Oliver
„Sie stehen gerade auf einer Bühne im West End”, sagte der Journalist des Stadtmagazins Time Out . „Wie lange werden Sie dort noch auftreten, Mister Waits?”
„Noch bis Mitte Januar, und darüber freue ich mich sehr.” Oliver strich sich übers Haar und erzählte von seiner Rolle, dem Benedict in Shakespeares „Viel Lärm um Nichts” – ein wortgewandter, sarkastischer Charakter, dessen Humor er sehr mochte.
Der Journalist zeichnete währenddessen ihr Gespräch mit einem Diktiergerät auf. An diesem kalten Nachmittag in der Vorweihnachtszeit saßen sie in einem Raum des Magazins.
Oliver trank einen Schluck Mineralwasser, ehe er weitersprach. „Das faszinierende ist, finde ich, dass diese Klassiker von Shakespeare und auch anderen Autoren, immer noch so gut beim Publikum ankommen, obwohl sie schon so alt sind. Und es gibt ja auch eine Reihe an sehr modernen Verfilmungen, in denen die Handlung dann in die heutige Zeit transportiert wird. Ich denke, solche klassischen Stoffe sollten immer mit einem Bezug zur Gegenwart betrachtet werden, sonst ist es schwer, sie dem heutigen Publikum verständlich zu machen.”
„Hmm, da ist wohl was dran. Was würden Sie sagen, gefällt Ihnen besonders am Theater?”
„Oh, das ist eine gute Frage. Lassen Sie mich kurz überlegen …” Er sann darüber nach, ehe er antwortete. „Vielleicht, dass wir am Theater mit wenigen Mitteln Illusionen erschaffen können und dabei allem Schein zum Trotz die menschliche Existenz erforschen. Darum geht es ja in den meisten Geschichten – wie Menschen leben, was sie bewegt, warum sie das tun, was sie tun und so weiter. Und im Theater wird das alles verdichtet. Und natürlich liebe ich den Kontakt zum Publikum. Das gibt es ja beim Film in der Form nicht. Im Theater kann ich fast zum Greifen nah fühlen, was das Publikum empfindet – nicht nur am Ende, beim Applaus, sondern auch schon vorher. Manchmal ist da so eine gespannte Stille, als ob die Leute unwillkürlich die Luft anhalten. Und natürlich gibt es auch Gelächter bei lustigen Szenen. Das ist ein ganz direkter Austausch. Auf der Bühne merke ich meistens sehr schnell, wie etwas bei den Zuschauern ankommt.”
Sie sprachen noch eine Weile weiter über das Shakespeare-Stück und das Theater, bis der Journalist das Thema wechselte. „Eine persönliche Frage, wenn ich darf?”
Oliver lächelte über die Anspannung hinweg, die ihn erfasste. „Fragen Sie.” Er ahnte schon, worauf sein Gegenüber hinauswollte. Früher oder später musste er damit rechnen und er konnte nicht alles mit einem „Kein Kommentar” abblocken.
„Vor einiger Zeit kam durch ein Foto das Gerücht auf, Sie seien homosexuell.” Der Journalist legte einen Ausdruck des Fotos vor Oliver auf den Tisch. Darauf stand er Arm in Arm mit Ian am Eingang des Gay Clubs, den sie damals besucht hatten. Bunte Lichtreflexe tanzten über sie, aber dennoch war Olivers Gesicht deutlich zu erkennen, während Ian nur verschwommen zu sehen war. Oliver wusste nicht, wer das Foto gemacht hatte, aber es spielte letztendlich auch keine Rolle. Wenig später war es in der Zeitung gelandet und es machte keinen Sinn, es abzustreiten.
Oliver merkte, dass seine Handflächen feucht wurden. Er fühlte sich daran erinnert, als er mit seinem damaligen Freund zum ersten Mal bei seinen Eltern gewesen war, als er sich vor ihnen geoutet hatte. Wie sehr es sie verwirrt hatte, denn einige Zeit vorher war er noch mit einer Frau zusammen gewesen.
Er wandte einen Moment lang den Blick ab und sah auf seine Fußspitzen. Eigentlich wollte er nicht darüber sprechen, nicht an diesem Tag. Andererseits würde ihn die Presse vermutlich nicht in Ruhe lassen, vielleicht war es besser, es doch anzusprechen. In letzter Zeit hatte er keine Interviews gegeben und bisher war diese Frage noch nicht aufgekommen.
Paula von der Agentur hatte ihm von dem Gerücht erzählt. „Früher oder später musst du dich entscheiden. Das Foto jedenfalls ist ziemlich eindeutig”, hatte sie gesagt. „Es auf Dauer zu leugnen, könnte dich in ein schlechtes Licht rücken. Zum Glück sind allmählich die Zeiten vorbei, in denen Leute, die in der Öffentlichkeit stehen, nicht offen mit ihrer sexuellen Orientierung umgehen können. Ich meine, wenn sie so wie du nicht heterosexuell sind. In jedem Fall sind wir auf deiner Seite. Also, wie willst du damit umgehen?”
„Ich werde es weder bestätigen noch dementieren, bis mich jemand von der Presse direkt fragt”, hatte er erwidert.
Vor wenigen Monaten hatte er sich von seinem Freund Ian getrennt. Die Beziehung hatte nicht lange gehalten, nur ein halbes Jahr. Immerhin waren sie als Freunde auseinander gegangen, aber seitdem hatte er von Ian nur noch sporadisch etwas gehört. Aber das war ihm recht, denn ihre gemeinsame Zeit war nun einmal vorbei.
„Was möchten Sie dazu sagen?”, hakte der Journalist nach.
Oliver wurde bewusst, dass er wohl einen ziemlich geistesabwesenden Eindruck gemacht hatte. Er räusperte sich. „Das ist nur die halbe Wahrheit, um genau zu sein. Ich war mit Anfang zwanzig mit einer Frau zusammen. Also bin ich strenggenommen bi, aber ich war seitdem nur noch mit Männern zusammen.”
„Ich verstehe.”
Was würde das Magazin wohl daraus machen? Würden sie ihn als bisexuell oder als schwul darstellen?
Oliver sprach hastig weiter. „Dann wissen Sie sicherlich auch, dass sich die sexuelle Orientierung eines Menschen nicht ändert, nur weil er mit einer Person eines bestimmtes Geschlechtes zusammen ist. Damit meine ich, ich bin nicht schwul geworden, nur weil ich in den letzten Jahren ausschließlich mit Männern zusammen war.”
Ein verwirrter Ausdruck im Gesicht seines Gegenübers. Der Journalist kratzte sich am Kopf. „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Oliver.”
Er unterdrückte ein Seufzen. „Es ist so: Ich war in den letzten Jahren nur mit Männern zusammen, aber ich finde weiterhin auch Frauen attraktiv. Googeln Sie sonst mal nach Populäre Irrtümer über Bisexuelle .”
„Ja…”, erwiderte der Mann gedehnt. „Also ... Sie sind bisexuell, nicht homosexuell.”
„Genau.
Der Journalist kritzelte etwas auf seinen Notizblock. „Ich habe manchmal den Eindruck, das sei fast so was wie ein Trend…”
„Ich glaube eher, dass sich mehr und mehr Prominente damit an die Öffentlichkeit trauen. Jemand – ich weiß nicht wer – hat damit angefangen, und dann sind andere nachgezogen.”
„Das könnte auch sein.” Sein Gesprächspartner zuckte mit den Schultern. „Und Sie hatten bisher nicht das Bedürfnis, sich zu outen?”
Oliver geriet ins Schwitzen. „Es gab für mich keinen Anlass bisher. Weder in beruflicher, noch in privater Hinsicht. Bis dieses Foto aufgetaucht ist.”
„Und sind Sie noch mit dem Herrn verbandelt, wenn ich fragen darf?”
„Nein, ich bin wieder Single. Wir haben uns im Guten getrennt.” Diese Worte bereute er, kaum dass sie seinen Mund verlassen hatten. Niemand brauchte zu wissen, dass er Single war. Aber nun war es zu spät.
Oliver war froh, als das Interview kurz danach zu Ende war und er sich verabschieden konnte. Die bange Frage blieb: Wie würden die Leute auf sein Outing reagieren, wenn es im Magazin erschien?
Nach dem Interview fuhr er direkt zum Royal Haymarket Theatre im West End, denn es dauerte nicht mehr lange bis zur Aufführung. Wann immer er das Gebäude betrat, hatte er das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen, die den Alltag aussperrte. Einige Leute aus dem Team begrüßten ihn, manche seiner Schauspiel-Kollegen waren auch schon da. Er hörte eine von ihnen sich mit Gesangsübungen einstimmen, die aus Tonleitern bestanden. Er freute sich darauf, bald wieder in die Rolle des Benedicts zu schlüpfen und sich mit der Darstellerin der Beatrice Wortgefechte mit bissigem Humor zu liefern.