Oliver
Ihm klopfte das Herz bis zum Hals, als er wenige Tage später vor Alisons Haustür stand. Rund fünfzehn Jahre war es her, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Ob sie sich sehr verändert hatte? Er hatte Bammel vor dem Gespräch mit ihr und ihrem Lebensgefährten. Immerhin hatte er zu Hause noch ein altes Foto gefunden, das sie beide zeigte. Das gab ihm eine ungefähre Vorstellung, wie sie heute aussehen mochte.
Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass sie ihn zu sich nach Hause eingeladen hatte. Oder auch nicht? Möglicherweise hatte sie einfach vermeiden wollen, mit ihm in aller Öffentlichkeit gesehen zu werden? Er klingelte.
Die brünette Frau, die ihm öffnete, war eindeutig Alison. Er hatte sie angesichts des Fotos etwas schlanker in Erinnerung, aber das mochte täuschen. Sie trug die Haare kürzer, anders als damals.
„Hallo, Alison”, sagte er.
„Hallo, komm doch herein”, erwiderte sie mit der Andeutung eines Lächelns.
Sie stellte ihm ihren Lebensgefährten Philip vor. Dieser trug einen dunklen Vollbart, der ihm gut zu Gesicht stand.
Sie führte ihn ins Wohnzimmer. Stephen saß auf dem Sofa und tippte etwas in sein Smartphone. Er sah auf, als Oliver hereinkam .
„Und Stephen kennst du ja schon. Er hat mir von eurem Treffen erzählt.” Alisons helle Stimme klang vorwurfsvoll.
„Ja, es tut mir leid, dass wir das hinter eurem Rücken gemacht haben”, entschuldigte er sich.
„Wir haben schon mit Stephen darüber gesprochen. Keine solchen Alleingänge mehr.” Ihre Stimme und Miene duldeten keinen Widerspruch.
Oliver schluckte. „Klar.”
„Möchtest du einen Tee? Oder was kaltes zu trinken?”, fragte sie.
„Einen Tee, bitte.”
„Setz dich.” Stephen deutete auf den freien Platz auf dem Sofa neben ihm. Oliver folgte der Aufforderung.
Philip musterte ihn mit gerunzelter Stirn, mit einem Blick, der ihn von oben bis unten zu durchleuchten schien. Oliver war es unangenehm, mit diesem Fremden und seinem Sohn hier zu sitzen. Aber vielleicht ging es Philip ja ähnlich mit ihm?
„Wie läuft das Filmgeschäft?”, fragte Philip. „Du bist doch Schauspieler, oder?”
Er nickte. „Es läuft gut. Ich habe gerade eine Komödie gedreht.”
„Gibt’s die dann später im Kino?”
„Ja.”
„Und worum geht’s da?”
„Darf ich noch nicht sagen.”
„Ah, schade.” Philips Miene machte nicht den Eindruck, als würde er das sehr bedauern. Er räusperte sich. „Weißt du, Alison und ich haben kein Interesse daran, im Rampenlicht zu stehen und wir wollen auch Stephen da heraushalten.” Sein bohrender Blick wurde noch eine Spur intensiver .
Oliver sah von ihm zu Stephen. „Ja, das ist klar. Hatte ich auch nicht vor.”
Alison kam mit einem Tablett herein. „Das heißt auch, dass wir keine Interviews oder Berichte über dich lesen wollen, in denen du von Stephen erzählst”, sagte sie. „Das kannst du frühestens machen, wenn er volljährig ist. Wenn er damit einverstanden ist.”
Stephen nickte. „Von mir aus ja.”
„Bedeutet das, dass ich Stephen bis dahin nicht sehen darf?”, fragte er zögernd.
„Nein. Darüber haben wir auch schon gesprochen. Philip und ich freuen uns, wenn du Stephen besuchst. Am besten hier, oder anderswo, wenn wir dabei sind. Du könntest ja ein Freund von uns sein.”
„Ich verstehe.” Das machte die ganze Angelegenheit nicht unbedingt einfacher, aber letztendlich würde er sich nach ihren Wünschen richten müssen, in allen Belangen.
Nachdem das schon einmal geklärt war, fragte er sich, welche sonstigen Forderungen sie an ihn stellen würden. Er wollte nicht lange um den heißen Brei herumreden. Philip hatte das ja auch nicht gemacht. „Gibt es sonst noch etwas, das ihr euch von mir wünscht?”, fragte er deshalb frei heraus.
Alison schüttelte den Kopf. „Wenn du Alimente oder so etwas meinst – nein. Wir brauchen dein Geld nicht. Philip und ich arbeiten beide, wir verdienen genug.”
Das war eine Erleichterung für ihn, wie er sich eingestehen musste.
„Aber … ich weiß nicht, was für ein Leben du führst”, begann Alison. „Mal abgesehen von dem, was man in den Boulevardblättern über dich liest, meine ich. Was ich damit sagen will: Ich möchte es nicht erleben, da ss du Stephen besuchen möchtest und dann unzuverlässig bist. Und was ich auch wissen möchte – gibt es jemanden in deinem Leben? Bist du mit jemandem zusammen? Ich hab da etwas gelesen von einem Regisseur und dir…”
Sie begann den Tee einzuschenken.
„Das sind nur Gerüchte. Ich bin Single.” Er musste an die Nacht mit Esteban denken. Aber zwischen ihnen war nichts. Zumindest nichts, was er hier erwähnen müsste. „Und ich bin kein Partytier, falls das eine Rolle spielt. Die meisten Partys, die ich besuche, haben mit meiner Arbeit zu tun. Ich bin zuverlässig, darauf gebe ich euch mein Wort.”
Philip und Alison musterten ihn beide. Er hielt ihren Blicken stand. Das war hier ja fast wie bei einer Prüfung. Zuletzt hatte er sich so gefühlt bei seiner Abschlussprüfung an der Schauspielschule, als er von einer ganzen Jury beobachtet worden war.
„Na gut”, sagte Alison schließlich.
„Ich würde übrigens gern einen Vaterschaftstest machen lassen. Nicht, weil ich euch nicht vertraue, sondern einfach, um sicher zu gehen”, erklärte er.
Einen Moment lang schwiegen sie alle drei. Alison und Philip wechselten einen Blick. „Das dürfte kein Problem sein”, sagte Philip schließlich.
„Danke”, erwiderte er. Aber eine Sache wollte er nun doch noch wissen. Vielleicht war es besser, wenn er mit ihr allein darüber sprach... „Alison, kann ich dich mal kurz unter vier Augen sprechen?”
„Von mir aus. Kommst du mit in die Küche?”
Er stand auf und folgte ihr.
In der Küche angekommen, verschränkte sie die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die hölzerne Arbeitsfläche.
„Warum hast du mir nie erzählt, dass wir einen Sohn haben?”
„Mensch Oliver, wir waren beide so jung damals… Außerdem, als mir klar wurde, dass ich schwanger war, hatten uns schon getrennt. Und dann habe ich Philip kennengelernt. Da wollte ich mit dir ehrlich gesagt nichts mehr zu tun haben. Zumal Philip mir sagte, er hätte kein Problem damit, dass ich ein Kind bekomme. Und das hatte er auch nicht. Weißt du, wir hatten damals genug mit uns zu tun.”
„Aber du hättest es mir doch wenigstens sagen können.”
Sie seufzte. „Das mag schon sein, aber damals habe ich es anders gesehen. Und meine Eltern haben mich auch nicht gerade gedrängt, mit dir zu sprechen. Ich bin dann mit Philip zusammengezogen in eine kleine Wohnung in einem anderen Stadtteil, deshalb habe ich dich auch nicht mehr gesehen.”
„Du hättest mich anrufen können”, beharrte er.
„Ja. Hör mal, du hast recht, ich hätte es dir damals sagen müssen. Oder zumindest etwas später. Aber nun hat Stephen es selbst herausgefunden.”
„Ja, das ist wahr.”
Sie löste die Arme aus der verschränkten Haltung. „Es tut mir leid, ich gebe zu, es war ein Fehler. Aber ich würde mich freuen, wenn wir nun das Beste aus der Situation machen. Und wie gesagt, wir stellen keine Forderungen an dich.”
Er sah sie einen Moment lang an, dann nickte er. „Ist gut, lass uns das Beste draus machen.” Etwas anderes blieb ihm kaum übrig.
„Komm, lass uns zu ihnen zurückgehen, ja?”, bat sie .
Er folgte ihr ins Wohnzimmer.
„Ah, da seid ihr ja wieder”, sagte Philip. „Wir haben gerade überlegt etwas zu spielen. Wenn ihr Lust habt?” Er deutete auf ein Regal, in dem mehrere Brettspiele gestapelt lagen.
„Von mir aus gern”, erwiderte Oliver. Vielleicht keine schlechte Idee, um das Eis noch ein wenig mehr zu brechen... Er trank einen Schluck.
Stephen lächelte. „Darf ich aussuchen?”
„Mach mal, Großer”, sagte Philip.
Stephen entschied sich für Scrabble.
„Aber keine Phantasieworte”, sagte Alison zu ihm.
„Och, schade.” Stephen schnitt eine Grimasse.
Oliver hatte seit Jahren kein Scrabble mehr gespielt, aber die Regeln waren einfach genug, so dass er keine Probleme hatte, sich auf das Spiel einzulassen.
Die Partie sorgte für einiges an Gelächter und Diskussionen, denn bei manchen Worten waren sich alle über die Rechtschreibung uneins, so dass Stephen per Smartphone in einem Online-Wörterbuch nach der richtigen Schreibweise suchte. Am Ende gewann Alison, mit einem knappen Vorsprung vor ihrem Sohn.
„Nächstes Mal gewinn ich bestimmt!”, sagte Stephen grinsend, während sie das Spiel wegräumten.
Einige Zeit später verabschiedete sich Oliver, denn er wollte Alisons und Philips Gastfreundschaft nicht über Gebühr beanspruchen.
„Lasst uns telefonieren, ja?”, fragte er. „Wann ich euch wieder besuchen darf?”
Alison lächelte ihn offen an, zum ersten Mal an diesem Abend. „Ja, gern.”
Er wertete es als ein gutes Zeichen.