängen wollte. „Bei Ihrer Abneigung gegen Dekorationen muss Ihre Frau in den letzten Jahren aus Ihrem Haus die Zentrale des Weihnachtsmannes gemacht haben.“
„Nein, ganz und gar nicht“, erwiderte er zu ihrer Überraschung. „Charlotte wollte nicht einmal einen Weihnachtsbaum im Haus haben.“
„Das ist ja schrecklich“, entfuhr es Savannah, die nun doch über die Schulter sah und bemerkte, dass Griffin sie betrachtete – stirnrunzelnd und abwägend.
„Sie finden es furchtbar, keinen Baum aufzustellen?“
„Natürlich ist das furchtbar!“ Allein die Vorstellung ließ sie den Kopf schütteln. „Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Traditionen. Man kommt mit der Familie zusammen, verbringt ein paar glückliche Tage miteinander und zeigt einander, was man sich gegenseitig bedeutet. Es werden Lieder gesungen, Geschenke verteilt, Eierpunsch getrunken und man versammelt sich um einen Baum.“
„Aber Sie verbringen dieses Jahr nicht mit Ihrer Familie“, erinnerte er sie.
„Trotzdem gehört zu Weihnachten ein Baum“, entgegnete sie, ohne auf seinen Kommentar bezüglich ihrer Familie einzugehen. Es war eine Sache, ein paar Tage vor Weihnachten von dem eigenen Freund wegen eines Mannes verlassen zu werden und fluchtartig sein Zuhause zu verlassen, um in einer abgelegenen Waldhütte zu feiern, aber sie würde dem fremden Mann, mit dem sie sich diese Waldhütte teilte, nicht auf die Nase binden, wie verdammt enttäuschend dieses Jahr für sie endete.
„Wenn Sie das sagen.“ Griffin seufzte auf und verriet ihr plötzlich: „Charlotte und ich waren nicht sehr lange verheiratet – nur ein knappes Jahr. Ein Paar waren wir insgesamt zwei Jahre. Die letzten beiden Weihnachten haben wir in Brasilien verbracht, weil es dort warm war und man am Strand liegen konnte. Das gefiel ihr besser, als sich zu Hause vor den Kamin zu setzen und Eierpunsch zu trinken.“
Mit so einer persönlichen Erklärung hätte Savannah nicht gerechnet. Sie legte den Baumschmuck weg und drehte sich in seine Richtung. „Und gefiel es denn auch Ihnen besser, Weihnachten am Strand zu verbringen?“
Er schaute sie einen Moment lang nachdenklich an, bevor er mit den Schultern zuckte. „Für mich hat es keinen großen Unterschied gemacht.“
„Sind Sie ein Weihnachtsmuffel?“ Ihre Mundwinkel zuckten.
Anstatt ihr eine Antwort zu geben, schaute er beinahe widerwillig zu der Musikanlage, auf der Jingle Bells gespielt wurde. „Müssen wir uns unbedingt Weihnachtslieder anhören?“
„Haben Sie auch etwas gegen Weihnachtslieder?“ Keinesfalls eingeschüchtert schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln und stellte sich auf die kleine Trittleiter, die sie heute Morgen in der Vorratskammer entdeckt hatte, um die Girlande am Kamin zu befestigen. Sie drehte ihm den Rücken zu. „Warten Sie ab, bis ich meinen Eierpunsch zubereitet habe. Wenn Sie erst einmal einen Becher davon getrunken haben, werden Sie von sich aus den ganzen Abend lang Weihnachtslieder singen. Der Punsch ist fantastisch, und fatalerweise schmeckt man kaum, dass bei seiner Zubereitung eine Menge Alkohol verwendet wird. Der Pfarrer meiner Heimatstadt kann davon ein Lied singen, schließlich war er vor ein paar Jahren so betrunken vom Punsch meiner Großtante Cynthia, dass er kopfüber in die Krippe gefallen ist, die vor der Kirche aufgebaut worden war. Das arme Jesuskind verlor dabei den Kopf und der Pfarrer seine Würde. Seither nennen ihn ein paar der älteren Damen aus dem Bibelkreis Die Saufnase – natürlich nur hinter seinem Rücken, schließlich will keine von ihnen ihren guten Platz in den ersten Reihen beim Gottesdienst verlieren. Ein paar dieser Damen haben mehrmals versucht, den Punsch meiner Großtante zu kopieren, was dazu geführt hat, dass es unter ihnen Streit gab. Das Rezept hält Großtante Cynthia strikt unter Verschluss. Nur ich habe es bekommen. Und Sie werden in den Genuss kommen, von dem Punsch zu trinken, Griffin.“
Weil er nicht antwortete, drehte sie den Kopf in seine Richtung und bemerkte, dass er sie gedankenverloren anstarrte.
Fragend zog sie die Augenbrauen in die Höhe. „Was ist?“
Er antwortete nicht, sondern erhob sich und kam auf sie zu. Für einen Augenblick hielt Savannah die Luft an.
Warum sie das tat, wusste sie nicht, aber plötzlich begann ihr Herz schneller zu schlagen, als er näher kam. Vielleicht hatte das rasante Herzklopfen etwas damit zu tun, dass ihr gerade aufgefallen war, wie gut Griffin aussah, oder mit der Tatsache, dass sie beide hier – von Penny und Max abgesehen – allein waren. Vielleicht raste ihr Herz auch einfach nur deshalb, weil er sie plötzlich anlächelte.
„Was … was tun Sie da?“
„Ich helfe Ihnen“, erwiderte er wie selbstverständlich und blieb neben der Trittleiter stehen. Sein Blick glitt erst über ihr Gesicht und heftete sich anschließend auf die Girlande, die Savannah in den Händen hielt.
Sie konnte sich kaum von seinem Anblick lösen und ließ ihre Augen über sein Gesicht wandern – von der markanten Kinnlinie und den hageren Wangen, seinen kräftigen Augenbrauen und dem Brillengestell über seiner Nase, die auf dem Nasenrücken einen kleinen Buckel aufwies. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob seine Nase früher einmal gebrochen gewesen war. Und sie bewunderte nicht zum ersten Mal seinen wunderschönen Hautton. Entweder hatte er wirklich Glück bei der Verteilung seiner Gene gehabt oder aber er benutzte regelmäßig eine Creme mit Sonnenschutzfaktor.
„Wollten Sie nicht arbeiten?“, wandte sie ein bisschen kurzatmig ein, während sie selbst hörte, wie schwach ihre Stimme klang.
Er schnalzte mit der Zunge. Gleichzeitig bildeten sich winzige Lachfältchen um seine grauen Augen. „Ich kann mich nur schwer auf meine Arbeit konzentrieren, wenn Sie über den Eierpunsch Ihrer Großtante, einen betrunkenen Pfarrer und ein geköpftes Jesuskind reden. Also kann ich mich auch nützlich machen und Ihnen helfen, den Raum zu schmücken, wenn dieser Dekokram wirklich sein muss.“
Savannah verzog den Mund. „Dekokram?“
Griffin verdrehte die Augen. „Was soll ich tun?“
Und so kam es, dass Savannah damit begann, ihm Anweisungen zu geben, ihm zeigte, wo er die Girlande befestigen musste, und mit ihm gutmütig darüber stritt, ob die von ihr gekauften Zuckerstangen an den Baum gehörten oder auch gegessen werden konnten. Trotz ihrer Proteste schälte Griffin eine der Zuckerstangen aus der Plastikverpackung und steckte sie sich grinsend in den Mund. Diese verspielte Seite an ihm war neu, und sie fand es erfrischend, ihn scherzen zu sehen.
Als sie ihn bat, die Weihnachtsstiefel über den Kamin zu hängen, und er ihre Anweisungen ausführte, ohne dagegen zu protestieren oder sich über ihren Dekokram lustig zu machen, war die Stimmung zwischen ihnen sehr friedlich und geradezu angenehm.
„Hat Ihnen normalerweise Adam immer beim weihnachtlichen Schmücken geholfen?“, wollte er mit vollem Mund wissen, während er die Stoffstiefel befestigte.
Blinzelnd betrachtete sie seinen Rücken und seinen Hinterkopf. „Adam?“
Er nickte. „Adam, Ihr Exfreund.“
Savannah runzelte die Stirn. „Ich weiß, wer Adam ist, Griffin.“
Auf ihre leicht schnippische Antwort reagierte er nicht, sondern wiederholte seine Frage. „Haben Sie zusammen mit ihm vor Weihnachten die Wohnung geschmückt oder gehört er auch zu den Männern, die mit all dem Dekokram nichts anfangen können?“
Beinahe hätte sie abfällig gelacht, denn Adam war noch versessener auf all den Dekokram gewesen als sie. Doch das verriet sie nicht, sondern antwortete so leichthin wie nur möglich: „Adam und ich waren erst seit ein paar Monaten zusammen. Es wäre unser erstes gemeinsames Weihnachten gewesen.“
„Bedauern Sie es, dass Ihre Beziehung so kurz vor Weihnachten in die Brüche gegangen ist?“
Weil er weder schadenfroh noch abfällig, sondern lediglich neugierig klang, antwortete Savannah ehrlich: „Mir ist es lieber, dass vor Weihnachten Schluss war. Wenn wir uns an Weihnachten getrennt hätten oder es über die Feiertage zum Streit gekommen wäre, hätte ich es bedauert. Aber so …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“
„Sieht er das auch so?“
„Davon gehe ich aus.“ Vermutlich saßen Adam und Ethan gerade in identischen Weihnachtspullovern auf der Couch und hörten sich das Weihnachtsalbum von Celine Dion an.
„Wollen Sie weiterhin mit ihm befreundet sein?“
Savannah runzelte die Stirn und betrachtete ihn ein weiteres Mal. Als er sich umdrehte und sie fragend ansah, schien er dies zu tun, weil er auf eine Antwort wartete und sie offenbar zu lange geschwiegen hatte.
„Woher kommt die plötzliche Neugier an meiner Beziehung zu Adam?“, wollte sie mit einem Hauch Misstrauen wissen.
„Wir haben gerade über meine zukünftige Exfrau gesprochen“, erwiderte er schlicht. „Warum sprechen wir zur Abwechslung nicht über Ihren Exfreund?“
„Es gibt nicht viel über ihn zu reden.“
Griffin schnaubte und schenkte ihr einen langen Blick, während er von der Trittleiter stieg, auf sie zukam und sich wie selbstverständlich hinabbeugte, um weitere Dekoartikel aus ihrer Tasche zu nehmen. „Sie wären die erste Frau, die ich kenne, die nicht viel über ihren Exfreund zu sagen hat.“
„Einmal ist immer das erste Mal“, erklärte sie steif und beobachtete, wie er schräg vor ihr kniete und in der Tasche herumwühlte. „Zwischen Adam und mir ist alles geklärt. Unsere Trennung ist nichts, worüber ich reden oder mich … Nein, diese Tannenzweige will ich an die Treppe hängen, Griffin, nicht an den Kamin“, wies sie ihn zurecht und beugte sich über ihn, um im nächsten Moment einen Schritt zurückzutreten, weil er sich erhob und einen Mistelzweig herausgefischt hatte.
Ganz automatisch hielt Savannah den Atem an, weil ihr durch den Kopf schoss, dass er sie küssen könnte.
Mit einem Mal war Griffin nicht der griesgrämige Grinch, der ungebeten hier aufgetaucht war, Penny einen Maulkorb verpassen und sie in ein Hotel abschieben wollte, sondern ein gut aussehender Mann, der dicht vor ihr stand, ihr netterweise beim Schmücken half und für die plötzliche Gänsehaut auf Savannahs Körper verantwortlich war. Ihr wurde bewusst, wie gut er roch, dass sie beide – von den Hunden abgesehen – allein waren und dass sie sich von ihm angezogen fühlte. Gleichzeitig wollte sie nichts verkomplizieren und war auch gar nicht der Typ für ein bedeutungsloses Abenteuer. Ein Kuss war keine gute Idee …
„Das ist kein Tannenzweig“, stellte Griffin fest und hielt den Mistelzweig bedeutungsvoll in die Höhe.
„Nein“, erwiderte sie mit trockener Kehle und einem rasenden Puls.
„Das ist ein Mistelzweig.“ Er schaute ihr direkt in die Augen.
Komischerweise brachte Savannah kein Wort über die Lippen.
Seine rechte Augenbraue wanderte in die Höhe. „Heißt es nicht, dass sich diejenigen, die unter einem Mistelzweig stehen, küssen müssen?“
Sie schluckte schwer. „Der Mistelzweig ist aus Plastik.“
„Was?“
Sie nickte schwach. „Der Mistelzweig ist unecht. Er besteht aus Plastik. Nur bei echten Mistelzweigen muss man sich küssen.“
„Davon höre ich zum ersten Mal.“ Er kräuselte die Nase. Seine Stimme jedoch nahm einen amüsierten Tonfall an. Gleichzeitig machte er einen Schritt nach vorn. Und Savannah machte rasch einen Schritt zurück und stieß prompt gegen den Ledersessel, der sich keinen Millimeter zu verrücken schien.
„Nein, es stimmt“, beeilte sie sich zu sagen und stützte sich mit beiden Händen auf der Sessellehne hinter sich ab. „Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass es Unglück bringt, wenn man sich unter einem Mistelzweig aus Plastik küsst. Deshalb …“
„Macht es Sie nervös, dass ich Sie küssen könnte, Savannah?“
Sein amüsierter Tonfall sowie das breite Lächeln, das ihn augenblicklich sympathisch und unglaublich attraktiv machte, trieben ihr die Hitze ins Gesicht. „Natürlich nicht!“
„Warum wirken Sie dann so nervös?“
Sie reckte das Kinn in die Höhe, auch wenn ihre Knie gleichzeitig weich wurden. „Ich bin nicht nervös.“
„Wirklich nicht?“ Seine Lippen formten sich zu einem beinahe wölfischen Grinsen. „Auf mich wirken Sie nervös.“
Savannah kniff die Augen zusammen. Gleichzeitig waren sie nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. „Wenn ich nervös wirke, dann nur deshalb, weil Sie ganz plötzlich total nett und zuvorkommend zu mir sind“, erwiderte sie so hastig, dass sie einzelne Silben verschluckte. Weil er sie unverwandt anstarrte und Savannah tatsächlich nervös war, begann sie zu plappern. Die Worte kamen einfach so aus ihr heraus, ohne dass sie darüber nachdenken konnte. „Das erinnert mich an diesen einen Film, in dem ein Psychopath unschuldige junge Frauen unter einem Vorwand in sein Haus lockt, sie dort zerstückelt und ihre Köpfe als Trophäen an die Wand nagelt. Mein Großcousin Butch ist leidenschaftlicher Jäger und verbringt seine gesamte Freizeit damit, Tiere auszustopfen und Köpfe an Wände zu nageln. Er hat momentan sehr viel Zeit, weil er keinen Job hat und seine Frau mit dem Getränkelieferanten durchgebrannt ist, weshalb das Innere seines Hauses ziemlich verstörend ist – von allen Wänden starren dich tote Tiere an und im Gäste-WC steht ein ausgestopfter Bieber mit schiefen Zähnen. Können Sie sich das vorstellen? Ein Bieber? Wer erschießt denn einen Bieber, stopft ihn aus und stellt ihn in sein Gäste-WC? Meine Mom weigert sich schon lange, das Haus zu betreten, was auch mit Butchs fehlender Körperhygiene zu tun hat und nicht nur mit dem Bieber im Gäste-WC …“
Räuspernd unterbrach er sie. „Das denken Sie sich doch nur aus!“
„Das tue ich nicht. Ich schwöre es.“ Sie legte sich eine Hand auf ihre Brust. „Ich habe den Bieber selbst gesehen. Er sah total niedlich aus und hatte es bestimmt nicht verdient, dass mein schlecht frisierter Großcousin ihn ausstopft und damit vor seinen Saufkollegen prahlt. Butch war schon als Kind und Teenager nicht ganz richtig im Kopf, müssen Sie wissen, aber wenigstens hat er damals nur auf Bierdosen geschossen und nicht auf unschuldige Bieber.“
Griffin starrte sie ungläubig an. „Haben Sie überhaupt einen Großcousin namens Butch? Nein“, fügte er hinzu, bevor Savannah antworten konnte. „Sagen Sie nichts! Wenn Sie noch weiter ausholen, erzählen Sie mir vermutlich, auf welchen Schiffen Ihre Vorfahren nach Amerika kamen.“
Gespielt ernst entgegnete sie: „Die Namen der Schiffe weiß ich zwar nicht mehr, aber meine Familie mütterlicherseits hat schwedische, italienische und deutsche Wurzeln. Mein Dad soll polnische, irische und schottische Vorfahren haben. Außerdem behauptet er, dass sein Urgroßvater zu einem Viertel Cherokee war, aber er erzählt diese Geschichte immer nur dann, wenn er ein paar Bier zu viel intus hat und uns beweisen will, dass er mit Pfeil und Bogen schießen kann, also bin ich mir diesbezüglich nicht sicher.“
„Und ich bin mir sicher, dass Sie mir all das nur deshalb erzählen, um mich von unserem Kuss abzulenken.“ Demonstrativ hob er den Mistelzweig in die Höhe.
Savannah hielt den Atem an. Wollte er sie wirklich küssen? Und warum hatte ihre Anekdote über Butch und den ausgestopften Bieber ihn nicht von seinem Plan abgelenkt?
Regelrecht panisch überlegte sie, ob sie sich wirklich von ihm küssen lassen sollte, als zu ihrer Rettung das schrille Klingeln eines Telefons eilte. Und es war so laut, dass es unmöglich zu ignorieren war.
Das Klingeln kam aus seiner Hosentasche.
Griffin verzog den Mund und drückte ihr den Mistelzweig in die Hand, bevor er in seine hintere Hosentasche griff und sein Handy hervorholte. Über die Unterbrechung schien er weit weniger erfreut zu sein als Savannah. „Da muss ich rangehen.“ Er musterte sie kurz. „Wie es aussieht, müssen wir die Diskussion über den Mistelzweig verschieben.“
„Die Diskussion war ohnehin beendet.“
Sein Grinsen war alles andere als harmlos. „Nein, das war sie nicht.“ Er nahm den Anruf entgegen und hielt das Handy gegen sein Ohr. „Hi, Robert. Danke für den Rückruf. Ich hoffe, ich habe Sie nicht in Ihrem Urlaub gestört.“ Griffin zwinkerte ihr zu, drehte sich dann um und stieg die Treppen zu den Schlafzimmern hoch.
Savannah fragte sich, ob sie dem Anrufer wirklich dankbar sein sollte, der sie im entscheidenden Moment gestört hatte. Ein Teil von ihr hätte nämlich gern gewusst, wie es sich angefühlt hätte, von Griffin geküsst zu werden.
„Es ist gut, dass Sie in den letzten Tagen keinen Kontakt zu Ihrer Frau gesucht haben, Griffin. Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass sie es nur darauf angelegt hat, Sie zu provozieren. Vermutlich ist sie davon ausgegangen, dass Sie sie am Telefon anschreien und ihr womöglich drohen würden. Das hätte ihr sicherlich in die Karten gespielt, aber so …“ Sein Anwalt klang zufrieden. „Wie wir schon vor einigen Wochen besprochen haben, hat sie bislang kein Interesse an Ihrem Feriendomizil gezeigt. Sie hatte zudem gar nicht die Befugnis, Ihre Immobilie zu vermieten. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich Ihre Frau mit dem Ganzen ein Eigentor geschossen hat.“
Griffin hörte seinem Anwalt zu und empfand zu seiner eigenen Überraschung keinerlei Genugtuung darüber, dass Charlotte im kommenden Scheidungsverfahren keine guten Karten haben würde, wenn der Richter erfuhr, was sie getan hatte und dass sie eigenmächtig sein Ferienhaus, das er lange vor der Hochzeit gekauft hatte und das keine gemeinsame Anschaffung gewesen war, einfach ohne sein Wissen weiter vermietet hatte.
Er wollte sich nicht länger über Charlotte ärgern und er wollte seine Zeit auch nicht damit verschwenden, sich zu überlegen, wie er ihr heimzahlen konnte, dass sie seine Weihnachtsferien derart sabotiert hatte. Seine zukünftige Exfrau konnte ihm gestohlen bleiben!
„Also wird es sich für Charlotte eher negativ auswirken, dass sie über meinen Kopf hinweg entschieden hat, das Ferienhaus über die Feiertage zu vermieten?“
„Natürlich kann man nie genau sagen, wie ein Richter entscheiden wird, aber ich denke, dass Außenstehende die Situation richtig einschätzen können. Es handelt sich hier um Ihre Immobilie. Ihre Frau hat bislang kein Interesse an dem Ferienhaus bekundet und Sie haben es bisher nur zum Eigenbedarf benutzt und nie vermietet. Dass Ihre Frau es ohne Ihr Wissen oder Ihre Zustimmung im Internet zur Vermietung angeboten hat, sieht verdammt wie die Rache einer verschmähten Frau aus. Das wird auch dem Richter nicht entgehen.“
Mit einem winzigen Anflug von Zufriedenheit, aber auch von Resignation setzte sich Griffin auf die Fensterbank seines Schlafzimmers und schaute nach draußen.
Wohin er sah, lag Schnee. Es war so friedlich mitten im Wald – ganz anders als in New York, wo es stets laut, hektisch und gestresst zuging. Hier war davon nichts zu spüren. Bisher war er immer hergekommen, um seine Ruhe zu haben und abschalten zu können. Dass er dabei einsam gewesen war, war ihm eigentlich nie in den Sinn gekommen.
Bis jetzt.
Griffin empfand es zu seinem absoluten Erstaunen als angenehm und gar nicht so schlecht, seine kostbare Freizeit mit einer Frau zu verbringen, die ungebeten sein Ferienhaus besetzt hatte und sich nun daranmachte, seine Hütte in die Zentrale des Weihnachtsmannes zu verwandeln. Die Stimmung war gelöst und ausgelassen – ganz anders als zusammen mit Charlotte. Wenn sie beide ihre Zeit gemeinsam verbracht hatten, ohne dass jemand anderes bei ihnen gewesen war, war es anstrengend und sogar verkrampft gewesen. Ihre Trips nach Brasilien waren das beste Beispiel dafür gewesen, denn am Strand hatte jeder für sich in einem Buch gelesen, beim Essen hatten sie größtenteils geschwiegen oder sich mit anderen Gästen unterhalten, und allein in ihrer Suite hatten sie Sex gehabt, um einem Gespräch zu entkommen. Sex war das beste Mittel gewesen, um der Stille zwischen ihnen zu entgehen.
Obwohl Griffin über eine enorme Vorstellungskraft verfügte, reichte sie nicht aus, um sich auszumalen, mit Charlotte zusammen Weihnachtsgirlanden aufzuhängen, dabei Jingle Bells zu hören und mit ihr über Mistelzweige aus Plastik sowie über ausgestopfte Bieber zu reden.
Die Erinnerung an Großcousin Butch sowie seine Leidenschaft für ausgestopfte Tiere zauberte Griffin perverserweise ein Lächeln auf die Lippen. Wer hätte gedacht, dass er Savannah und ihren Hang zu nicht enden wollenden Geschichten über ihre Familie derart charmant und bezaubernd finden könnte? Ihm gefiel es, mit einer Frau herumzualbern und ihr dabei zuzuhören, wie sie ohne Pause quasselte.
Und ihm gefiel es, dass sie das Haus weihnachtlich herrichtete, auch wenn er es nicht zugegeben hätte. Zum ersten Mal, seit er die Hütte besaß, kam ein heimeliges Gefühl in ihm auf, das er bislang nicht gekannt hatte.
Er war kein Weihnachtsmensch, war es nie gewesen. In den meisten Jahren hatte es ihn genervt, nicht zu wissen, wie er die Weihnachtsfeiertage verbringen sollte, und sich darüber Gedanken machen zu müssen.
Auf dem College war er allein gewesen. Während all seine Kommilitonen über die Feiertage nach Hause zu ihren Familien gefahren waren, war er auf dem Campus geblieben und hatte die Zeit genutzt, um Seminararbeiten zu schreiben, sich auf Prüfungen vorzubereiten oder ein Buch zu lesen. Es war ihm meistens unangenehm gewesen, wenn seine Kommilitonen und seine Freunde ihn danach gefragt hatten, wie er Weihnachten verbringen würde. Die meisten von ihnen hatten nicht gewusst, dass Griffins Eltern bereits gestorben waren und dass er abgesehen von ein paar Tanten, die er kaum kannte und die über das ganze Land verstreut lebten, niemanden hatte, mit dem er Weihnachten hätte verbringen können.
Mit Weihnachten verband er daher keine emotionalen Gedanken oder wundervolle Kindheitserinnerungen. Weihnachten war für ihn eigentlich nichts anderes als eine unliebsame Störung seines Alltags.
Silvester war etwas anderes. Genauso wie der Unabhängigkeitstag. Solche Feiertage verbrachte man mit seinen Freunden, veranstaltete eine Party oder fuhr in den Urlaub. Aber Weihnachten war etwas anderes. Weihnachten gehörte der Familie. Wenn man jedoch keine Familie hatte, blieb man allein. Und niemand feierte gerne allein.
Die Stimme seines Anwalts riss ihn aus seinen Gedanken. „Haben Sie sich mit Ihrer unfreiwilligen Mieterin geeinigt? Ist sie zurück nach New York gefahren oder hat sie Ihr Angebot angenommen, Weihnachten in einem Hotel zu verbringen?“
Wie sollte Griffin seinem Anwalt, einem knochentrockenen und durchsetzungsfähigen Mann, der einen knallharten Ruf besaß, erklären, wie es dazu gekommen war, dass Griffin nun mit Savannah und ihrer gemeingefährlichen Hündin zusammen Weihnachten feierte, obwohl sie einander absolut fremd waren? Er wusste schließlich selbst nicht, warum er sie nicht einfach hochkant hinausgeworfen hatte.
Sie besetzte sein Haus, schleppte tonnenweise Dekokram in sein Wohnzimmer und sie schlief in seinem Schlafzimmer, wodurch er gezwungen war, in dem viel kleineren Schlafzimmer zu übernachten, dessen Bett nicht halb so bequem wie das andere war. Zudem hörte sie Weihnachtsmusik und quatschte ihm ein Ohr ab. Und das alles gefiel ihm – von der Sache mit seinem Bett einmal abgesehen.
Eigentlich hatte er sich auf ein paar gemütliche und vor allem ruhige Tage gefreut, in denen er seiner Arbeit nachgehen und die Abgeschiedenheit und Ruhe der Waldhütte genießen konnte. Stattdessen war er die ganze Zeit mit einer absoluten Quasselstrippe zusammen, die ihn zum Lachen brachte.
Um ehrlich zu sein, fand er es schön, nicht allein zu sein.
„Wir haben uns geeinigt“, erwiderte er gelassen und verriet nicht, dass sein ungebetener Gast noch hier war und vermutlich gerade den Eierpunsch aufsetzte, von dem sie vorhin geschwärmt hatte.
„Das höre ich gerne, Griffin“, erklärte sein Anwalt geschäftsmäßig. „Was auch immer Sie der Frau gezahlt haben, damit sie von dem Mietvertrag Ihrer Frau zurücktritt, bitte protokollieren Sie alles genau. Es wird von Vorteil sein, diese Ausgaben anzuführen, wenn wir die Eigenmächtigkeit Ihrer Frau in das Gerichtsverfahren mit einfließen lassen. Es wird zeigen, welche Umstände es Ihnen gemacht hat, dass Ihr privates Ferienhaus einfach an Fremde vermietet wurde.“
Griffin hörte nur mit einem halben Ohr zu.
Zwar hatte er seinem Anwalt bereits am Morgen nach seiner Ankunft gemailt und ihn auf dem Laufenden gehalten, aber jetzt gerade hatte er keine große Lust, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Charlotte hatte ihm beinahe von Anfang an das Leben schwer gemacht, und die letzten Monate hatten ihn generell ziemlich viele Nerven gekostet. Deshalb wollte er nicht auch noch den heutigen Tag damit verschwenden, sich über sie zu ärgern.
Nicht heute.
Gerade hatte er sich zum ersten Mal seit ewigen Zeiten entspannt gefühlt und sogar Spaß gehabt. Ausgerechnet damit hatte er nicht gerechnet, als Savannah die riesige Tasche mit all der Weihnachtsdekoration ins Haus geschleppt hatte. Und obwohl er sie mit dem Mistelzweig eigentlich nur hatte aufziehen wollen, war der Gedanke, sie darunter zu küssen, ziemlich schnell ziemlich verlockend geworden.
Griffin hätte gerne gewusst, ob es wirklich zu einem Kuss gekommen wäre, wenn sein Anwalt nicht diesen unpassenden Moment gewählt hätte, um ihn anzurufen. Auch wenn sich Savannah geziert hatte, glaubte er nicht, dass sie so abgeneigt gewesen war, wie sie behauptet hatte.
Nein, sie war bestimmt nicht abgeneigt gewesen. Und um ehrlich zu sein, war er es ebenfalls nicht gewesen.
„Sie können mich jederzeit erreichen, Griffin. Auch während der Feiertage. Sollte irgendetwas vorfallen, zögern Sie nicht, mich zu informieren. Dafür bin ich schließlich da.“
Er versicherte seinem Anwalt, der eine nicht unerhebliche Summe pro Stunde kostete, dass er sich bei ihm melden würde, wenn Charlotte ihm in den nächsten Tagen weiterhin Schwierigkeiten machen würde, und beendete das Telefonat.
Als er sein Schlafzimmer verließ, um wieder zurück ins Wohnzimmer zu gehen, blieb er für einige Sekunden auf dem Treppenabsatz stehen und betrachtete das Geschehen in der Etage unter ihm.
Die gemütliche und heimelige Atmosphäre nahm ihm für einen kurzen Moment den Atem.
Ein Feuer brannte im Kamin, Weihnachtsmusik erfüllte den Raum, Max lag dösend vor der Tür, die freche Malteser-Hündin schnarchte friedlich auf dem Sofa, und Savannah stand mit dem Rücken zu ihm vor dem Kaminsims, während sie summend die Weihnachtsstiefel aufhängte. Ein bisher unbekanntes Kribbeln machte sich in ihm breit und in seinem Magen stieg ein warmes Gefühl auf.
Die häusliche Szene gefiel ihm. Genauso hatte er sich Weihnachten immer vorgestellt, als er in seinem winzigen Zimmer auf dem College am Schreibtisch gesessen und eine Seminararbeit geschrieben hatte, während all seine Kommilitonen zu ihren Familien gefahren waren, um dort Weihnachten zu feiern. Und genau so eine Szene war ihm durch den Kopf geschossen, als er Charlotte gebeten hatte, ihn zu heiraten.
Er hatte sich längst damit arrangiert, dass seine Ehe gescheitert war und dass die Vorstellung einer eigenen Familie in weite Ferne gerückt war. Er wusste, dass es nicht ungewöhnlich für Waisen war, die bereits in frühen Jahren ihre Eltern verloren hatten, sich eine intakte Familie zu wünschen. Realistisch betrachtet waren jedoch die wenigsten Familien intakt.
Vielleicht würde er irgendwann noch einmal den Schritt wagen, eine Frau zu heiraten und darüber nachzudenken, eine Familie zu gründen. So wie es momentan jedoch aussah, wollte er sich erst einmal auf andere Dinge konzentrieren. Und er würde ganz bestimmt nicht jetzt damit anfangen, die momentane Situation zu verklären, nur weil sein ungebetener Gast Weihnachtsstimmung verbreitete.
Savannah war niedlich und charmant. Sie war hübsch, umgänglich, und sie schaffte es mit ihren lustigen Anekdoten, ihn zum Schmunzeln zu bringen. Abgesehen von der Tatsache, dass ihre verzogene Hündin ein Satansbraten war, der es auf ihn und seinen Hund abgesehen hatte, kam Griffin gut mit ihr aus.
Und vielleicht hatte er tatsächlich darüber nachgedacht, sie unter dem Mistelzweig zu küssen. Mehr gab es über sie jedoch nicht zu sagen.
Apropos Mistelzweig ...
Griffin ließ seinen Blick über die im Zimmer verteilten Dekorationsgegenstände schweifen. Der Mistelzweig, den er ihr erst vor wenigen Minuten über den Kopf gehalten hatte, war nirgendwo zu sehen. Offenbar hatte Savannah ihn versteckt.
Von ganz allein musste er grinsen.
Er machte sie also wirklich nervös.
Mit einem Lächeln auf den Lippen stieg er die Stufen hinab. Eine der alten Holzstufen knarrte, als er sie betrat. Augenblicklich drehte Savannah den Kopf nach hinten und schaute ihn an. Ihre Blicke trafen sich.
Im hellen Schein des Kaminfeuers schimmerten ihre großen blauen Augen warm. Dies war ihm zuvor nie aufgefallen.
„Ist alles in Ordnung?“
Er nickte und blieb am Fuß der Treppe stehen. „Nur ein kurzes Telefonat.“ Er räusperte sich. „Nichts Wichtiges.“
Ihre Antwort bestand aus einem Lächeln. „Das ist gut.“
Interessiert legte er den Kopf schief und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wo ist der Mistelzweig?“
Ihre Miene wirkte ausdruckslos, aber ihre Wangen röteten sich. Griffin glaubte nicht, dass die Röte von der Wärme des Kamins kam. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Doch. Sie wissen genau, was ich meine“, erwiderte er leichthin. „Gerade war der Mistelzweig noch da, und wir hatten ein interessantes Gespräch darüber, ob wir uns nun küssen sollen oder nicht. Kaum bin ich verschwunden, ist der Mistelzweig ebenfalls weg.“
Nun war es Savannah, die sich räusperte. Betont freundlich fragte sie ihn: „Wären Sie so lieb und könnten Sie mir das Klebeband geben?“
„Wollen Sie von der Sache mit dem Mistelzweig ablenken?“
„Ich will nur die Weihnachtsschuhe aufhängen“, entgegnete sie liebenswürdig.
Griffin verdrehte die Augen. Weil das Klebeband auf dem Küchentresen lag, durchquerte er den Raum und griff es sich, um es ihr zu bringen. Er reichte es Savannah und blieb neben ihr stehen, während sie ein Stück des Klebebandes abriss und dabei seinem Blick auswich. Ganz offensichtlich ignorierte sie die vorherige Diskussion über den Mistelzweig.
Obwohl Griffin ihre Verlegenheit niedlich fand, wollte er nicht länger auf dem Mistelzweig oder ihrem Beinahe-Kuss herumreiten. Stattdessen wollte er von ihr wissen, während sie einen Weihnachtsschuh aus Stoff am Kaminsims befestigte: „Sie reden viel von Ihrer Familie und von Ihrem Heimatort. Vermissen Sie es, dort zu leben?“
Sie wirkte überrascht. „Warum fragen Sie?“
Griffin zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vermutlich bin ich einfach neugierig. Die Geschichten, die Sie erzählen, klingen zu abgedreht, um wahr zu sein. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob Sie diese nicht einfach erfunden haben, aber sie machen mich neugierig.“
Ihre Mundwinkel zuckten und ihre Augen funkelten vor Belustigung. „Sie können sich sicher sein, dass all die Geschichten stimmen. In meinem Heimatort wohnen ein paar verrückte Leute. So kann man es vermutlich am besten beschreiben. Und peinlicherweise gehören einige meiner Familienangehörigen zu diesem verrückten Haufen dazu. Vor einigen Jahren gab es beispielsweise einen ziemlichen Skandal, als ein Seniorenpaar mit seinem Auto von der Straße abkam und einen Verkehrsunfall hatte, weil sie sich hinter dem Steuer miteinander vergnügten. Er wurde mit offener Hose erwischt und sie mit dem Gesicht in seinem Schoß. Dummerweise war er mit einer anderen Frau verheiratet, die beim Gottesdienst damit drohte, ihn erst zu kastrieren und dann zu erschießen. Der Pfarrer war nicht besonders amüsiert. Die ganze Angelegenheit sorgte für viele Lacher.“ Savannah schnalzte mit der Zunge. „Alle Beteiligten waren über achtzig Jahre alt.“
„Da freut man sich doch aufs Alter“, warf Griffin ein. „Waren die Beteiligten etwa mit Ihnen verwandt?“
„Zum Glück nicht!“ Savannah seufzte schwer. „Meine Großtante Hazel hat im letzten Jahr für einen Skandal gesorgt, als sie beinahe die Katze des Pfarrers überfahren hätte. Das arme Tier verlor lediglich ein Bein und nicht etwa sein Leben, trotzdem war die Angelegenheit sehr unangenehm, schließlich musste die Familie anschließend in den hintersten Reihen der Kirche Platz nehmen. Für meine Großmutter war die Schande kaum zu ertragen.“ Sie verdrehte gekonnt die Augen. „Entweder drohte sie damit, sich das Leben zu nehmen oder in einen anderen Bundesstaat zu ziehen. Ich war verdammt froh, nicht mehr in Hailsboro zu leben, denn es hat mir gereicht, dem Gejammer am Telefon zu lauschen. So schön es in Hailsboro auch ist, aber meine Großmutter kann verdammt anstrengend sein.“
„Sie scheinen sehr gern dort gelebt zu haben.“ 
Sie senkte den Kopf und murmelte: „Das habe ich auch.“
„Warum sind Sie dann weggezogen?“ Griffin betrachtete ihr Profil, während sie an dem linken Weihnachtsstiefel zupfte, der aus rotem Stoff bestand.
Savannah zuckte ungelenk mit den Schultern. „Das Problem mit Kleinstädten ist, dass man dort nicht nur keine Privatsphäre hat, sondern auch dass Jobs sehr rar gesät sind. Ich habe es in verschiedenen Bereichen probiert, fand aber nie das, was mir wirklich Spaß machte. Die Möglichkeiten waren einfach zu sehr begrenzt. Deshalb ging ich nach New York.“
„Und dort wurden Sie Kosmetikerin.“
Seine Bemerkung war nicht als Frage gedacht gewesen. Und ganz sicher nicht als Beleidigung oder Geringschätzung. Griffin konnte jedoch sehen, wie Savannah ihm einen abwägenden Seitenblick schenkte.
Sie klang zurückhaltend, als sie erwiderte: „Ja, genau.“
„Sind Sie gerne Kosmetikerin?“
„Ist das eine Fangfrage?“ Misstrauisch starrte sie ihn an.
„Überhaupt nicht“, entgegnete er leichthin. „Ich bin einfach nur neugierig.“
Sie ließ sich ein paar Sekunden Zeit für eine Antwort.
Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme zurückhaltend. „Ich weiß, dass viele Menschen vermutlich nicht verstehen können, warum ich den Job gerne mache. Aber ich liebe es, Kosmetikerin zu sein. Bei meiner Arbeit geht es nicht nur darum, jemanden hübsch zu machen oder ihm die Nägel zu feilen, sondern ihm ein gutes Gefühl zu geben. Ich möchte, dass sich meine Kunden entspannen, wenn sie bei mir sind, dass sie sich wohlfühlen und abschalten. Sie sollen eine gute Zeit haben und nach der Behandlung frisch, ausgeruht und voller Energie nach Hause gehen. Der Alltag ist stressig genug. Ich möchte ihnen einen Ort geben, an den sie sich zurückziehen und an dem sie sich fallen lassen können.“
Griffin lächelte. „Ich weiß genau, was Sie meinen.“
„Ehrlich?“ Verwundert blinzelte sie.
„Bei meinem Job geht es um das gleiche Prinzip. Die Menschen reiben sich heutzutage auf – Familie, Alltag, Freunde, Job. Die meisten wissen nicht mehr, was sie zuerst und was sie zuletzt machen sollen. Außerdem hört man an jeder Ecke schlimme Nachrichten, kann den Fernseher nicht anschalten, ohne über die nächste Tragödie informiert zu werden, und hat den Kopf voll mit Problemen. Ein gutes Buch lässt sie abschalten und an etwas anderes denken. Wenn sie es beendet haben, ist ihr Kopf frei, sie sind entspannt und sie können ihren Alltag ein bisschen entspannter angehen.“
Savannah legte den Kopf schief. „Schreiben Sie etwa Bücher?“
Griffin fuhr sich über die Unterlippe und schüttelte seinen Kopf. „Nein, aber ich verlege Bücher – Unterhaltungsliteratur. Mein Verlag veröffentlicht so ziemlich alle Genres, die es schaffen, Menschen zu unterhalten. Ob es nun Krimis oder Liebesromane sind.“
„Sie verlegen Liebesromane?“ Savannah sah aus, als würde sie im nächsten Moment einen Lachanfall bekommen.
Griffin straffte die Schultern und sah sie finster an. „Was ist daran so komisch?“
Sie presste sich eine Hand auf den Mund, gleichzeitig bebten ihre Schultern vor unterdrücktem Gelächter. „Nichts.“
„Wenn nichts komisch ist, warum lachen Sie dann, Savannah?“ Er kniff die Augen zusammen. 
Keinesfalls eingeschüchtert wedelte sie mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum. „Sie wirken nun einmal nicht wie der typische Leser eines Liebesromans. Meine Großtante liebt Liebesromane. Ihr gesamtes Haus ist bevölkert mit Büchern, auf deren Covern Piraten mit nackten Oberkörpern oder Wikinger mit Fellwesten zu sehen sind. Als ich mit zwölf Jahren bei meiner Großtante übernachtet habe, weil meine Eltern auf einem Konzert waren, habe ich ein Buch über eine unschuldige Dienstmagd gelesen, die von einem Piraten entführt wurde, der eigentlich ein englischer Herzog war. Die Geschichte war voller kitschiger und sehr anschaulicher Sexszenen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Sie ebenfalls diese Bücher lesen.“
Griffin schaffte es tatsächlich, ernst zu bleiben, als er nachfragte: „Von welcher Großtante sprechen wir hier? Von der Großtante, die den Pfarrer mit ihrem Eierpunsch betrunken gemacht hat, oder von der Großtante, die die Katze des Pfarrers ein Bein gekostet hat?“
Vertraulich beugte sie sich zu ihm und senkte die Stimme. Sie roch nach Vanille, Plätzchenteig und Weihnachten. „Keine von beiden. Wir reden von Großtante Gwen, die zu dem Pfarrer ein ganz besonderes Verhältnis haben soll, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Seine Augenbrauen zuckten in die Höhe. „Ernsthaft?“
Sie nickte grinsend. „Laut der damaligen Chorleiterin haben die beiden den Altar entehrt, aber das haben Sie nicht von mir, Griffin.“
Er brach in Gelächter aus. „Gibt es noch mehr Großtanten, von denen ich wissen sollte?“
„Ha!“ Ihre Augen funkelten und ihr Gesicht glühte auf, was sie noch hübscher aussehen ließ. „Sie wissen ja nicht einmal die Hälfte.“