Kapitel 10

Mitternacht

Auch von diesem Vortrag bekam ich zunächst nicht allzu viel mit. Hendrik und ich saßen ganz hinten im Saal und unterhielten uns flüsternd, bis die Kollegin vor uns sich umdrehte und uns bat, doch endlich still zu sein oder besser noch draußen weiterzureden. Sie hatte das allerdings deutlich derber formuliert.

Hendrik zwinkerte mir verschwörerisch zu, und wir rissen uns zusammen. Trotzdem fiel es mir schwer, mich auf die Ausführungen von Professor Holbauer zu konzentrieren, obwohl das Thema – neuartige Gebissprothesen bei Kieferschwund – mich durchaus sehr interessierte. Unter meinen Patienten gab es immer mehr, die davon betroffen waren. Gut, dass man seine Ausführungen auch nachlesen konnte.

Es war schon nach achtzehn Uhr, als die Veranstaltung schließlich zu Ende ging.

In der Lobby sah Hendrik auf seine Armbanduhr.

»Ich würde so gerne heute mit dir zu Abend essen und unser Gespräch fortführen, Zoe«, sagte er mit einem bedauernden Blick, »aber ich habe leider schon eine Verabredung mit zwei Kollegen, die ich nicht absagen kann.«

»Oh, schade, ich hatte gehofft, wir würden noch etwas mehr in der Vergangenheit schwelgen.« Der Tag mit Hendrik war bislang so schön gewesen, dass ich einfach gehofft hatte, wir würden auch noch den Abend gemeinsam verbringen.

»Aber ich könnte es schaffen, bis kurz vor Mitternacht zurück zu sein. Rechtzeitig, um auf deinen Geburtstag anzustoßen, wenn du möchtest.«

»Du weißt noch, wann ich Geburtstag habe?«

»Klar! Der 17. April war doch damals immer ein besonderer Tag. Ich kenne niemanden, der seinen Geburtstag so gerne gefeiert hat wie du.«

»Inzwischen vielleicht nicht mehr mit ganz so großem Enthusiasmus wie damals«, gestand ich, und er lachte.

»Also keine wilden Partys mehr, die sich oft über mehrere Tage erstrecken?«

»Nicht wirklich.«

»Was hast du denn heute Abend noch vor?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Eigentlich gar nichts. Nur eine heiße Dusche, eine Kleinigkeit zu essen aufs Zimmer bringen lassen und nebenbei ein wenig fernsehen bis ich so müde bin, dass ich einschlafe.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich jetzt bedauern oder beneiden soll«, sagte er.

»Am besten keines von beidem. Für mich ist das Programm völlig okay.«

»Na gut. Dann sehen wir uns also heute nicht mehr?«

»Schick mir doch einfach eine Nachricht, wenn du rechtzeitig zurückkommst. Und wenn ich noch wach bin, können wir uns ja noch sehen.«

»So machen wir es. Gib mir bitte deine Nummer, dann speichere ich sie gleich ein.«

Er holte sein Handy aus der Tasche.

»Moment … ich weiß die leider nicht auswendig«, sagte ich und holte ebenfalls mein Smartphone. In diesem Moment bemerkte ich, dass es noch immer auf Flugmodus gestellt war.

Ups!

Ich schaltete es rasch an und erschrak. Unzählige Anrufe und Nachrichten waren eingegangen, vor allem von Anna und Ilona, die sich offenbar ziemliche Sorgen machten, weil ich mich seit Stunden nicht gemeldet hatte.

»Ist was passiert?«, fragte Hendrik.

»Nein … Warte bitte nur ganz kurz.«

Ich rief unsere Freundinnen-WhatsApp-Gruppe auf und nahm rasch eine Sprachnachricht auf: »Hallo, ihr zwei. Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Mir geht es gut, keine Sorge. Ich hatte nur vergessen, nach dem Vortrag heute Vormittag das Handy wieder einzuschalten. Melde mich dann gleich noch mal. Bis dann.«

Ich warf einen Blick zu Hendrik, der mich neugierig ansah, und zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern.

»Entschuldige, ich musste nur …«

Das Klingeln des Handys unterbrach mich. Ilona! Natürlich! Ich seufzte. Sie würde es sicher so lange versuchen, bis ich ans Handy ging. Also brachte ich es am besten gleich hinter mich.

»Hallo, Ilona«, meldete ich mich. »Es ist jetzt gerade ganz ungünstig – ich rufe dich aber wirklich gleich …«

»Was glaubst du, was für Sorgen wir uns die letzten Stunden gemacht haben?«, blaffte Ilona mich ohne Begrüßung an.

»Hör mal, ich …«, doch sie ließ mich nicht ausreden.

»Anna hat sich die schlimmsten Dinge ausgemalt und war so aufgeregt, dass sie vorhin sogar die Polizei angerufen hat.«

»Sie hat was? … Die Polizei?«, fragte ich erschrocken. »Bitte gebt dort sofort Bescheid, dass alles in Ordnung ist«, forderte ich.

»So in Ordnung wie der angeblich ganz harmlose Unfall auf den Kapverden?«, fragte Ilona.

»Hör zu, mir ist wirklich nichts passiert. Alles ist bestens! Ich schwöre, ich bin in keiner Klinik und verharmlose auch nicht meinen Zustand.«

»Apropos Zustand – genau deswegen hat Anna sich natürlich auch …«

»Ich muss jetzt wirklich aufhören«, unterbrach ich sie rasch. Ganz bestimmt würde ich nicht vor Hendrik über meine noch ganz frische Schwangerschaft sprechen. »Aber ich melde mich gleich noch mal bei euch, sobald ich in meinem Zimmer bin. Versprochen.«

Ich legte auf und blies langsam Luft durch die Lippen.

»Da hat sich wohl jemand große Sorgen um dich gemacht«, bemerkte Hendrik, der nur meinen Teil des Gesprächs gehört und sich einen Reim darauf gemacht hatte.

»Ja … Meine Freundinnen Ilona und Anna. Sie konnten mich den ganzen Tag nicht erreichen. Normalerweise vergesse ich nie, mein Handy wieder einzuschalten.«

»Aber das kann doch mal passieren.«

»Eigentlich trägst du ja die Schuld dafür. Du hast mich so abgelenkt, dass es mir gar nicht aufgefallen ist«, sagte ich, natürlich nicht ernsthaft.

»Genau das war auch meine Absicht, dich mit meiner Gegenwart völlig aus dem Konzept zu bringen.« Er lächelte. »Aber natürlich wollte ich nicht, dass sich deswegen jemand Sorgen macht. Mea culpa!«

»Immerhin wissen sie jetzt, dass alles in Ordnung ist.«

»Sind deine Freundinnen immer so besorgt um dich, nur weil du mal ein paar Stunden nicht erreichbar bist?«, fragte er etwas erstaunt.

»Normalerweise nicht, aber … ach, das ist eine längere Geschichte«, wich ich aus.

»Ich liebe längere Geschichten«, bemerkte er mit einem Schmunzeln. »Aber leider muss ich gleich los. Gibt es auch eine Kurzfassung?«

»Gibt es. Also, ich hatte an Silvester einen Unfall, der glücklicherweise glimpflich ausging. Aber die beiden konnten mich damals nicht erreichen, weil ich im Krankenhaus war, obwohl ausgemacht war, dass ich mich melde. Damit habe ich sie wohl ein wenig traumatisiert.«

Den Herzinfarkt im letzten Jahr ließ ich jetzt einfach mal unter den Tisch fallen.

»Okay, das erklärt einiges. Gut, dass dir bei diesem Unfall nichts passiert ist. Ich hoffe, du erzählst mir bei unserem nächsten Treffen die ausführliche Version?«

»Versprochen.«

Ich hielt ihm mein Handy hin.

»Tipp mir doch gleich noch deine Nummer ein, ja?«, bat ich.

»Klar.«

Kaum hatte er sie eingegeben, rief ich ihn an, und damit hatte auch er meine Kontaktdaten.

»Dann bis später vielleicht.«

»Bis später! Ich melde mich, wenn ich zurück bin.«

Er umarmte mich kurz zum Abschied und machte sich dann auf den Weg zu seiner Verabredung, während ich mit dem Lift nach oben zu meinem Zimmer fuhr.

Auf dem Ablagetisch neben der Tür erwartete mich eine handschriftliche Nachricht der Rezeption, dass ich mich bitte unverzüglich melden sollte. Ich seufzte. Anna und Ilona hatten auch dort mehrfach angerufen, um zu überprüfen, ob ich nicht womöglich mit einem weiteren Herzinfarkt hilflos im Zimmer lag. Glücklicherweise war niemand auf die Idee gekommen, meinen Namen beim Vortrag des Professors ausrufen zu lassen.

Ich gab Bescheid, dass sich inzwischen alles geklärt hatte, und bestellte Gemüsesuppe, ein Franzbrötchen und zwei große Flaschen Wasser.

Noch bevor der Zimmerservice das Essen brachte, rief ich Anna an. Sie hatte sich tatsächlich schreckliche Sorgen gemacht, und Paul hatte sie offenbar gerade noch davon abhalten können, ins Auto zu steigen und an die Ostsee zu fahren, um nach mir zu suchen. Einerseits rührte mich ihre Sorge, aber andererseits war es tatsächlich schon ziemlich übertrieben. Und das sagte ich ihr auch deutlich.

»Aber wenn dir wieder was passiert wäre, dann …«, warf sie ein, doch ich ließ sie gar nicht ausreden.

»Anna! Bitte! Komm jetzt wirklich mal runter. Natürlich hätte es auch sein können, dass mir wieder etwas passiert wäre. Klar, das kann bei jedem von uns immer sein. Aber dann hättest du es erstens ohnehin erfahren, weil ich dich und Ilona als meine Notfallkontakte angegeben habe, und zweitens hätte man dann auch nichts mehr ändern können, so schlimm sich das anhört.«

»Schon, aber …«, sie gab nicht auf.

»Ich bin wirklich froh, dass ihr euch so um mich sorgt, aber ich bin doch kein gedankenloser Teenager, und – sorry, wenn ich das so deutlich sage – du bist auch nicht meine Mutter. Ich habe nur vergessen das Handy wieder einzuschalten. Und zwar, weil ich jemanden getroffen habe und wir gemeinsam beim Essen waren. Und danach ging es gleich mit dem nächsten Vortrag weiter. Ich hatte einen wirklich schönen Tag. Die Polizei anzurufen, nur weil ich ein paar Stunden nicht erreichbar war? Merkst du vielleicht selbst, dass das ein wenig übertrieben ist?«

Zerknirscht entschuldigte sich Anna für die Aufregung und versprach, sich zukünftig zurückzuhalten. Was ich ihr allerdings nur bedingt abnahm. Anna war Anna, und in ihrer Fürsorglichkeit konnte sie nicht aus ihrer Haut.

»Aber wer war das, mit dem du beim Essen warst und der dich so abgelenkt hat?«, hakte sie dennoch neugierig nach.

»Hendrik Scholler!«, antwortete ich lapidar. »Ein Kollege.«

»Hendrik? Der Name kommt mir bekannt vor. Doch nicht etwa der Hendrik, mit dem du früher mal zusammen warst?«

Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, dass ich ihr schon mal von ihm erzählt hatte. Das musste wohl an einem der Abende gewesen sein, als mich Crémant, Rotwein oder Eierlikör in Plauderstimmung versetzt hatten.

»Ja. Genau der«, bestätigte ich mit einem Nicken, auch wenn sie das nicht sehen konnte.

»Und?«

»Und was?«

»Na ja. Immerhin warst du mit deinem Ex beim Essen«, sagte sie.

»Das hört sich jetzt ungewöhnlicher an, als es war. Dein Ex war mit seiner Frau sogar auf deine Hochzeit eingeladen.«

»Das ist was völlig anderes. Und jetzt weich bitte nicht aus!«

»Na gut. Es war nett.«

»Nur nett?«

»Es war sogar sehr schön!«, gab ich zu.

»Aha, sehr schön war es also! Und? Ist er verheiratet? Oder liiert?«

»Nein ist er nicht! Und was soll das denn jetzt werden, Anna? Eine Inquisition?«

»Ich bin nur interessiert«, meinte sie fröhlich.

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

»Der Zimmerservice ist da«, sagte ich und ging zur Tür, um zu öffnen.

»Sollen Ilona, du und ich uns um Mitternacht per Videochat treffen, damit wir dir gratulieren können?«, fragte sie, während die Hotelangestellte das Tablett ins Zimmer trug und auf den Tisch stellte.

»Moment mal kurz, Anna.«

Ich zeichnete den Beleg ab und setzte einen ordentlichen Betrag als Trinkgeld dazu.

Die junge Frau lächelte, und ich nickte ihr zu, als sie wieder ging.

»Ihr braucht wirklich nicht extra so lange aufzubleiben. Es ist ja mitten unter der Woche, und es kann sein, dass ich mich noch mit Hendrik treffe.«

»So so …«

»Was? So so?«

»Ach nichts.«

Ich konnte ihr Grinsen durchs Telefon hören. Doch ich wollte nicht darauf einsteigen.

»Dann bis morgen früh? Ich meine, ein gemeinsamer Geburtstags-Videochat ist doch drin, oder?«, fragte sie.

»Natürlich!«

»Ich klär das mit Ilona … Und wie fühlst du dich eigentlich sonst so? Ich meine, wegen der Schwangerschaft?«

»Weißt du, ich kann es selbst kaum glauben, aber heute ist so viel passiert, dass ich gar nicht so oft daran gedacht habe. Ich muss das erst richtig sacken lassen.«

»Das verstehe ich. Unsere Zoe wird Mama. Das ist ja auch wirklich kaum zu fassen. Dann lass ich dich jetzt mal essen. Schönen Abend.«

»Danke. Dir auch … Und du erholst dich besser von der Aufregung vorhin«, schlug ich vor.

»Werde ich. Paul hat im Keller schon für Ilona und mich die Sauna angeheizt. Und danach gibt es Prosecco, mit dem wir auf deine Schwangerschaft anstoßen.«

»Stimmt. Das wolltet ihr ja heute machen. Na, dann viel Spaß.«

Die Suppe war so heiß, dass ich mir rasch noch eine kurze Dusche gönnte und es mir dann mit dem Tablett im Bett gemütlich machte. Jetzt hatte die Suppe genau die richtige Temperatur. Obwohl ich am Mittag reichlich gegessen hatte, verputzte ich die ganze Portion und das Franzbrötchen und holte mir dann noch ein Päckchen Nüsse aus der Minibar.

Ob der Appetit schon mit der Schwangerschaft zu tun hat?

»Da hab ich wohl einen kleinen Vielfraß als Untermieter«, murmelte ich mit einem Lächeln und legte meine Hand auf den Bauch.

Doch bald schweiften meine Gedanken wieder zu Hendrik und unserer Begegnung heute ab. Ich hatte in seiner Gegenwart immer das Gefühl, dass wir auf allen Ebenen auf der gleichen Wellenlänge lagen. Ich fragte mich, aus welchen Gründen seine letzte Beziehung wohl gescheitert sein mochte. Wie seine letzte Freundin wohl so war? Was für ein Typ Frau? Und warum hatte er nie geheiratet?

Womöglich war es ihm wie mir ergangen und er hatte die Richtige einfach nicht gefunden, sagte ich mir. Was mich zu der zwangsläufigen Frage führte, ob wir immer noch ein Paar wären, wenn wir uns damals nicht getrennt hätten. Wäre eine zeitlich begrenzte Fernbeziehung wirklich so unmöglich gewesen? Vielleicht hätten wir es ja damals trotzdem geschafft? Doch mein Gefühl sagte mir, dass es nicht der Fall gewesen wäre.

Trotzdem war das zwischen uns ganz besonders , dachte ich und schüttelte lächelnd den Kopf.

Ich sah auf das Handy. Es war kurz vor halb zehn. Noch gut zweieinhalb Stunden bis Mitternacht. Ich las und beantwortete noch einige geschäftliche Mails, die mich im Lauf des Tages erreicht hatten. Und dann entdeckte ich noch eine Sprachnachricht von Ben, die ich übersehen hatte.

»Hi Zoe, wie cool, dass es mit dem Baby geklappt hat. Und dann auch noch so schnell. Echt ganz schön mutig von dir, das ohne einen Vater für das Kind durchzuziehen. Aber du wirst das sicher großartig rocken! Und außerdem weißt du hoffentlich, dass es einige Leute gibt, die für dich und dein Küken da sind und auf die du dich verlassen kannst. Ich biete mich hiermit jetzt schon als Babysitter, Kindertaxi, männliches Role Model für deinen Knirps oder einfach nur als Freund an, der was Besonderes für dich kocht! Wenn Not am Mann ist, komme ich sogar zum Geburtsvorbereitungskurs mit. Also … melde dich einfach, wenn du mich brauchst, und pass auf dich auf! Ciao!«

Was hatte ich doch für ein unglaubliches Glück, so tolle Freunde zu haben, die mir eine Familie ersetzten. Ich räusperte mich kurz und drückte den Knopf, um eine Sprachnachricht aufzunehmen.

»Hi Ben. Na, hoffentlich hast du dir dein Angebot auch wirklich gut überlegt, denn glaub mir, ich werde es schamlos ausnutzen! Danke dir, du Lieber! Bist echt ein Schatz! Bis bald!«

Kurz darauf kam ein fröhlicher Smiley mit hochgerecktem Daumen von ihm zurück.

Ich scrollte noch ein wenig durch Instagram, entdeckte neue Fotos aus der Mongolei auf Hollys Seite für Seniorenreisen, schmunzelte über ein Selfie, das Mina bei einem Friseurbesuch gepostet hatte, und gähnte schließlich. Der aufregende Tag war auf eine wunderbare Weise doch ziemlich anstrengend gewesen. Zuerst die unglaubliche Freude über den positiven Schwangerschaftstest, dann die Begegnung mit meinem früheren Freund und die schönen Stunden, die wir beide miteinander verbracht hatten. Ob Hendrik sich tatsächlich vor Mitternacht noch melden würde? Jedenfalls hätte ich große Lust, ihn heute noch mal zu sehen.

Um mir die Zeit zu vertreiben, suchte ich in meiner Hörbuchbibliothek nach einer passenden Geschichte. Zum Lesen war ich abends oft schon zu müde, aber ein Hörbuch ging fast immer. Heute war mir nach etwas Humorvollem, und ich entschied mich für Mieses Karma von David Safier, auch wenn ich die Geschichte schon kannte. Mir war einfach nur nach amüsanter Ablenkung, bis Hendrik sich – hoffentlich – melden würde.

Ein leises Klingeln weckte mich. Müde rappelte ich mich hoch und war irritiert, dass es draußen schon hell war. Schlagartig war ich wach. Ich hatte Mitternacht komplett verschlafen! Hastig versuchte ich herauszufinden, wo das Handy war, und entdeckte es schließlich unter dem zweiten Kopfkissen des Doppelbetts.

Der Anruf kam von Anna, die mir gratulieren wollte. Doch erst musste ich dringend ins Badezimmer, weil meine Blase fast am Platzen war. Trotzdem warf ich noch einen kurzen Blick auf die Nachrichten. Hendrik hatte um halb zwölf geschrieben, dass er zurück sei und sich freuen würde, mich noch zu sehen. Und dann noch mal genau um Mitternacht mit Geburtstagsgrüßen. Mist!

Ich würde mich gleich auch bei ihm melden.

Kaum war ich aus dem Badezimmer zurück, klingelte es erneut. Diesmal war es Ilona.

»Alles Gute zum Geburtstag, meine liebe Zoe!«, gratulierte sie mir vergnügt und stimmte ein Geburtstagslied an.

»Danke, Ilona!«, unterbrach ich sie jedoch. »Schon gut, schon gut! Nur nicht übertreiben, so früh am Morgen!«

»Eine Gesangseinlage von mir bekommt nicht jeder!«

»Das ehrt mich, aber um diese Uhrzeit kann ich darauf verzichten.«

Sie lachte vergnügt. »Du, ich kann jetzt eh leider nicht lange quatschen, weil gleich eine Lieferung kommt und Ben noch nicht da ist, der das übernehmen könnte.«

»Das macht doch nichts«, beteuerte ich.

»Aber trotzdem muss ich unbedingt wissen, wie es gestern noch lief mit diesem Hendrik«, erklärte sie neugierig.

»Anna hat natürlich wieder geplaudert«, sagte ich und musste lächeln.

»Aber klar doch! In der Sauna ist sie quasi ein offenes Buch für mich. Und? Jetzt sag schon!«

»Leider gibt es nichts zu sagen, weil ich eingepennt bin und Mitternacht total verschlafen habe«, erklärte ich.

»Mist!«

Meine Rede!

»Siehst du ihn denn heute wieder?«

»Ich hoffe.«

»Dann will ich aber alles wissen, klar!«

»Natürlich!«

»Ich drück dich fest. Bis dann!«

»Bis dann!«

Gleich nach Ilona riefen Anna und Paul an, und es kamen weitere Nachrichten mit Geburtstagsgrüßen, auch aus der Praxis von Oxana und meiner Vertretung.

Endlich kam ich dazu, eine Sprachnachricht für Hendrik aufzunehmen, um ihm zu erklären, dass ich gestern leider eingeschlafen war, und mich für seine Glückwünsche zu bedanken.

»Alles Gute zum Geburtstag, Zoe. Ich wollte schon fast die Polizei anrufen und eine Vermisstenmeldung aufgeben«, feixte er in Anspielung auf meine Freundinnen, als er mich gleich darauf anrief.

Ich lachte.

»Vielleicht sollte ich mir einen Peilsender implantieren lassen, damit alle jederzeit wissen, wo ich bin«, scherzte ich.

»Bevor du das machst, könnten wir gemeinsam frühstücken. Was meinst du?«

»Sehr gern! Aber ich muss erst noch unter die Dusche … Sagen wir in einer Dreiviertelstunde unten im Restaurant?«, schlug ich vor.

»Oder ich lasse uns das Frühstück einfach zu mir aufs Zimmer bringen? Da haben wir es sicher gemütlicher.«

Bei diesem Vorschlag hatte ich plötzlich ein leises Flattern in der Magengrube. Ein Flattern der freudigen Art.

»Ja. Warum nicht«, sagte ich.

»Irgendwelche besonderen Wünsche?«

»Überrasche mich einfach!«

»Okay … bis gleich!«

»Hendrik?«

»Ja?«

»Eine Sache noch.«

»Was denn?«

»Welche Zimmernummer hast du eigentlich?«

»Ach ja, stimmt, das solltest du wissen, wenn ich dich schon einlade. Ich bin … Moment, ich muss kurz nachsehen … Ich bin in Zimmer 348!«

»Wirklich?« Ich lachte.

»Ja. Warum?«

»Ich bin in Zimmer 346«, sagte ich.

Nun lachte auch er.

»Dann bist du ja fast meine Nachbarin und hast es nicht weit. Bis dann!«

»Bis dann!«

Als ich pünktlich vor seiner Zimmertür stand, war ich tatsächlich etwas aufgeregt. Ich räusperte mich und klopfte. Gleich darauf öffnete er die Tür.

»Hallo Geburtstagskind!«, begrüßte er mich mit einer Umarmung, die sich ziemlich gut und irgendwie vertraut anfühlte. »Hereinspaziert!«

»Danke für die Einladung!«

»Aber klar doch. Leider ist es noch ein wenig frisch draußen, sonst hätten wir auf dem Balkon frühstücken können.«

»Wow – das sieht ja toll aus!«, sagte ich, als ich den üppig gedeckten Tisch mit einem in hellem Rosa gehaltenen Blumenstrauß und brennenden Kerzen sah.

»Die Blumen sind für dich!«, sagte er.

»Japanrosen! Wie hast du denn die so schnell organisiert?«

»Tja, das bleibt mein Geheimnis. Bei den Blumen war ich mir nicht sicher, was dir gefällt! Mir ist aufgefallen, dass ich dir früher nie welche geschenkt habe.«

»Doch. Einmal eine Sonnenblume. Du hattest sie mir aufs Kopfkissen gelegt. Aber die hatte total viel Läuse. Weißt du nicht mehr?«

»Stimmt!« Er lachte vergnügt. »Da warst du nicht wirklich darüber begeistert.«

»Nein. Seitdem habe ich zu Sonnenblumen ein etwas gespaltenes Verhältnis. Aber Japanrosen mag ich total gern!«, beteuerte ich.

»Wie schön, dass ich diesmal deinen Geschmack getroffen habe.«

»Hast du! Vielen Dank, Hendrik!«

»Ich hätte dir gerne noch ein Geschenk gemacht, aber leider hatte ich nicht genügend Zeit, um herauszufinden, worüber du dich freuen könntest.«

»Hey. Ich freue mich total über die Blumen und das gemeinsame Frühstück!«, beteuerte ich.

»Na schön … dann nimm doch bitte Platz.«

Ich setzte mich und bestaunte die reiche Auswahl, die kaum einen Wunsch offen ließ.

»Kommen noch ein paar Leute, von denen ich nichts weiß?«, erkundigte ich mich lächelnd.

»Alles für dich! Ich war mir nicht sicher, was du magst … Früher hast du außer schwarzem Kaffee und einer Zigarette nichts gefrühstückt.«

»Wahnsinn, was du noch alles weißt. Das Rauchen habe ich inzwischen aufgegeben«, sagte ich stolz. »Es hat zwar eine Weile gedauert und war auch nicht ganz einfach, aber irgendwann hat es geklappt.«

»Sehr vernünftig!«

Ich entschied mich für eine Portion Rührei mit Vollkornbrot und etwas Obstsalat.

»Kaffee?«, fragte er und hob die Kanne hoch.

»Sehr gern!«

Ist Kaffee gut für das Baby? Eine kleine Tasse wird schon nicht schaden!, sagte ich mir und nahm mir vor, mich schnellstens mit dem Thema richtige Ernährung in der Schwangerschaft zu befassen.

Da er noch mal nachhakte, erzählte ich ihm nun ziemlich ausführlich die Geschichte meines Unfalls auf den Kapverden. Und erwähnte auch die Begegnung mit Jenny, Mama Blanca und den Frauen. Natürlich wollte er das Video mit dem Tanz gleich anschauen, und ich rief es am Handy auf.

»Wow – das ist ja toll.«

»Nicht wahr?«

»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wie die Schrittfolge hier ist. Das sieht ganz schön kompliziert aus.«

»Ist es aber gar nicht.«

»Kannst du mir das mal zeigen?«

»Jetzt gleich?«

»Warum nicht?«

Genau diese Spontanität hatte ich an ihm immer schon gemocht.

»Na gut! Versuchen wir es.«

Er schob die Stühle zur Seite, damit wir ausreichend Platz hatten. Trotzdem war es ziemlich beengt.

»Und was muss ich jetzt machen?«

Ich zeigte ihm zuerst die Grundschritte. Dann ließen wir die Musik dazu laufen und begannen zu tanzen, was auf dem begrenzten Raum nicht so einfach war. Ein paarmal verwechselte er die Richtung, und wir stießen lachend zusammen. Wir alberten herum, und einen Moment lang fühlte es sich so an, als wären wir wieder Teenager. Seine Berührungen ließen mein Herz schneller schlagen, was mich irritierte.

»Entschuldige«, sagte er.

»Kein Problem«, winkte ich ab. »Aber das hier ist wohl doch nicht der richtige Platz für die Jerusalema-Challenge.«

»Aber jedenfalls hat schon der Versuch Spaß gemacht.«

»Mir auch!«

»Magst du noch was essen?«

»Das war wirklich genug. Danke noch mal!«

Ich sah auf die Uhr. Inzwischen war es kurz vor neun Uhr. In gut einer halben Stunde würde die erste Veranstaltung beginnen, bei der ich mich angemeldet hatte.

»Ich muss dann leider langsam mal los«, sagte ich.

»Bist du auch für den Vortrag von Doktor Vaukel angemeldet?«

»Klar.«

»Aber sag mal, möchtest du da heute an deinem Geburtstag wirklich hingehen?«

Ich sah ihn amüsiert an.

»Nun ja, er ist einer der Hauptredner hier auf der Konferenz. Er ist der Grund, weshalb ich mich hier überhaupt angemeldet habe.«

»Ich mich auch, hmm … aber … aber was, wenn wir den Vortrag einfach schwänzen?«

»Du willst schwänzen?«

»Ja. Es soll heute sonnig und warm werden. Ich hab ehrlich gesagt überhaupt keine Lust, den ganzen Tag in einem Konferenzraum zu verbringen. Wir könnten nach Fehmarn fahren und dort am Strand an der Küste bei Katharinenhof spazieren gehen. Es ist echt herrlich dort! Na, was meinst du?«

Er sah mich erwartungsvoll an.

Es hatte mit einem Mal etwas sehr Verlockendes, den Vortrag sausen zu lassen und stattdessen zusammen mit Hendrik die Insel zu erkunden. Wahrscheinlich würde ich ohnehin nicht viel davon mitbekommen, weil meine Gedanken abwechselnd zwischen Hendrik und meiner Schwangerschaft hin und her wanderten.

»Ja! Ich hab Lust! Lass uns nach Fehmarn fahren!«, sagte ich.