Ein weiterer Gast
»Ich kann nichts Auffälliges feststellen«, sagte der Arzt, den Anna angerufen hatte und der sofort zu mir in die Praxis geeilt war. Er hatte mich gründlich untersucht, den Blutdruck gemessen und mit einem mobilen Gerät sogar ein EKG gemacht.
»Mir geht es wirklich wieder gut!«, beteuerte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe mich vorhin wohl etwas zu sehr aufgeregt.«
»Das war mehr als nur ein bisschen zu sehr aufgeregt«, erklärte Anna energisch.
»Jetzt passt doch wieder alles. Und auch mein Baby turnt vergnügt herum. Trotzdem danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Dr. Geiger.«
»Gerne … Aber ich würde vorschlagen, dass Sie vorsichtshalber einen Termin beim Kardiologen machen! Ich möchte nicht, dass wir etwas übersehen.«
Anna hatte ihm in der Aufregung von meinem Herzinfarkt im letzten Jahr erzählt, weil sie Angst gehabt hatte, dass es womöglich wieder einer sein könnte.
Doch das, was ich vorhin erlebt hatte, hatte sich ganz anders angefühlt. Das war kein Herzinfarkt. Das war nur ein besonders schwerer Fall von Herzschmerz.
»Mache ich!«, versprach ich dennoch. Auch ich wollte natürlich nichts übersehen, schon wegen des Babys. Aber mir war trotzdem klar, dass der Schwächeanfall nur mit Hendriks unverhofftem Auftauchen und womöglich noch mehr mit seinem schnellen Verschwinden zu tun hatte, nachdem er meinen Schwangerschaftsbauch gesehen und völlig falsche Rückschlüsse gezogen hatte. Und mit der Tatsache, dass ich keine Gelegenheit gehabt hatte, ihm endlich alles zu erklären.
Verdammt!
Inzwischen hatte ich mehrmals versucht, ihn unter seiner früheren Handynummer zu erreichen, da ich davon ausging, dass er diese in Deutschland wieder benutzte. Doch dort war ich nach jeweils mehrmaligem Klingeln immer nur auf der Mailbox gelandet.
Obwohl Anna mich drängte, nach Hause zu gehen, setzte ich mich an den Computer und schickte ihm eine Mail mit der Bitte, sich umgehend bei mir zu melden. Ich wollte alles mit ihm klären, jedoch nicht in einer Mail, sondern entweder am Telefon oder besser noch bei einer persönlichen Begegnung, falls er noch irgendwo im Lande war.
Doch weder am Abend noch am nächsten Tag hörte ich etwas von ihm.
Anna, Ilona und Ben wechselten sich ab, damit ich nicht allein war, und zwischendrin kam sogar Mina, um nach mir zu sehen.
Ständig kreisten dieselben Fragen in meinem Kopf. Warum war er vorzeitig nach Deutschland gekommen? Was hatte er mit mir besprechen wollen? Und wie sehr hatte ich ihn mit dem Verschweigen meiner Schwangerschaft verletzt?
»Warum hab ich es ihm nicht einfach längst gesagt?«, fragte ich unglücklich, als Anna und Ilona am zweiten Abend bei mir waren.
»Gut, dass du uns diese Frage erst etwa tausendmal gestellt hast, Zoe«, bemerkte Ilona trocken.
»Du warst einfach noch nicht so weit, es ihm zu sagen, weil du Angst davor hattest, dass er dann sofort den Kontakt abbrechen würde«, sagte Anna verständnisvoll. Dabei war sie es gewesen, die mich von Anfang an gedrängt hatte, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Hätte ich doch nur auf sie gehört!
»Solange er es nicht wusste, gab es in deiner Vorstellung zumindest die Möglichkeit, dass Hendrik dich und den kleinen Herrn Petrides im Doppelpack nehmen würde … Man könnte fast sagen, es handelt sich um einen klaren Fall von Schrödingers Katze … oder besser gesagt, Schrödingers Baby. Oder Schrödingers kleiner Herr Petrides.«
Nun musste ich widerwillig lachen. Und auch Anna kicherte.
»Entschuldige, Zoe, aber das ist leider alles etwas verrückt«, sagte Anna.
»Schon gut, es ist ja auch völlig verrückt. Und jetzt denkt er auch noch, dass etwas mit einem anderen Mann läuft und ich ihn sozusagen doppelt angelogen habe.«
»Naheliegend«, sagte Ilona. »Wie soll er auch von selbst darauf kommen, dass du dich künstlich befruchten lassen hast?«
»Genau genommen war es keine künstliche Befruchtung, sondern eine …«, begann ich, aber da winkte Ilona schon ab.
»Wie es heißt, ist doch völlig egal.«
»Wahrscheinlich kann man einfach nicht alles haben im Leben«, überlegte ich laut und streichelte sanft über meinen Bauch. »In meinem Fall heißt es entweder Kind oder Mann.«
»Ach Quatsch!«, sagte Anna energisch.
»Kein Quatsch. Zoe hat schon recht. Bei ihr ist es Kind ohne Mann . Bei mir Mann ohne Kind «, warf Ilona ein. »Und bei dir …«, sie sah Anna nachdenklich an, »ach, bei dir ist es einfach nur ein riesiges Patchwork-Kuddelmuddel.«
Anna lächelte plötzlich.
»Zu diesem Kuddelmuddel gehören du und Zoe und der kleine Herr Petrides aber auch dazu.«
»Wie gut, dass es euch alle gibt«, sagte ich. »Das mit Hendrik habe ich leider völlig vermasselt.«
»Trotzdem. Irgendwie ist er ein Idiot, dieser Typ. Er hätte zumindest mit dir reden können, wenn er schon da ist«, warf Ilona ein. »Ehrlich gesagt, wenn er so blöd reagiert, dann ist es vielleicht ohnehin besser, wenn du nichts mehr von ihm hörst.«
Das war der Punkt, den ich selbst nicht verstand. Natürlich machte seine Reaktion allzu deutlich, was er von meiner Schwangerschaft hielt. Andererseits waren wir ja kein festes Paar gewesen und zumindest hätte ich von ihm erwartet – von dem Hendrik jedenfalls, den ich zu kennen glaubte –, dass er mit mir redete und nicht einfach sofort verschwand. Noch dazu, wenn er einen so weiten Weg auf sich genommen hat, weil er angeblich etwas sehr Wichtiges mit mir besprechen wollte.
Plötzlich hatte ich einen Gedanken, der mir gar nicht gefiel.
»Vielleicht kam er ja, um mir persönlich zu sagen, dass aus uns nichts werden kann«, sagte ich. »Und als er meinen Bauch sah, war er zunächst schockiert und vielleicht auch sauer, weil ich es ihm nicht gesagt habe. Aber letztlich hat sich damit für ihn alles erledigt. Deswegen ist er auch so schnell verschwunden.«
Meine Freundinnen sahen mich stirnrunzelnd an.
»Aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn, Zoe«, warf Anna ein. »Kein Mensch fliegt mal schnell von Uganda nach München, nur um jemandem persönlich zu sagen, dass er sich keine Beziehung vorstellen kann.«
»Aber weswegen soll er denn sonst gekommen sein?«, fragte ich.
»Vielleicht wollte er dir einen Heiratsantrag machen?«, überlegte Ilona.
»Wie kommst du denn auf diese Schnapsidee? Das würde weder zu ihm noch zu mir passen. Außerdem hätte er das auch nach seiner Rückkehr im Oktober tun können. So lange ist es ja nicht mehr bis dahin.«
»Hätte ja sein können. Ich kenne den Mann halt nicht.«
»Was, wenn er seinen Einsatz dort vorzeitig aus irgendeinem Grund abgebrochen hat, über den wir jetzt nur spekulieren könnten. Und sein erster Weg war zu dir, um dir das zu sagen. Als eine Art Überraschung«, suchte Anna nach einer weiteren Erklärung.
»Hmmm …«
Ganz nüchtern betrachtet, war das bisher für mich die einzige Erklärung, die tatsächlich ein wenig Sinn ergab.
»Hoffentlich meldet er sich bald, damit sich die Sache für dich aufklärt«, meinte Ilona. »Denn es ist wichtig, dass sich das aufklärt. Du kannst ja nicht dein Leben lang darüber nachdenken.«
Das wollte ich ganz bestimmt nicht. Ich musste erfahren, welchen Grund sein Besuch gehabt hatte.
In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür.
Wir sahen uns überrascht an.
»Und da ist er schon!«, rief Ilona.
Ich schluckte.
»Bitte geh du für mich zur Tür, Anna. Ich kann das jetzt nicht.«
»Na klar.«
Während sie das Zimmer verließ, griff ich nach Ilonas Hand und hielt mich an ihr fest.
»Keine Sorge, Zoe«, flüsterte sie, »Anna und ich stehen dir bei.«
Doch nicht Hendrik kam zu uns ins Wohnzimmer, sondern eine Frau.
»Hello, Zoe!«
Neben Anna stand die breit grinsende Holly, einen großen Rucksack auf dem Rücken und einen Trolley mit bunten Aufklebern in der Hand.
»Holly! Was machst du denn hier?«, fragte ich auf Englisch. »Deinen Fotos auf Instagram nach dachte ich, du treibst dich am Nordkap herum!«
Ich war seit unserem Kennenlernen ein fleißiger Follower ihrer Beiträge auf Social Media.
»Nicht mehr, meine liebe, Zoe. Aber es war traumhaft dort!«
Die britische Reisebloggerin stellte ihr Gepäck ab und kam auf mich zu.
»Du hast gesagt, wenn ich je in diese Gegend komme, soll ich mich unbedingt bei dir melden. And surprise, surprise – da bin ich nun!« Sie lachte laut, mit dem für sie typischen Gackern, das ich bereits auf den Kapverden kennengelernt hatte und das unglaublich ansteckend war.
Offenbar war gerade die Zeit der Überraschungsbesuche.
Aber jetzt war sie schon mal hier, und ich konnte sie nicht gleich wieder wegschicken, ich hatte sie damals ja quasi zu mir eingeladen. Und sie war auch nach meinem Unfall auf den Kapverden für mich da gewesen.
»Und was für eine wunderbare Überraschung, du bist ja schwanger, meine Liebe!«
Sie umarmte mich herzlich.
»Schön, dich zu sehen, Holly!«
»Sag mal, ist es für dich in Ordnung, wenn ich ein paar Tage hierbleibe?«, fragte sie.
»Aber klar doch!«, versicherte ich, weil ich es ihr versprochen hatte. »Leider kann ich dir im Moment nur das Sofa anbieten. Es ist aber echt ziemlich bequem.«
»Das ist doch ganz wunderbar und reicht mir völlig! Vielen Dank.«
Plötzlich fiel mir ein, dass am nächsten Tag die Maler kommen würden. Und Mina. Sie hatte angeboten, den ganzen Tag hier zu sein, damit die Männer eine Ansprechpartnerin hatten, während ich in der Praxis war.
»Ich hoffe, das stört dich nicht?«
»Ach was – gar nicht. Außerdem bin ich tagsüber ohnehin unterwegs«, winkte Holly ab.
Ich machte sie mit meinen Freundinnen bekannt.
»Du hast dich nach dem Unfall um Zoe gekümmert, oder?«, fragte Anna.
»Genau. Zoe hat auf den Kapverden so oft von euch erzählt, dass ich das Gefühl habe, euch schon ein wenig zu kennen«, erklärte Holly vergnügt.
Ilona übernahm es, die quirlige Engländerin mit bayerischem Bier, von dem ich glücklicherweise immer einen Vorrat für Gäste im Kühlschrank hatte, und einer Brotzeit zu versorgen, bei der Holly ordentlich zulangte.
»Das mit dem Bier könnt ihr hier wirklich gut in Bayern«, sagte sie, als Ilona ihr das zweite Glas einschenkte.
Natürlich wollte Holly alles über die Schwangerschaft wissen.
»Wie mutig von dir, Zoe!«, sagte sie dann. »Ich habe damals auch darüber nachgedacht, als die Anzahl meiner monatlich noch zur Verfügung stehenden Eier gerade so in eine Eierschachtel gepasst hätte und mir nicht mehr viel Zeit blieb. Aber dann war ich doch zu feige, es alleine durchzuziehen. Außerdem mag ich meine Unabhängigkeit und gehe einfach zu gerne auf lange Reisen – das wäre mit einem Kind nicht mehr auf diese Weise möglich gewesen. Aber ich bin mir sicher, du wirst das wuppen.«
Holly erzählte meinen Freundinnen von ihrem Reiseblog für Senioren, mit einer stetig wachsenden Leserschaft. Nun wollte sie einen Bericht über das Chiemgau, seine Sehenswürdigkeiten, Hotels und Gaststätten schreiben.
»Ich bin euch vor allem für jeden Geheimtipp dankbar!«, erklärte sie.
»Da fragst du am besten Anna und Ilona, die schon viel länger hier leben als ich«, riet ich ihr.
Die beiden schlugen vor, was ihnen gerade so einfiel, und Holly machte sich fleißig Notizen.
»Und rede doch mal mit meiner Mutter, wenn sie morgen hier ist, ob sie nicht auch noch Tipps für dich hat!«, schlug Anna vor.
»Super! Das mache ich.« Holly war begeistert.
Der Abend mit dem unerwarteten Gast verging wie im Flug, und es hatte gut getan, dass wir seit ihrem Eintreffen nicht mehr über Hendrik gesprochen hatten. Trotzdem hoffte ich nach wie vor, dass er sich bald melden würde. Aber ich konnte leider nichts erzwingen.
Es war schon ziemlich spät, als Anna und Ilona sich schließlich verabschiedeten. Beide schienen einigermaßen erleichtert zu sein, dass nun jemand bei mir war, der mich aufmunterte und ablenkte.
Holly war tatsächlich ein unkomplizierter Gast und ließ sich auch von den Handwerkern und Mina nicht stören, die ziemlich früh auf der Matte standen. Wir frühstückten noch gemeinsam, und Mina versorgte Holly mit weiteren Geheimtipps für ihren Blog. Da ich den Rest der Woche die vorerst letzten Patienten behandeln und dann an Hiltrud übergeben würde, würde ich erst am Wochenende richtig Zeit für Holly haben. Doch sie war ohnehin viel auf Achse auf der Suche nach urigen Gaststätten und Ausflugszielen, die man nicht in jedem Reiseführer fand.
Am Samstag machten wir gemeinsam einen Ausflug mit dem Schiff zur Fraueninsel im Chiemsee. Das war nun zwar kein Geheimtipp, aber trotzdem ein ganz besonders schönes Fleckchen Erde, das ich Holly zeigen wollte.
»Wow! Wie toll es hier ist!«
Sie war begeistert. Während wir langsam die von herrlich blühenden Gärten gesäumten Wege entlangspazierten, machte sie viele Fotos und sprach Informationen auf ihr Handy, die sie später für ihren Artikel nutzen würde.
Nachdem wir das alte Kloster besichtigt hatten und ich ihr im Klosterladen einen Likör als Geschenk gekauft hatte, setzten wir uns auf eine Bank am Ufer des Sees und sahen den Enten und Möwen zu, die sich im Wasser tummelten.
»Du bist anders als auf den Kapverden, Zoe«, sagte Holly plötzlich und sah mich mit einem feinen Lächeln an.
»Wie meinst du das?«
»Auf der Insel wirktest du abenteuerlustig, neugierig, furchtlos – aber auch irgendwie ein wenig getrieben, als wärst du auf der Suche. Die Frau hier am Chiemsee erlebe ich als ruhig, sehr fokussiert und fast ein wenig vorsichtig.«
»Ich gehe mal davon aus, dass es an der Schwangerschaft liegt«, sagte ich mit einem lässigen Schulterzucken.
»Das sicherlich … Es ist dir ja auch anzusehen, wie glücklich du als werdende Mutter bist. Aber irgendwas scheint dich auch zu bedrücken, nicht wahr?«
Ich hatte ihr bislang nichts von Hendrik gesagt und versucht, mir nicht anmerken zu lassen, dass mich etwas belastete. Fünf Tage war es nun her, dass er in Prien gewesen war, und seitdem hatte er sich immer noch nicht gemeldet.
»Ja … es gibt da etwas«, gab ich zu, und dann erzählte ich ihr alles. Ich beschönigte nichts.
Holly hörte mir aufmerksam zu und nickte nur immer wieder mal oder schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich weiß nicht, was los ist, und frage mich andauernd, warum Hendrik einfach wieder verschwunden ist. Klar, ich hätte ihm meine Schwangerschaft nicht verheimlichen dürfen. Aber das erklärt trotz allem nicht sein Verhalten.«
»Weißt du, was jetzt wirklich spannend wäre?«, fragte sie.
»Was?«
»Wenn dieser Hendrik jetzt neben mir sitzen und mir seine Version erzählen würde. Dann könnte ich vermutlich verstehen, was genau das Problem bei euch ist.«
»Tja … das würde ich mir auch wünschen«, sagte ich und seufzte. »Aber er meldet sich nicht, obwohl ich ihn schon unzählige Male angerufen habe.«
»Was würdest du ihm denn sagen, wenn er sich doch melden würde?«
»Na das, was ich dir erzählt habe.«
»Sonst nichts?«
»Aber genau das muss er doch wissen.«
Doch sie schüttelte den Kopf.
»Das Einzige, das er wirklich wissen muss, ist, ob du ihn liebst«, sagte sie und spielte gedankenverloren mit einem Ring an ihrem rechten Ringfinger.
»So einfach ist das nicht, Holly. Denn ich werde bald Mutter sein.«
»Trotzdem, wenn dieser Mann weiß, dass du ihn liebst, dann kann er ganz offen zu dir sein. Und du wirst die Wahrheit erfahren, weswegen er hier war. Ich denke, das ist auch der Schlüssel zu dem, wie er zu dir als baldige Mutter steht.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht lasse ich ihn besser einfach los. Ich möchte nichts erzwingen.«
Sie sagte nichts dazu. Eine Weile lang saßen wir nur schweigend da.
»Ich habe Krebs, Zoe«, sagte sie plötzlich, fast wie nebenbei.
Ich sah sie erschrocken an.
»Holly …«
»Die Einzelheiten erspare ich dir, aber ich habe wohl nur noch wenige einigermaßen gute Monate vor mir.«
»Das tut mir sehr leid.«
»Ja … mir auch. Aber solange ich noch kann, will ich auf Reisen gehen, so viel wie möglich erleben und es an andere Menschen weitergeben. Zu wissen, dass nach meinem Tod andere genau dieselben wunderschönen Plätze sehen, in meinen Lieblingsrestaurants essen werden oder durch bestimmte Landschaften reisen, weil sie durch meinen Blog darauf Lust bekommen haben, gibt mir ein Gefühl, als ob ich dadurch auch ein wenig hierbleiben und weiterreisen dürfte.«
Ich fand ihre Worte sehr traurig und irgendwie auch sehr schön.
Plötzlich schweifte ihr Blick in die Ferne.
»Hätte ich vor vielen Jahren einem bestimmten Menschen die Wahrheit gesagt, egal wie schwierig, ja gar unmöglich sie mir damals erschien, dann wäre ich vielleicht nicht alleine auf Reisen gegangen, sondern mit dem Mann, den ich liebte. Und mit ihm hätte ich ein Land entdeckt, das ich bisher nie gesehen habe.« Sie sah mich an und lächelte. »Zoe, ich denke, du verstehst, dass ich nicht die Reisen in andere Länder meine, sondern die Reise in die wunderbare Welt der Liebe.«
»Was ist aus diesem Mann geworden, Holly?«, fragte ich leise.
»Inzwischen ist er dort, wohin mich meine letzte Reise führen wird.«
Ich schluckte.
»Ich wünsche euch sehr, dass ihr beide euch dort finden werdet.«
»Das werden wir ganz bestimmt.«
Sie lächelte.
Eine Weile lang sagte keine von uns etwas.
»Du denkst also, dass es reicht, wenn ich ihm sage, dass ich ihn liebe?«, fragte ich schließlich.
»Tust du es denn?«
»Ja«, antwortete ich. »Auch wenn ich ein klein wenig stinkig auf ihn bin, dass er sich einfach so davongemacht hat.«
»Je mehr uns nahestehende Menschen mit ihren Handlungen verwirren, desto wichtigere Gründe gibt es meist für das Verhalten. Was du mir über ihn erzählt hast, lässt nicht darauf schließen, dass er ein Idiot ist.«
Ich nickte.
»Eigentlich nicht.«
Plötzlich griff ich nach meinem Handy und ohne noch weiter darüber nachzudenken, nahm ich eine Sprachnachricht für Hendrik auf und schickte sie ihm.
Holly nickte und lächelte.
»Das hast du gut gemacht.«
»Ich hoffe es … Sollen wir dann langsam aufbrechen?«
»Ja, aber lass uns noch den Moment festhalten und ein Selfie machen.«
Wir stellten uns vor das Wasser und rückten mit den Köpfen ganz nah zusammen. Holly hob das Handy, und wir lächelten in die Kamera.
Der Abschied am nächsten Tag fiel mir schwer.
»Kann ich denn wirklich nichts für dich tun, Holly?«, fragte ich, als wir am Bahnsteig standen und auf den Zug nach München warteten. Die nächste Etappe ihrer Reise.
»Doch. Du kannst meine Beiträge auf meinem Blog verfolgen und sie auf Instagram liken, damit ich immer weiß, dass du sie gelesen hast.«
Sie musste es nicht aussprechen. Wenn es keine neuen Reisetipps mehr von ihr gab, dann war ihre Zeit gekommen.
»Natürlich werde ich das!«, versprach ich mit heiserer Stimme.
Ich umarmte sie und drückte sie an mich, so fest es mit meiner Kugel ging.
»Hey, noch ist es nicht so weit. Ich bin mir sicher, dass ich noch einige besondere Abenteuer erleben werde … Und natürlich würde ich mich über ein Foto von deinem Baby freuen, wenn es da ist.«
»Kriegst du auf jeden Fall.«
Der Zug fuhr ein.
»Alles Gute, Holly.«
»Alles Gute, Zoe.«
Wir sahen uns noch mal in die Augen und nickten uns zu. Dann nahm sie ihr Gepäck und stieg in den Waggon.
Ich wartete nicht, bis der Zug abfuhr, sondern drehte mich um und ging nach Hause.