Matt nickte, aber er errötete bis zu den blonden Wurzeln seines Haares. »Tami ...
hat sich an mich gedrückt.« Es folgte eine lange Pause.
Meredith fragte nüchtern: »Matt, meinst du damit, sie hat dich umarmt? Eine groooooße Umarmung? Oder meinst du, dass sie ...« Sie brach ab, weil Matt bereits vehement den Kopf schüttelte.
»Es war keine unschuldige groooooße Umarmung. Wir standen allein in der Tür und sie hat einfach ... nun, ich konnte es nicht glauben. Sie ist erst zwölf, aber sie hat sich benommen wie eine erwachsene Frau. Ich meine ... nicht dass jemals eine erwachsene Frau das mit mir gemacht hätte.«
Verlegen, aber erleichtert, dass er es sich von der Seele geredet hatte, ließ Matt den Blick von Gesicht zu Gesicht wandern. »Also, was denkt ihr? War es nur Zufall, dass Caroline dort war? Oder hat sie ... etwas zu Tamra gesagt?«
»Kein Zufall«, antwortete Elena schlicht. »Das wäre ein zu großer Zufall: dass Caroline dich anmacht und dass sich Tamra dann auch noch so benimmt. Ich kenne
- ich kannte Tami Bryce. Sie ist ein nettes kleines Mädchen - oder jedenfalls war sie es.«
»Sie ist es immer noch«, sagte Meredith. »Ich habe euch ja erzählt, dass ich ein paar Mal mit Jim ausgegangen bin. Sie ist ein sehr nettes Mädchen und ganz und gar nicht besonders reif für ihr Alter. Ich glaube nicht, dass sie normalerweise etwas Unschickliches tun würde, es sei denn ...« Sie brach ab, schaute ins Leere und zuckte dann die Achseln, ohne ihren Satz zu beenden.
Bonnie wirkte jetzt sehr ernst. »Wir müssen dem Einhalt gebieten«, erklärte sie.
»Was ist, wenn sie das mit irgendeinem Burschen macht, der nicht so nett und schüchtern ist wie Matt? Sie könnte vergewaltigt werden!«
»Das ist ja das Problem«, sagte Matt und errötete erneut. »Ich meine, es ist ziemlich schwierig ... wenn sie irgendein anderes Mädchen gewesen wäre, mit dem ich ein Date hatte - nicht dass ich Dates mit anderen Mädchen hätte ...«, fügte er hastig und mit einem Blick in Elenas Richtung hinzu.
»Aber du solltest Dates haben«, sagte Elena energisch. »Matt, ich will keine ewige Treue von dir - nichts würde mich mehr freuen, als dich mit einem netten Mädchen ausgehen zu sehen.« Wie zufällig wanderte ihr Blick zu Bonnie hinüber, die gerade versuchte, sehr leise und konzentriert ein weiteres Stück Sellerie zu zerkauen.
»Stefano, du bist der Einzige, der uns sagen kann, was wir tun sollen«, sagte Elena und drehte sich zu ihm um.
Stefano runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Bei nur zwei Mädchen ist es ziemlich schwer, irgendwelche weitreichenden Schlüsse zu ziehen.«
»Also werden wir abwarten, was Caroline - oder Tami - als Nächstes tut?«, fragte Meredith.
»Nicht nur abwarten«, antwortete Stefano. »Wir müssen mehr darüber herausfinden. Ihr könnt weiterhin ein Auge auf Caroline und Tamra Bryce haben, und ich kann einige eigene Nachforschungen diesbezüglich anstellen.«
»Verdammt!«, entfuhr es Elena und sie schlug mit der Faust auf den Boden. »Ich kann beinahe ...« Sie brach plötzlich ab und sah ihre Freunde an. Bonnie hatte ihren Sellerie fallen lassen und keuchte auf, und Matt hatte sich an seiner Cola verschluckt und einen Hustenanfall bekommen. Selbst Stefano und Meredith starrten sie an. »Was ist?«, fragte Elena verständnislos.
Meredith erholte sich als Erste. »Erst gestern warst du noch - hm, sehr junge Engel fluchen nun mal nicht.«
»Nur weil ich zweimal gestorben bin, soll ich für den Rest meines Lebens nicht mehr ›verdammt‹ sagen dürfen?« Elena schüttelte den Kopf. »Niemals. Ich bin ich, und ich werde ich bleiben - was immer ich bin.«
»Gut«, sagte Stefano und beugte sich vor, um sie auf den Kopf zu küssen. Matt wandte den Blick ab und Elena klopfte Stefano beinahe abschätzig aufs Knie, dachte jedoch: Ich werde dich ewig lieben, und sie wusste, dass es bei ihm ankommen würde, selbst wenn sie ihrerseits seine Gedanken nicht hören konnte.
Tatsächlich stellte sie daraufhin prompt eine Reaktion bei ihm fest, denn ihn schien jetzt ein warmer Rosenton zu umgeben.
War es das, was Bonnie sah und als Aura bezeichnete? Ihr wurde bewusst, dass sie ihn den größten Teil des Tages über von einem hellen, kühlen, smaragdfarbenen Schatten umgeben gesehen hatte - falls Schatten so hell sein konnten. Und dieses Grün kehrte nun zurück, als das Rose verblasste.
Sofort schaute sie zu ihren Freunden hinüber. Bonnie umgab ein rosafarbenes Licht mit einer Nuance von blassem Pink. Meredith trug ein tiefes Violett rings um sich, und Matts Farbe war ein starkes, klares Blau.
Es erinnerte sie daran, dass sie bis gestern - erst gestern? - so viele Dinge gesehen hatte, die niemand sonst sehen konnte. Darunter etwas, das ihr entsetzliche Angst gemacht hatte.
Was war es nur gewesen? In blitzlichthaften Bildern erinnerte sie sich - Bilder von kleinen Einzelheiten, die für sich genommen schon beängstigend genug waren.
Es konnte etwas so Winziges sein wie ein Fingernagel oder etwas so Großes wie ein Arm. Borkenähnliche Beschaffenheit, zumindest am Körper. Insektenähnliche Fühler, aber viel zu viele davon, und sie bewegten sich wie Peitschen, viel schneller als bei einem normalen Insekt. Sie spürte etwas Unheimliches, doch dieses Gefühl befiel sie immer, wenn sie an Insekten dachte. Dann war es also ein Käfer. Aber ein Käfer mit einem Körper, wie kein zweites ihr bekanntes Insekt einen hatte. In dieser Hinsicht ähnelte es dann doch eher einem Blutegel oder Tintenfisch. Es hatte einen vollkommen runden Mund mit scharfen Zähnen rundherum und viel zu viele Tentakel, die aussahen wie dicke, peitschende Ranken.
Es konnte sich an eine Person heften, überlegte sie. Aber sie hatte das schreckliche Gefühl, dass es noch zu viel mehr fähig war.
Es konnte transparent werden und sich in eine Person hineinziehen, und man würde nicht mehr spüren als einen Nadelstich.
Und was würde dann geschehen?
Elena wandte sich an Bonnie. »Wenn ich dir zeige, wie etwas aussieht, meinst du, du könntest es wiedererkennen? Nicht mit den Augen, sondern mit deinen hellseherischen Sinnen?«
»Ich schätze, es hängt davon ab, was dieses ›Etwas‹ ist«, antwortete Bonnie vorsichtig.
Elena sah zu Stefano hinüber, der ihr kaum merklich zunickte.
»Dann schließ die Augen«, sagte sie.
Bonnie tat wie geheißen und Elena legte ihre Fingerspitzen an Bonnies Schläfen, während sie mit den Daumen sachte über Bonnies Wimpern strich. Der Versuch, ihre magischen Weißen Kräfte zu aktivieren - etwas, das ihr bis zum heutigen Tag so leicht gefallen war -, glich einem eher unbeholfenen Versuch, zwei Steine gegeneinanderzuschlagen, um ein Feuer zu machen, und dabei zu hoffen, dass einer der Steine ein Zündstein war. Endlich spürte sie einen kleinen Funken und Bonnie prallte zurück.
Bonnie riss die Augen auf. »Was war das?«, stieß sie hervor. Ihr Atem ging in harten Stößen.
»Das habe ich gesehen - gestern.«
»Wo?«
Elena antwortete langsam: »In Damon.«
»Aber was bedeutet es? Hat er es kontrolliert? Oder ... oder ...« Bonnie brach ab, und ihre Augen weiteten sich.
Elena beendete den Satz für sie. »Oder hat es ihn kontrolliert? Ich weiß es nicht.
Aber eines weiß ich, und ich weiß es beinahe mit Bestimmtheit. Als er deinen Ruf ignorierte, Bonnie, stand er unter dem Einfluss dieses Malach.«
»Die Frage ist, wenn nicht Damon, wer hat es dann kontrolliert?«, sagte Stefano und stand rastlos wieder auf. »Ich habe das eben mitbekommen, und die Art von Kreatur, die Elena dir gezeigt hat - ist nichts, was einen eigenen Verstand hätte. Es braucht ein außerhalb gelegenes Gehirn, das es kontrolliert.«
»Wie einen anderen Vampir?«, fragte Meredith leise.
Stefano zuckte die Achseln. »Vampire werden von ihnen normalerweise einfach ignoriert, weil Vampire auch ohne sie bekommen können, was sie wollen. Es müsste ein sehr starker Geist sein, um einen Malach wie diesen dazu zu bringen, von einem Vampir Besitz zu ergreifen. Stark - und böse.«
»Jene dort«, sagte Damon mit schneidender grammatikalischer Präzision und deutete von seinem Platz auf einem hohen Ast einer Eiche herunter, »das sind sie.
Mein jüngerer Bruder und seine ... Verbündeten.«
»Wunderbar«, murmelte Shinichi. Er hatte sich noch anmutiger und eleganter in der Eiche platziert als Damon. Es war zu einem unausgesprochenen Wettbewerb geworden. Shinichis goldene Augen hatten ein- oder zweimal aufgeleuchtet - was Damon nicht entgangen war -, als er Elena gesehen hatte und dann wieder bei der Erwähnung Tamis.
»Versuch nicht einmal, mir weiszumachen, du hättest nichts mit diesem flegelhaften Mädchen zu tun«, fügte Damon trocken hinzu. »Von Caroline zu Tamra und von dort aus weiter, das ist der Plan, nicht wahr?«
Shinichi schüttelte den Kopf. Sein Blick ruhte auf Elena und er begann, leise ein Volkslied zu singen:
Mit Wangen wie knospende Rosen
Und Haar wie goldener Weizen ...
»Ich würde es bei diesen Mädchen nicht ausprobieren.« Damon lächelte ohne Heiterkeit. Seine Augen waren schmal. »Zugegeben, sie sehen ungefähr so stark aus wie nasses Seidenpapier - aber sie sind härter, als man denkt, und am härtesten sind sie, wenn eine von ihnen in Gefahr ist.«
»Ich hab's dir doch erklärt, nicht ich bin es, der das tut«, sagte Shinichi. Zum ersten Mal, seit Damon ihn erblickt hatte, schien er sich unbehaglich zu fühlen.
Dann fügte er hinzu: »Obwohl ich den Urheber vielleicht kenne.«
»Erzähl«, meinte Damon und betrachtete Shinichi immer noch mit schmalen Augen.
»Nun - habe ich schon meine jüngere Zwillingsschwester erwähnt? Ihr Name ist Misao.« Er lächelte gewinnend. »Es bedeutet Jungfrau.«
Automatisch regte sich Damons Appetit. Er ignorierte es. Er war zu entspannt, um ans Jagen zu denken, und er war sich ganz und gar nicht sicher, ob man Kitsunae - Fuchsgeister, von denen Shinichi behauptete, einer zu sein - überhaupt jagen konnte. »Nein, du hast sie nicht erwähnt«, antwortete Damon, während er sich geistesabwesend im Nacken kratzte. Der Moskitostich war verschwunden, aber es war ein heftiger Juckreiz zurückgeblieben. »Es muss dir irgendwie entfallen sein.«
»Nun, sie ist hier irgendwo. Sie ist zusammen mit mir hergekommen, als wir das Auflodern von Macht sahen, das sie zurückgebracht hat... Elena.«
Damon war davon überzeugt, dass das Zögern vor der Erwähnung von Elenas Namen geheuchelt war. Er legte den Kopf in den Glaub-nicht-du-hättest-mich-getäuscht- Winkel und wartete.
»Misao spielt gern Spielchen«, sagte Shinichi schlicht.
»Ach ja? Wie Backgammon oder Schach, diese Art von Spiele?«
Shinichi hüstelte theatralisch, aber das rote Aufblitzen in seinen Augen entging Damon keineswegs. Meine Güte, er hatte ihr gegenüber einen wirklich stark ausgeprägten Beschützerinstinkt, nicht wahr? Damon schenkte Shinichi das strahlendste Lächeln, das er draufhatte.
»Ich liebe sie«, erklärte der junge Mann mit dem von Feuer umzüngelten, schwarzen Haar und diesmal lag in seiner Stimme eine offene Warnung.
»Natürlich tust du das«, erwiderte Damon besänftigend. »Das kann ich sehen.«
»Aber, nun ja, ihre Spiele haben im Allgemeinen den Effekt, eine Stadt zu zerstören. Zumindest nach und nach. Nicht alles auf einmal.«
Damon zuckte die Achseln. »Diesen Fliegendreck von einem Dorf wird man nicht vermissen. Natürlich werde ich vorher meine Mädchen lebend rausbringen.«
Jetzt war es seine Stimme, in der eine offene Warnung lag.
»Ganz wie du willst.« Shinichi hatte zu seinem normalen, unterwürfigen Ich zurückgefunden. »Wir sind Verbündete und wir werden uns an unser Abkommen halten. Wie dem auch sei, es wäre eine Schande, all das ... zu verschwenden.« Sein Blick wanderte wieder zu Elena hinüber.
»Übrigens, wir werden über das kleine Fiasko zwischen deinem Malach und mir nicht einmal reden - oder ihrem Malach, wenn du darauf bestehst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die letzten drei Malach verdampft habe, aber wenn ich noch einen zu Gesicht bekomme, ist unsere Geschäftsbeziehung beendet. Ich gebe einen üblen Feind ab, Shinichi. Du willst nicht herausfinden, wie übel.«
Shinichi wirkte gehörig beeindruckt, als er nickte. Aber im nächsten Moment schaute er wieder zu Elena hinüber und sang:
... Haar wie goldener Weizen
Sich über milchweiße Schultern ergießt;
Meine Hübsche, meine Süße ...
»Und ich will diese Misao kennenlernen. Zu ihrem eigenen Schutz.«
»Und ich weiß, dass sie dich kennenlernen will. Im Augenblick ist sie ganz und gar auf ihr Spiel konzentriert, aber ich werde versuchen, sie davon loszureißen.«
Shinichi rekelte sich genüsslich.
Damon sah ihn einen Moment lang an. Dann rekelte auch er sich gedankenverloren.
Shinichi beobachtete ihn. Er lächelte.
Damon grübelte über dieses Lächeln nach. Er hatte bemerkt, dass man, wenn Shinichi lächelte, in seinen Augen zwei blutrote Flammen sehen konnte.
Aber er war wirklich zu müde, um jetzt darüber nachzudenken. Einfach zu entspannt. Tatsächlich fühlte er sich plötzlich sehr schläfrig ...
»Also werden wir in Mädchen wie Tami nach diesen Malach-Kreaturen suchen?«, fragte Bonnie.
»Genau, in Mädchen wie Tami«, bekräftigte Elena.
»Und du denkst«, begann Meredith, während sie Elena aufmerksam beobachtete,
»dass Tami es irgendwie von Caroline hat.«
»Ja. Ich weiß, ich weiß - die Frage ist: Woher hat Caroline es? Und das weiß ich nicht. Aber andererseits wissen wir auch nicht, was mit ihr geschehen ist, als Nicolaus und Tyler Smallwood sie entführt hatten. Wir wissen nichts darüber, was sie während der letzten Woche getan hat. Wir wissen nur, dass sie ganz offenkundig niemals wirklich aufgehört hat, uns zu hassen.«
Matt stützte seinen Kopf in die Hände. »Und was werden wir jetzt tun?
Irgendwie fühle ich mich verantwortlich.«
»Nein, wenn überhaupt irgendjemand dafür verantwortlich ist, dann ist es dieser Jimmy. Wenn er - du weißt schon - Caroline über Nacht hat bleiben lassen - und ihr dann auch noch erlaubt hat, mit seiner zwölfjährigen Schwester darüber zu sprechen ... nun, es macht ihn nicht direkt schuldig, aber er hätte gewiss ein wenig diskreter sein können«, sagte Stefano.
»Und das ist der Punkt, in dem du dich irrst«, beschied Meredith ihm. »Matt, Bonnie, Elena und ich kennen Caroline seit Ewigkeiten, und wir wissen, wozu sie fähig ist. Wenn irgendjemand dazu geeignet ist, auf seine Schwester aufzupassen -
dann sind das wir. Und ich denke, wir machen uns einer ernsthaften Pflichtvergessenheit schuldig. Deshalb bin ich dafür, bei ihr zu Hause vorbeizufahren.«
»Ich auch«, sagte Bonnie bekümmert, »aber ich freue mich nicht gerade darauf.
Außerdem, was ist, wenn sie keine dieser Malach-Kreaturen in sich hat?«
»Das ist der Punkt, an dem wir wieder auf unsere Nachforschungen zurückkommen«, erwiderte Elena. »Wir müssen in Erfahrung bringen, wer hinter all dem steckt. Es muss jemand sein, der stark genug ist, um Damon zu beeinflussen.«
»Wunderbar«, sagte Meredith mit düsterer Miene. »Und angesichts der glühenden Machtlinien müssen wir unsere Wahl ja auch nur unter sämtlichen Personen in Fell's Church treffen.«
Fünfzig Meter westlich und zehn Meter geradeaus bemühte Damon sich, wach zu bleiben.
Shinichi hob die Hand, um sich feine Haare von der Farbe von Nacht und Flammen aus dem Gesicht zu streichen. Unter gesenkten Lidern beobachtete er Damon aufmerksam.
Damon hatte beabsichtigt, ihn genauso aufmerksam zu beobachten, aber er war einfach zu schläfrig. Langsam ahmte er Shinichis Bewegungen nach und strich sich selbst einige Strähnen seidig schwarzen Haares aus der Stirn. Seine Lider sanken unbeabsichtigt herab, ein kleines Stück weiter als zuvor. Shinichi lächelte ihn an.
»Wir haben also eine Abmachung«, murmelte er. »Wir kriegen die Stadt, Misao und ich, und du wirst uns nicht in die Quere kommen. Wir bekommen das alleinige Recht auf die Magie der Machtlinien. Du bekommst deine Mädchen, die die Stadt sicher verlassen können ... und du bekommst deine Rache.«
»An meinem scheinheiligen Bruder und diesem ... diesem Brad!«
»Matt.« Shinichi hatte scharfe Ohren.
»Was auch immer. Ich werde nur nicht zulassen, dass Elena verletzt wird, das ist alles. Oder die rothaarige kleine Hexe.«
»Ah, ja, die süße Bonnie. Ich hätte nichts gegen ein oder zwei von ihresgleichen einzuwenden. Eine für Samhain und eine für das Sonnwendfest.«
Damon schnaubte schläfrig. »Es gibt keine Zweite wie sie; da kannst du suchen, wo du willst. Ich werde auch bei ihr nicht zulassen, dass sie verletzt wird.«
»Und was ist mit der hochgewachsenen, dunkelhaarigen Schönheit... Meredith?«
Damon fuhr auf. »Wo?«
»Keine Sorge; sie kommt dich nicht holen«, besänftigte Shinichi ihn. »Was soll deiner Meinung nach mit ihr geschehen?«
»Oh.« Damon lehnte sich erleichtert wieder zurück und entspannte seine Schultern. »Sie soll ihren eigenen Weg gehen - solange er weit genug entfernt liegt von meinem.«
Shinichi schien den Gedanken zu erwägen, sich ebenfalls wieder gegen seinen Ast zu lehnen. »Dein Bruder wird kein Problem darstellen. Also geht es im Grunde nur um diesen anderen Jungen dort unten«, murmelte er. Er hatte ein sehr einschmeichelndes Murmeln.
»Ja. Aber mein Bruder ...« Damon schlief jetzt beinahe ein - in genau der gleichen Haltung, die Shinichi eingenommen hatte.
»Ich habe es schon einmal gesagt, man wird sich um ihn kümmern.«
»Hmm. Ich meine, gut.«
»Wir sind also Verbündete?«
»Hmm-hmm.«
»Ja?«
»Ja.«
»Wir haben eine Abmachung.«
Diesmal antwortete Damon nicht mehr. Er träumte. Er träumte, dass Shinichi seine engelhaften, goldenen Augen plötzlich aufriss, um ihn anzusehen.
»Damon.« Er hörte seinen Namen, aber in seinem Traum kostete es ihn zu große Mühe, die Augen zu öffnen. Aber er konnte ohnehin alles mit geschlossenen Augen sehen.
In seinem Traum beugte Shinichi sich über ihn, schwebte direkt über seinem Gesicht, sodass ihre Auren sich mischten und sie den Atem geteilt hätten - wenn Damon geatmet hätte. Shinichi verharrte lange in dieser Haltung, als prüfte er Damons Aura, aber Damon wusste, dass ein Außenstehender den Eindruck haben musste, bei ihm herrsche Funkstille auf allen Kanälen und Frequenzen. Kein Empfang. Trotzdem hing Shinichi in seinem Traum weiterhin über ihm, als versuchte er, sich den Halbmond von dunklen Wimpern auf Damons bleicher Haut einzuprägen oder die sanfte Wölbung von Damons Mund.
Schließlich legte der Traum-Shinichi eine Hand unter Damons Kopf und streichelte die Stelle, an der der Moskitostich gejuckt hatte.
»Oh, du wirst zu einem schönen, großen Burschen heranwachsen, nicht wahr?«, sagte er zu etwas, das Damon nicht sehen konnte - zu etwas in ihm. »Du könntest beinahe gegen seinen eigenen starken Willen die absolute Kontrolle über ihn übernehmen, nicht wahr?«
Shinichi saß einen Moment lang da, als schaute er einer Kirschblüte beim Fallen zu, dann schloss er die Augen.
»Ich denke«, flüsterte er, »das ist es, was wir versuchen werden, und zwar in gar nicht allzu langer Zeit. Bald. Sehr bald sogar. Aber zuerst müssen wir sein Vertrauen gewinnen und seinen Rivalen loswerden. Ihn umnebelt halten, wütend, eitel, aus dem Gleichgewicht gebracht. Wir müssen dafür sorgen, dass er weiterhin an Stefano denkt, an seinen Hass auf Stefano, an Stefano, der ihm seinen Engel genommen hat - während ich mich um die Dinge kümmere, die hier getan werden müssen.«
Dann sprach er wieder direkt zu Damon. »Verbündete, in der Tat!« Er lachte.
»Nicht solange ich den Finger direkt auf deine Seele legen kann. Hier. Fühlst du es? Wozu ich dich bringen könnte ...«
Und dann schien er das Wort wieder an die Kreatur zu richten, die bereits in Damon war: »Aber im Augenblick ... Am besten, wir veranstalten ein kleines Festmahl, um dir zu helfen, viel schneller zu wachsen und viel stärker zu werden.«
In Damons Traum machte Shinichi eine Geste, lehnte sich zurück und ermutigte die bis dahin unsichtbaren Malach, die Bäume hinaufzukommen. Sie kletterten nach oben und rutschten an Damons Nacken hinauf. Und dann glitten sie grauenhafterweise in ihn hinein, einer nach dem anderen, durch irgendeinen Schnitt, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er ihm zugefügt worden war.
Das Gefühl ihrer weichen, schwabbeligen, quallenähnlichen Leiber war beinahe unerträglich ... wie sie in ihn hineinschlüpften ...
Shinichi begann, leise zu singen:
Oh, kommt zu mir, ihr wunderhübschen Jungfern, Eilt, ihr Mädel, an meine Brust.
Kommt zu mir im Sonnenlicht oder Mondschein,
Während die Rosen noch in voller Blüte stehn...
In seinem Traum war Damon wütend. Nicht wegen des Unsinns über irgendwelche Malach in ihm. Das war lächerlich. Er war wütend, weil er wusste, dass der Traum-Shinichi Elena beobachtete, während sie begann, die Überreste des Picknicks einzupacken. Mit zwanghafter Aufmerksamkeit beobachtete er jede Bewegung, die sie machte.
... Sie blühen, wo immer euer Fuß die Erde berührt, Wilde Rosen, blutig rot.
»Ein außergewöhnliches Mädchen, deine Elena«, fügte der Traum-Shinichi hinzu.
»Wenn sie weiterlebt, denke ich, wird sie für eine Nacht oder so mir gehören.« Er strich die verbliebenen Haarsträhnen sachte aus Damons Stirn. »Außergewöhnliche Aura, meinst du nicht auch? Ich werde dafür sorgen, dass ihr Tod wunderschön wird.«
Aber Damon befand sich in einem jener Träume, in denen man sich weder bewegen noch sprechen kann. Er antwortete nicht.
Indessen fuhren die Traum-Schoßtierchen des Traum-Shinichi fort, die Bäume hinaufzuklettern und sich wie Wackelpudding in Damon hineinzuschlabbern.
Einer, zwei, drei, ein Dutzend, zwei Dutzend. Mehr.
Und Damon konnte nicht erwachen, obwohl er spürte, dass aus dem Alten Wald weitere Malach herbeikamen. Sie waren weder tot noch lebten sie, sie waren weder Mann noch Frau, sondern bloße Kapseln der Macht, die es Shinichi erlauben würden, Damons Geist aus der Ferne zu kontrollieren. Sie kamen, zahllos, endlos.
Shinichi beobachtete weiterhin den Zustrom, das helle Aufleuchten innerer Organe, die in Damon aufblitzten. Nach einer Weile begann er von Neuem zu singen:
Die Tage sind kostbar, verliert sie nicht.
Blumen verwelken, und ihr werdet es auch ...
Kommt zu mir, ihr wunderhübschen Jungfern,
Solange noch jung und hübsch ihr seid.
Damon träumte, dass er das Wort »vergessen« hörte, als würde es von hundert Stimmen geflüstert. Und noch während er versuchte, sich daran zu erinnern, was er vergessen sollte, löste es sich auf und verschwand.
Er erwachte allein auf dem Baum, mit einem Schmerz, der seinen gesamten Körper erfüllte.