Kapitel 17

Mädchen oder Junge?

Je länger ich über Ilonas Idee nachdachte, Jenny als Au-pair nach Deutschland zu holen, desto besser gefiel sie mir. Natürlich bedeutete das auch eine große Verantwortung, dem Mädchen und seiner Familie gegenüber. Aber gleichzeitig wäre es auch eine große Freude, sie hier zu haben. Nicht nur als Babysitterin für mein Kind, sondern auch, weil sie ein kluger lebensfroher Mensch war und es mir Spaß machen würde, ihr einiges zu ermöglichen. Nachdem ich über die Formalitäten recherchiert hatte, schrieb ich am nächsten Tag eine Nachricht und machte Jenny den Vorschlag, zu mir an den Chiemsee zu kommen, um mich nach ihren Möglichkeiten mit meinem Baby zu unterstützen.

Danach ging ich durch meine Wohnung und überlegte. Da ich das Gästezimmer als Kinderzimmer eingeplant hatte, fehlte ein Raum, in dem Jenny wohnen könnte. Allerdings benutzte ich mein Büro zu Hause kaum und brauchte es nicht unbedingt. Es gab ja immer noch die Praxis, in die ich jederzeit fahren konnte, wenn ich Papierkram zu erledigen hatte. Und notfalls konnte ich mir einen Schreibtisch mit Computer und ein kleines Regal für Ordner vorübergehend auch in mein Schlafzimmer stellen, das war groß genug. Falls Jenny also tatsächlich als Au-pair hierher nach Bayern kommen würde, hätte Malermeister Rixner bald zwei Zimmer zu renovieren. Ich war gespannt, wie Jennys Reaktion ausfallen würde.

Am Montag hatte ich wieder einen Termin bei meiner Frauenärztin. Diesmal begleitete Ilona mich. Und ich war sehr froh, dass sie mit dabei war.

Sie stand neben mir am Kopfende des Untersuchungsstuhls und wir starrten fasziniert auf den kleinen Bildschirm. Es lief das schönste Programm, das man sich überhaupt vorstellen konnte: Mein Kind!

»Ihr Baby ist ziemlich munter«, erklärte die Ärztin, während sie den Schallkopf über meinen Bauch gleiten ließ. »Und so wie es aussieht, ist alles bestens.«

Ich hatte mich gegen eine Fruchtwasseruntersuchung entschieden, die viele Frauen in meinem Alter vorsichtshalber machen ließen. Doch mir ging es prächtig, und ich hatte ein unerschütterliches Gefühl der Zuversicht, dass auch mit dem Baby alles in Ordnung war und überhaupt alles gut gehen würde.

»Und es ist ganz sicher nur ein Kind? Es hat sich keines mehr irgendwo versteckt?«, fragte ich zur Sicherheit.

Die Ärztin lachte.

»Nur ein Kind!«, beteuerte sie.

Ich musste an Mama Blanca denken, die auf kryptische Weise darauf hingedeutet hatte, dass ich zwei Kinder bekommen würde. Diesmal hatte die alte Dame sich wohl getäuscht.

»Kann es sein, dass man da was sieht?«, fragte Ilona plötzlich und beugte sich noch etwas näher zum Bildschirm. »Ich meine etwas, das darauf hindeutet, dass es sich bei dem Kind nicht um ein Mädchen handelt?«

»Das haben Sie aber nett formuliert«, sagte die Ärztin belustigt. »Ich könnte Ihnen natürlich sagen, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist, aber Frau Petrides muss entscheiden, ob sie das überhaupt jetzt schon wissen möchte.«

»Es ist ein Junge!«, sagte ich ganz ruhig, denn im grau-grauen Ultraschalldschungel musste man kein Diagnostikgenie sein, um das gewisse Etwas zwischen den Schenkeln richtig zu deuten. Außerdem hatte ich schon seit einiger Zeit das Gefühl, mich bei meinen pränatalen Mutter-Kind-Gesprächen mit einem männlichen Wesen zu unterhalten.

»Das haben Sie beide ganz richtig gesehen«, bestätigte die Gynäkologin. »Es ist ein Junge.«

»Perfekt«, rief Ilona begeistert. »Den verkuppeln wir mit der kleinen Lena. Das ist die Enkelin unserer besten Freundin, die vorgestern zur Welt kam«, erklärte sie ungefragt.

Vermutlich wusste die Ärztin darüber Bescheid, dass Leonie inzwischen entbunden hatte, und reimte sich womöglich zusammen, welches Kind wir meinten.

Nach dem Termin umarmten Ilona und ich uns vor der Praxis.

»Danke, dass du mitgekommen bist!«, sagte ich.

»Aber klar doch. Danke, dass du mich mitgenommen hast, Zoe. Das war wirklich besonders für mich.«

»Bitte entschuldige, mir wurde vorhin erst so richtig bewusst, dass es … na ja, dass es vielleicht nicht so ganz einfach für dich sein könnte, wenn du …«

»Zoe!«, unterbrach sie mich. »Ich habe schon vor einer Weile damit abgeschlossen. Ehrlich. Früher wäre mir das sicher schwerer gefallen. Aber inzwischen weiß ich, dass ich nicht unbedingt selbst ein Kind haben muss, um ein für mich perfektes Leben zu haben.«

»Ach, Ilona …«

»Und während du bald mit dunklen Augenringen vom Schlafmangel permanent nach Babykacke riechst, mit angesabberter Kleidung herumrennst und nach den Schnullern deines plärrenden Kindes suchst, werde ich ganz locker und ungebunden zwischen dem Chiemsee und der Toskana hin und her pendeln und mein Leben spontan und ohne Einschränkungen genießen!«, erklärte sie frech.

Doch so einen kleinen Funken von Wehmut konnte ich trotzdem in ihren Augen sehen.

»Glaub nicht, dass du so einfach davonkommen wirst, Tante Ilona«, sagte ich deswegen. »Auch du wirst öfter die Windeln meines Sohnes wechseln, als dir vielleicht jetzt schon klar ist.«

»Es wird mir kein Vergnügen sein!«, antwortete sie mit einem Zwinkern. »Aber ich freue mich trotzdem schon sehr auf den kleinen Herrn Petrides!«

»Der kleine Herr Petrides«, murmelte ich mit einem Lächeln. Er würde meinen Familiennamen tragen. Und ich hatte auch schon seinen Vornamen gewählt. Aber den wollte ich vorerst noch für mich behalten.

»Jetzt muss ich aber leider los, Zoe.«

Ilona beeilte sich, in ihren Laden zu kommen, damit Ben und Emma – Onkel und Tante der kleinen Lena Charlotte – wieder ins Krankenhaus fahren konnten.

Da ich heute Vormittag wegen meiner Untersuchung keine Termine in meiner eigenen Praxis hatte und es zu heiß für einen Spaziergang war, fuhr ich nach Hause. Ich machte meine täglichen Yogaübungen und legte mich dann aufs Sofa, um durch das Vormittagsprogramm im Fernsehen zu zappen.

Doch kaum hatte ich die Fernbedienung in die Hand genommen, fand ich eine längere E-Mail von Hendrik im Posteingang. Ich kochte mir eine Tasse Tee und nahm den Laptop auf den Schoß.

Liebe Zoe, seit meiner Ankunft hier in Gulu habe ich zum ersten Mal ein paar Tage frei gemacht und war mit einem Kollegen im Murchison-Falls-Nationalpark. Ich wünschte, du wärst bei dieser Tour mit dabei gewesen. Es war atemberaubend. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Giraffen und Elefanten in freier Wildbahn gesehen. Und Warzenschweine. Und natürlich noch viele andere Tiere. Und dann der imposante Wasserfall – ich bin mir sicher, du wärst begeistert gewesen. Ein paar Fotos habe ich an die Mail gehängt, damit du dir einen Eindruck machen kannst. Während ich jetzt diese Zeilen schreibe, fällt mir wieder ein, dass ich auch noch nie am Chiemsee war. Sicherlich gibt es auch dort ziemlich viel zu sehen. Vielleicht zeigst du mir ja nach meiner Rückkehr im Oktober die schönen Plätze dort? Dabei könnten wir vielleicht auch herausfinden, ob wir beide für eine Neuauflage unserer Beziehung bereit sind. Jedenfalls sind meine Gefühle für dich durch den Abstand nicht weniger geworden.

Ich hielt für einen Moment inne.

»Meine auch nicht«, murmelte ich und las weiter.

So viel für heute – ich muss gleich in die Krankenstation. Ein Backenzahn muss gezogen werden. Und die Patientin hat panische Angst. Aber was erzähl ich dir – das gehört zu unserem Arbeitsalltag! Dicker Kuss aus Gulu, und melde dich bitte bald, dein Hendrik!

Ich überlegte sehr lange, was ich ihm antworten sollte. Spätestens jetzt war wohl der Moment gekommen, in dem ich ihm alles sagen musste. Auch wenn keiner von uns wusste, ob überhaupt mehr aus uns werden könnte, sollten wir doch wenigstens über so wesentliche Dinge wie zukünftige Kinder Bescheid wissen. Leider kannte ich ja seine Haltung dazu. Deswegen war es total unfair von mir, ihm noch weiter Hoffnung zu machen, die ich nicht erfüllen konnte, egal, wie sehr ich es mir wünschte. Und doch fiel es mir unendlich schwer. Mehrfach setzte ich an und fand einfach nicht die richtigen Worte. Plötzlich begann ich damit, von Annas Enkeltochter zu erzählen. Und wie aufregend das für sie, aber auch für uns als Freundinnen war. Schließlich wurde mir bewusst, was ich da tat. Insgeheim hatte ich die Hoffnung offenbar nicht ganz aufgegeben, dass Hendrik sich mit meiner Schwangerschaft arrangieren könnte. Zumindest wünschte ich es mir sehnlichst, ganz egal, was meine Vernunft mir sagte. Deswegen erzählte ich auch so ausführlich von dem kleinen Mädchen. Ich wollte auf diese Weise herausfinden, wie er auf das Thema reagierte.

Falls ich in seiner nächsten Mail deutlich spüren würde, dass ihn das Thema Kind kalt ließ, würde ich ihm die Schwangerschaft verschweigen und ihm weismachen, dass es sich in Heiligenhafen tatsächlich nur um ein Strohfeuer gehandelt hatte und ich unseren Kontakt nicht weiter vertiefen wollte.

Auf keinen Fall wollte ich, dass er das Kind womöglich nur »in Kauf nahm«, um mit mir zusammen zu sein. Der kleine Herr Petrides hatte auf jeden Fall Besseres verdient!

Nachdem ich die Mail abgeschickt hatte, hoffte ich, dass ich nicht allzu lange auf eine Antwort warten musste. Das schlechte Gewissen nagte ohnehin ständig an mir, und ich wollte bald klare Verhältnisse schaffen. Auch für mich selbst. Es würde wehtun, falls es sich so entwickeln würde, dass ich ihn ziehen lassen musste. Denn Hendrik war der Mensch, mit dem ich mir inzwischen vorstellen konnte, viele schöne gemeinsame Jahre zu erleben und zusammen alt zu werden.