KAPITEL FÜNF

Damon fuhr ziellos durch die Gegend, als er das Mädchen sah.

Sie war allein und ging am Straßenrand entlang; ihr tizianrotes Haar flatterte im Wind und ihre Arme hingen unter der Last von Paketen schwer herab.

Damon tat sofort, was ein Gentleman tat. Er ließ den Wagen langsam ausrollen, wartete, bis das Mädchen einige schnelle Schritte gemacht hatte, um zu ihm aufzuschließen - che gambe! -, dann sprang er aus dem Wagen und beeilte sich, ihr die Beifahrertür zu öffnen.

Ihr Name war, wie sich herausstellte, Damaris.

Binnen Sekunden war der Ferrari wieder auf der Straße und fuhr so schnell, dass Damaris' tizianfarbenes Haar wie ein Banner hinter ihr her wehte. Sie war eine junge Frau, die jene Art von betörenden Komplimenten, die er den ganzen Tag über großzügig verteilt hatte, zur Gänze verdiente. Das ist gut, dachte er lakonisch, denn seine Fantasie war fast an ihre Grenzen gelangt.

Aber diesem entzückenden Geschöpf mit dem Nimbus rotgoldenen Haares und der reinen, milchfarbenen Haut zu schmeicheln, würde nicht die geringste Fantasie kosten. Er erwartete keine Schwierigkeiten von ihr, und er beabsichtigte, sie über Nacht bei sich zu behalten.

Veni, vidi, vici, dachte Damon und ließ ein verruchtes Lächeln aufblitzen. Dann räumte er in Gedanken ein: Nun, vielleicht habe ich sie noch nicht erobert, aber ich würde meinen Ferrari darauf wetten.

Sie machten an einem »landschaftlichen Aussichtspunkt« halt, und als Damaris ihre Handtasche fallen ließ und sich bückte, um sie aufzuheben, sah er ihren Nacken, an dem sich diese feinen, tizianroten Haare verblüffend zart gegen das Weiß ihrer Haut abhoben.

Er küsste sie sofort, impulsiv, und stellte fest, dass ihr Nacken so weich war wie die Haut eines Babys - und warm unter seinen Lippen. Er gewährte ihr vollkommene Handlungsfreiheit, denn er war daran interessiert zu sehen, ob sie ihm eine Ohrfeige geben würde. Aber stattdessen richtete sie sich einfach auf und holte einige Male zitternd Luft, bevor sie ihm gestattete, sie in die Arme zu nehmen und sie mit Küssen in ein bebendes, erhitztes, unsicheres Geschöpf zu verwandeln. Ihre dunkelblauen Augen blickten flehentlich und versuchten gleichzeitig zu widerstehen.

»Ich - hätte dich das nicht tun lassen sollen. Ich werde es nicht noch einmal erlauben. Ich will jetzt nach Hause.«

Damon lächelte. Sein Ferrari war sicher.

Ihre schlussendliche Kapitulation wird besonders vergnüglich sein, dachte er, während sie ihre Fahrt fortsetzten. Wenn sie sich so gut machte, wie es der Fall zu sein schien, würde er sie vielleicht für einige Tage bei sich behalten, würde sie vielleicht sogar verwandeln.

Aber jetzt machte ihm eine unerklärliche innere Unruhe zu schaffen. Es lag natürlich an Elena. Der Pension, in der sie wohnte, so nah zu sein und es nicht zu wagen, Einlass zu verlangen, um sie zu sehen, wegen der Dinge, die er vielleicht tun würde ... Oh, Hölle, der Dinge, die ich bereits hätte tun sollen, dachte er mit jähem Nachdruck. Stefano hatte recht - heute stimmte irgendetwas nicht mit ihm.

Er war so frustriert, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Was er hätte tun sollen, war ganz einfach: Er hätte das Gesicht seines kleinen Bruders in den Schmutz drücken und ihm wie einem Huhn den Hals umdrehen sollen, und dann hätte er diese schmale, wackelige Treppe hinaufgehen sollen, um sich Elena zu nehmen, ob sie willig war oder nicht. Er hatte es bisher wegen irgendeines honigsüßen Unsinns nicht getan, weil es ihm nicht gleichgültig gewesen war, ob sie schrie und immer weiter schrie, während er dieses unvergleichliche Kinn anheben und seine geschwollenen, schmerzenden Reißzähne in ihre lilienweiße Kehle bohren würde.

Es war ein Geräusch im Wagen, das nicht verstummen wollte. »... Meinst du nicht auch?«, fragte Damaris gerade.

Verärgert und zu beschäftigt mit seiner Fantasievorstellung, um darüber nachzudenken, was sein Verstand vielleicht von ihrer Ansprache wahrgenommen haben könnte, brachte er sie zum Schweigen, und sie war auf der Stelle still.

Damaris war entzückend, aber una stonata - eine Nervensäge. Jetzt saß sie mit ihrem vom Wind aufgepeitschten roten Haar da, aber mit ausdruckslosen Augen, die Pupillen zusammengezogen, vollkommen reglos.

Und das alles für nichts und wieder nichts. Damon stieß ein Zischen der Verärgerung aus. Er konnte nicht zurück in seinen Tagtraum; selbst in der Stille hinderten ihn die imaginierten Laute von Elenas Schluchzen daran.

Aber es würde kein Schluchzen mehr geben, sobald er sie zu einem Vampir gemacht hatte, meldete sich eine kleine Stimme in seinem Kopf zu Wort. Damon lehnte sich zurück, drei Finger auf dem Lenkrad. Er hatte einmal versucht, sie zu seiner Prinzessin der Dunkelheit zu machen - warum nicht noch einmal? Sie würde ihm ganz und gar gehören, und auch wenn er dann auf ihr sterbliches Blut verzichten musste ... Nun, jetzt bekam er auch nicht direkt welches davon, oder?, sagte die einschmeichelnde Stimme. Elena, bleich und erstrahlend durch die Aura der Macht, wie sie nur ein Vampir besaß, das Haar beinahe weißblond, ein schwarzes Gewand vor dem Hintergrund ihrer seidigen Haut. Das war ein Bild, das das Herz eines jeden Vampirs schneller schlagen ließ.

Jetzt, da sie ein Geist gewesen war, wollte er sie mehr denn je. Selbst als Vampir würde sie sich den größten Teil ihrer eigenen Natur bewahren, und er konnte es sich genau vorstellen: ihr Licht gegen seine Dunkelheit, ihre weiße Weichheit in seinen harten, schwarz ummantelten Armen. Er würde diesen exquisiten Mund mit Küssen zum Verstummen bringen, würde sie mit seinen Küssen erdrücken ...

Was dachte er da? Vampire küssten nicht zum Vergnügen - erst recht nicht andere Vampire. Das Blut und die Jagd waren alles. Es war sinnlos weiterzuküssen, wenn man sein Opfer bereits gefügig gemacht hatte; es konnte nirgendwo hinführen. Einzig sentimentale Idioten wie sein Bruder mühten sich mit solchen Narreteien ab. Ein Vampirpaar mochte das Blut eines sterblichen Opfers teilen; sie mochten beide gleichzeitig zubeißen, mochten beide den Geist des Opfers kontrollieren - und sich dabei in einer Gedankenverbindung vereinen. Das war die Art, wie sie ihr Vergnügen fanden.

Trotzdem erregte Damon die Vorstellung, Elena zu küssen, ihr seine Küsse aufzudrängen, zu spüren, wie ihre Verzweiflung, von ihm wegzukommen, plötzlich verebbte - mit diesem kleinen Zögern, das kurz vor einer Reaktion kam, kurz bevor sie sich ihm vollkommen ergab.

Vielleicht verliere ich den Verstand, dachte Damon fasziniert. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er noch nie zuvor den Verstand verloren, aber die Idee hatte einen gewissen Reiz. Es war Jahrhunderte her, seit er das letzte Mal diese Art von Erregung verspürt hatte.

Umso besser für dich, Damaris, ging es ihm durch den Kopf. Er hatte die Stelle erreicht, an der die Sycamore Street für ein kurzes Stück in den Alten Wald hineinführte, und die Straße war dort gewunden und gefährlich. Nichtsdestotrotz wandte er sich Damaris zu, um sie wieder zu wecken, wobei er anerkennend feststellte, dass der sanfte Kirschton ihrer Lippen echt war und kein Lippenstift. Er küsste sie sachte, dann wartete er ab, um ihre Reaktion einzuschätzen.

Freude. Er konnte sehen, wie ihr Geist ganz weich und rosig davon wurde.

Er blickte auf die Straße vor ihnen, dann versuchte er es noch einmal, und diesmal hielt er den Kuss fest. Ihre Reaktion ließ ihn frohlocken, ihrer beider Reaktion. Es war erstaunlich. Es musste etwas mit der Menge an Blut zu tun haben, die er getrunken hatte, mehr als je zuvor binnen eines einzigen Tages, oder mit der Kombination ...

Plötzlich musste er seine Aufmerksamkeit von Damaris losreißen und sich wieder auf das Fahren konzentrieren. Irgendein kleines, rostfarbenes Tier war wie von Zauberhand auf der Straße vor ihm aufgetaucht. Damon unternahm normalerweise keine Anstrengungen, um Kaninchen, Stachelschweine und dergleichen zu überfahren, aber dieses Tier hatte ihn in einem entscheidenden Moment verärgert. Er umfasste das Lenkrad mit beiden Händen, die Augen schwarz und kalt wie Gletschereis in den Tiefen einer Höhle, und führ direkt auf das rostrote Ding zu.

Das keineswegs so klein war - es würde einen gewissen Aufprall geben.

»Einen Moment«, murmelte er in Damaris' Richtung.

In letzter Sekunde wich die rötliche Kreatur aus. Damon riss das Steuer herum, um dem Tier zu folgen, dann sah er plötzlich einen Graben vor sich. Einzig die übermenschlichen Reflexe eines Vampirs - und die aufs Feinste getunte Reaktionsgeschwindigkeit eines sehr teuren Wagens - konnten verhindern, dass sie im Graben landeten. Glücklicherweise besaß Damon beides und konnte den Wagen mit quietschenden Reifen gerade noch herumreißen.

Ohne irgendwo aufzuprallen.

Damon sprang mit einer einzigen fließenden Bewegung über die Autotür und sah sich um. Aber was es auch war, es war spurlos verschwunden, geradeso geheimnisvoll, wie es aufgetaucht war.

Sconosciuto. Unheimlich.

Er wünschte, er würde nicht gegen die Sonne fahren; das grelle Nachmittagslicht beeinträchtigte seine Sehschärfe immens. Aber er hatte einen Blick auf das Ding erhascht, als es näher gekommen war, und es hatte irgendwie seltsam verformt ausgesehen. Spitz zulaufend an einem Ende und fächerförmig am anderen.

Oh, nun ja.

Er kehrte zum Wagen zurück, wo Damaris einen hysterischen Anfall hatte. Er war nicht in der Stimmung, jemanden zu verhätscheln, daher sorgte er lediglich dafür, dass sie wieder einschlief. Sie sackte im Sitz zusammen und ihre von ihm unbeachteten Tränen blieben zum Trocknen auf ihren Wangen zurück.

Frustriert stieg Damon wieder ein. Aber er wusste jetzt, was er heute tun wollte.

Er wollte eine Bar finden - entweder schäbig und verrucht oder edel und teuer -, und er wollte einen anderen Vampir finden. Da Fell's Church ein heißes Pflaster auf der Karte der Machtlinien war, sollte das in der näheren Umgebung nicht schwierig sein. Vampire und andere Kreaturen der Dunkelheit fühlten sich wie Hummeln von Geißblatt zu solchen heißen, vor Macht brodelnden Stellen hingezogen.

Und dann wollte er einen Kampf. Es würde absolut unfair sein - Damon war, soweit er wusste, der stärkste der verbliebenen Vampire, außerdem war er geradezu besoffen von dem Cocktail aus dem Blut der prächtigsten Jungfrauen von Fell's Church. Es kümmerte ihn nicht. Ihm war danach zumute, seine Frustration an irgendetwas auszulassen, und - er sandte dieses unnachahmliche, strahlende Lächeln ins Nichts - irgendein Werwolf oder Vampir oder Ghul war im Begriff, seinem gnadenlosen Meister zu begegnen. Vielleicht mehr als einer, wenn er nur genug Glück hatte, welche zu finden. Und danach - die köstliche Damaris als Dessert.

Das Leben war doch schön. Und das Nichtleben, dachte Damon, dessen Augen hinter der Sonnenbrille gefährlich glitzerten, war noch besser. Er würde nicht einfach dasitzen und schmollen, weil er Elena nicht sofort haben konnte. Er würde ausgehen und sich amüsieren und noch stärker werden - und dann, bald, würde er zu dem Haus dieses jämmerlichen Schlappschwanzes von einem jüngeren Bruder gehen und sie nehmen.

Zufällig warf er einen kurzen Blick in den Rückspiegel seines Wagens. Durch irgendeinen Trick des Lichtes oder eine atmosphärische Täuschung schien es, als könnte er seine Augen hinter der Sonnenbrille sehen - wie sie leuchtend rot brannten.