Eine Torte für Jenny und Hendrik
Obwohl der 12. Januar auf einen Wochentag fiel, war die Praxis heute geschlossen. Wir würden am Nachmittag nicht nur Hendriks Geburtstag feiern, sondern warteten vor allem schon freudig auf die Ankunft von Jenny, die in knapp zwei Stunden in München landen würde. Ben und Ilona hatten angeboten, sie dort abzuholen, und waren bereits unterwegs. Da es schon seit dem frühen Morgen schneite, hatten sie für die Fahrt mehr Zeit eingeplant, um auf jeden Fall rechtzeitig am Flughafen zu sein.
Bei uns gab es ein Familienfrühstück im Bett. Zumindest für die Jungs. Sebastian nuckelte gemütlich an meiner Brust, während Tommy mit Hilfe von Hendrik einen Frühstücksbrei futterte, auf den der Kleine ganz versessen war.
Wir alle hatten von der ersten Minute an unser Bestes gegeben, ihm die Umstellung so leicht wie möglich zu machen, trotzdem hatte es in den ersten Tagen einige Anlaufschwierigkeiten gegeben, die jedoch völlig verständlich waren. Die Welt, in die Tommy gekommen war, unterschied sich komplett von der Welt, die er bisher gewohnt war. Andere Menschen, ein anderes Klima, anderes Essen, Düfte und Geräusche. Anfangs durfte Hendrik kaum aus dem Zimmer gehen. Sobald Tommy ihn nicht mehr sah, wurde er unruhig oder weinte, und nur Hendrik konnte ihn dann beruhigen. Um es ihm so einfach wie möglich zu machen, hatten wir sein Kinderbett zu uns ins Schlafzimmer direkt an unser Bett gestellt. Doch meistens nahmen wir ihn inzwischen zu uns in die Mitte. Es dauerte zwar oft lange, bis er einschlief, aber dann schlief er tief und fest und wurde meistens noch nicht einmal wach, wenn Sebastian sich meldete.
Mir war es vom ersten Moment an nicht schwergefallen, den kleinen Kerl ins Herz zu schließen, und inzwischen hatte Tommy sich auch an mich gewöhnt und Zutrauen gefasst. Manchmal war es ein Balanceakt, aber ich versuchte, ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er für mich genauso wichtig war wie das Baby.
Sebastian war inzwischen satt. Während ich darauf wartete, dass er ein Bäuerchen machte, hatte Tommy seinen Brei aufgegessen und griff nach seiner Holzschildkröte, um mit ihr zu spielen.
»Im letzten Jahr hätte ich mir im Leben nicht vorstellen können, dass ich nur ein Jahr später an meinem Geburtstag mit meiner Frau und meinen zwei Söhnen im Bett sitzen würde«, sagte er mit amüsiertem Blick zu mir.
»Ich habe mich auch höchstens – und das mit ganz viel Glück – als alleinerziehende Mutter eines Kindes gesehen. Mit Männern hatte ich zu dieser Zeit völlig abgeschlossen.«
»Und jetzt hast du zwei Jungs und einen Ehemann.« Er lachte. »So schnell kann sich das Leben drehen! Und auch wenn wir beide vom Schlafmangel Augenringe haben, groß wie Wagenräder, und es immer noch in den Sternen steht, wann wir unsere verpasste Hochzeitsnacht nachholen können, möchte ich keine Sekunde missen.«
»Ich auch nicht … Apropos Hochzeitsnacht. Schau mal in deine Nachttischschublade, da ist ein Geschenk für dich.«
»Ein Geschenk? Hey, wir hatten doch ausgemacht, uns gegenseitig nichts zu schenken«, warf er ein.
»Schau doch einfach mal nach«, sagte ich und lächelte.
Er griff in die Schublade und holte ein längliches Päckchen heraus. Neugierig zog er die rote Schleife ab.
»Ich kann dir schon mal verraten, das werde ich in unserer Hochzeitsnacht tragen«, flüsterte ich.
»Okay … Jetzt bin ich aber gespannt.«
Langsam hob er den Deckel und schaute dann etwas verwirrt.
»Da ist ja nichts drin«, sagte er verdutzt.
»Eben. Und genau das werde ich tragen«, murmelte ich mit einem eindeutigen Zwinkern.
»Ach Zoe …«, sagte er und grinste.
Er beugte sich zu mir, um mich zu küssen. Doch da entdeckte ich etwas in seinen Haaren.
»Sag mal, ist das Schokobrei oder …«, ich sprach nicht weiter und wich zurück.
Hendrik fasste sich vorsichtig an den Kopf.
»Wo?«
»Ein wenig links!«
»Ah, da!«
Er schaute auf seinen Finger, schnupperte vorsichtig.
»Entwarnung, das ist tatsächlich Schokobrei!«, sagte er erleichtert und griff nach einem Papiertaschentuch, um sich abzuwischen. In diesem Moment gab Sebastian einen lauten Rülpser von sich, und wir mussten lachen. Auch Tommy fand das äußerst lustig und begann, übermütig im Bett auf und ab zu hüpfen. Hendrik packte ihn und hob ihn in die Luft.
»Du bist jetzt ein kleiner Flieger!«, sagte er, und der Junge konnte gar nicht genug bekommen.
Vorsichtig legte ich Sebastian in die Wiege.
»Kann ich schnell duschen gehen?«
»Klar …«
Ich holte frische Sachen aus dem Kleiderschrank und ging ins Badezimmer. Nach einer raschen Dusche löste ich Hendrik ab. Sebastian war inzwischen frisch gewickelt zufrieden wieder eingeschlafen.
»Komm Tommy, wir machen Frühstück für Papi!«, sagte ich und ging mit ihm in die Küche.
Während ich den Tisch deckte, saß Tommy auf seiner Spieldecke und beschäftigte sich mit einem Spielzeugauto.
Es klingelte an der Haustür. Anna, Mina und Emma kamen, die natürlich unbedingt bei der Ankunft von Jenny dabei sein wollten. Als Tommy Mina sah, blitzten seine dunklen Augen vor Freude auf, und er rannte ihr strahlend entgegen. An Mina hatte er von der ersten Sekunde an einen Narren gefressen. Und so war Annas Mutter inzwischen öfter bei uns als meine Freundinnen. Wenn Hendrik in der Praxis war, sprang sie als Babysitter ein und unterstützte mich, bis bei uns hoffentlich bald eine Art Routine eingekehrt war. Wobei ich mich fragte, ob das in den nächsten 18 Jahren jemals der Fall sein würde.
»Mein Tommy-Schatz!«, rief sie nun, als er ihre Hand packte und sie zur Spieldecke zog. »Ich komme ja schon!«
»Mutter blüht regelrecht auf, wenn sie mit Tommy zusammen ist«, sagte Anna.
»Ja. Die beiden sind echt ein cooles Team!«, sagte Emma, die eine große Schachtel trug.
»Was ist das denn?«, fragte ich.
»Unsere Torte. Für Jenny und Hendrik«, sagte sie. »Aber die gibt es erst, wenn Jenny auch hier ist. Sie sollte inzwischen in den Kühlschrank.«
»Ich glaube, da ist kein Platz mehr. Stell sie besser auf die Terrasse!«
»Okay«, sagte Emma und verschwand nach draußen.
»Und? Bist du schon ein wenig aufgeregt, wegen Jenny?«, fragte Anna.
»Klar. Vor allem hoffe ich, dass sie sich hier bei uns wohlfühlen wird.«
»Bestimmt wird sie das! Entspann dich mal. Es wird ihr sicher bei euch gefallen. Und wir sind ja auch noch alle da. Ihr wird gar nichts anderes übrigbleiben, als gern hier zu sein!«
»Du hast recht. Danke! Für alles! Ohne euch würde ich das echt nicht schaffen.«
Ich umarmte sie kurz.
»Aber dafür sind wir doch da!«
Hendrik kam herein, seine Haare noch feucht vom Duschen.
Anna und Mina gratulierten ihm, und auch Emma, die gerade wieder hereinkam.
»Kaffee ist gleich fertig«, sagte ich zu Hendrik, während ich am Kaffeeautomaten hantierte.
»Den Kaffee nehme ich. Für euch haben wir eine andere Idee!«, meinte Anna und grinste ihre Mutter und Emma verschwörerisch an. Mina nickte ihr zu, und Emma zwinkerte.
»Wir haben lange überlegt, was wir dir zum Geburtstag schenken könnten, Hendrik«, sagte Anna.
»Ihr braucht mir doch wirklich nichts …«, begann Hendrik, doch Anna unterbrach ihn.
»Eigentlich habt ihr ja schon alles. Aber was ihr zwei kaum habt, ist Zeit für euch beide. Deswegen haben wir in dem kleinen neuen Café am See einen Tisch im Wintergarten für euch reserviert. Dort kannst du mit Zoe in Ruhe ein Geburtstagsfrühstück genießen, welches natürlich auf unsere Kosten geht – und wir drei passen inzwischen auf die Jungs auf.«
Hendrik sah sie überrascht an.
»Echt? Jetzt? Zoe und ich ganz alleine?«
»Ganz alleine.«
»Aber Jenny kommt doch bald …«, begann ich.
»Jenny kommt frühestens in zweieinhalb Stunden, bei dem Schneefall wohl eher später. Ihr habt also ausreichend Zeit. Wir kümmern uns hier um alles.«
»Na jetzt macht schon!«, sagte Mina und scheuchte uns fast aus dem Haus.
Es war herrlich, in dem kleinen Café zu sitzen, mit Blick auf die verschneite Landschaft am See, und zu wissen, dass die Kinder gut aufgehoben waren.
»Das ist echt ein super Geburtstagsgeschenk«, sagte Hendrik und nahm einen Schluck Kaffee, bevor er in ein Croissant biss.
»Für mich auch …«
In diesem Moment kam eine Nachricht von Ben.
»Ben schreibt, dass die Maschine im Landeanflug ist.«
Hendrik sah auf die Uhr.
»Ich bestelle mir noch eine Tasse Kaffee, und dann fahren wir nach Hause. Möchtest du noch Tee?«
»Nein, danke«, winkte ich ab und griff noch mal nach dem Handy. Mehrmals am Tag schaute ich auf Hollys Instagram-Account und hoffte, wieder einen Beitrag von ihr zu sehen. Das letzte Mal hatte sie an Silvester ein Foto gepostet. Und zwar das Selfie, das wir von uns beiden auf der Fraueninsel gemacht hatten. Dazu hatte sie nur geschrieben: Gutes neues Jahr euch allen! Ich freue mich auf die nächste Reise.
Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, so interpretierte ich das als ihren besonderen Abschiedsgruß an mich. Ich seufzte.
Hendrik griff nach meiner Hand. Er wusste, was mich beschäftigte.
»Schade, dass du Holly nicht persönlich kennengelernt hast«, sagte ich.
»Die Bilder und Berichte auf ihrem Blog haben mir viel über diese Frau erzählt. Jedenfalls bin ich ihr sehr dankbar, dass sie dich motiviert hat, mir diese Sprachnachricht zu schicken. Sie hat sicherlich einen Anteil daran, dass wir beide jetzt zusammen sind.«
»Ja … das hat sie. Und deswegen wird sie auf eine besondere Art immer ein wenig zu unserer Familie gehören.«
»Patchwork der besonderen Art«, sagte Hendrik.
»Ja, das können wir!«
Wir waren längst wieder zurück zu Hause und warteten ungeduldig auf die Ankunft von Jenny, die sich wegen des starken Schneefalls weiter verzögerte. Anna und Emma hatten im Wohnzimmer bereits alles für die kleine Willkommensfeier vorbereitet.
»Sie kommen!«, rief Emma, die am Fenster stand.
Mein Herz klopfte plötzlich schneller. Ich reichte Anna das Baby und ging hinaus.
Ben öffnete gerade die hintere Tür des Wagens und half Jenny beim Aussteigen, während Ilona eine Reisetasche und die Krücken aus dem Kofferraum holte.
»Hallo Zoe!«, rief Jenny mir mit einem breiten Grinsen zu. Sie trug eine für die Temperaturen viel zu dünne Jacke und hatte ein oranges Tuch um den Kopf geschlungen. Wir würden schleunigst wärmere Sachen für sie besorgen müssen.
»Hallo Jenny! Kommt schnell ins Haus!«, rief ich.
Da es mit den Krücken auf dem rutschigen Boden zu gefährlich war, hob Ben die junge Frau einfach hoch und trug sie ins Haus. Er machte das auf so eine lässige Weise, dass es für Jenny offenbar völlig okay war. Vorsichtig stellte er sie im Flur ab, und Ilona reichte ihr die Krücken. Und jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich umarmte sie und drückte sie an mich!
»Herzlich willkommen bei uns, Jenny!«, sagte ich und löste mich dann wieder von ihr.
»Vielen Dank, dass ich hier sein darf!«, sagte sie langsam auf deutsch. »Ich freue mich sehr!« Inzwischen hatte sie unsere Sprache schon so gut gelernt, dass sogar eine einfache Unterhaltung möglich war. Trotzdem würden wir uns anfangs hauptsächlich auf Englisch verständigen, um es Jenny leichter zu machen.
»Wir freuen uns sehr, dass du da bist!«
Ich half ihr, die Jacke auszuziehen, und dann gingen wir zu den anderen ins Wohnzimmer.
»Das sind mein Ehemann Hendrik, meine Freundin Anna, ihre Mutter Mina und Emma, ihre Tochter«, stellte ich sie vor, und alle begrüßten sie herzlich. »Und das sind unsere Söhne Tommy und Sebastian.«
Tommy sah das dunkelhäutige Mädchen neugierig an, das ihn vermutlich an die Menschen in seiner Heimat erinnerte.
»Hallo, Tommy«, begrüßte Jenny ihn fröhlich, und er kam langsam auf sie zu. Schon wenige Minuten später saß sie mit ihm am Tisch und baute einen Turm aus bunten Holzklötzen.
»Die Reise war sicher sehr anstrengend. Möchtest du dich ein wenig ausruhen?«, fragte ich Jenny.
»Der Flug war toll, und ich bin überhaupt nicht müde.«
»Das freut mich. Hast du schon Hunger?«
»Nicht viel.«
»Ich finde, es ist jetzt Zeit für die Torte!«, sagte Mina.
»Unbedingt!«, meinte Ilona.
»Ich hole sie«, bot Emma an.
»Und ich mach Kaffee und Tee!«, sagte Ben.
»Danke. Ich verpasse dem kleinen Kerl hier mal eine frische Windel!«, erklärte ich.
»Warte, ich komme mit«, sagte Ilona und folgte mir ins Badezimmer, wo die Wickelkommode stand.
»Darf ich den kleinen Herrn Petrides wickeln?«, fragte Ilona.
Ich grinste, weil sie ihn immer noch so nannte.
»Klar!«
Gleich darauf öffnete sich die Tür, auch Anna kam herein.
»Braucht ihr meine Hilfe?«, fragte sie.
»Wir schaffen es alleine, aber du kannst uns gerne Gesellschaft leisten!«, sagte ich.
»Genau das war mein Plan!«, meinte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
»Gut, dass es jetzt so viele Babysitter für die Jungs gibt!«, sagte Ilona, während sie den Strampler öffnete. »Dann können wir hoffentlich bald mal wieder ins Dolce Vita gehen.«
»Ja, es ist wirklich mal wieder dringend an der Zeit!«, sagte ich.
»Ich organisiere alles für nächste Woche, okay?«, bot Anna an.
»Okay!«, sagten Ilona und ich gleichzeitig.
Wenig später saßen wir alle am Tisch, und Jenny und Hendrik durften gemeinsam die Torte anschneiden. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, die mich fast ein wenig an den Tag mit Jennys Familie auf den Kapverden erinnerte. Ich hatte Mama Blanca versprochen, ihr Bescheid zu geben, wenn Jenny bei uns angekommen war. Sie wartete bei Donny darauf, dass wir uns meldeten. Und so holten wir sie per Videochat zu unserer kleinen Runde dazu. Jenny beteuerte ihr, dass sie die Reise bestens überstanden hatte und es ihr gut ginge. Dann fungierte sie wieder als Übersetzerin.
Wir versprachen noch mal alle, dass wir gut auf Jenny aufpassen würden.
»Ich habe es damals schon geahnt, dass du eine wichtige Rolle im Leben meiner Enkelin spielen würdest!«, sagte sie mit einem Lächeln.
Genau das hatte ich auch gespürt. Seit dieser Begegnung hatte sich auch mein Leben auf unglaubliche Weise verändert. Ich schaute zu Hendrik, der genau in diesem Moment ebenfalls meinen Blick suchte. Und das Strahlen in seinen Augen spiegelte mein Glück wider.