Ob viele Winter noch, ob gewährt hat Jupiter schon den letzten,

der jetzt an widerstrebenden Klippen bricht das Meer

Tyrrhenias – weise sei, kläre den Wein, auf kurze Dauer

lang währende Hoffnung bemiß! (I, 11)

Wir sind von dem uns vertrauten Bild der Zeit ausgegangen: Etwas, das gleichförmig und überall im Universum einheitlich abläuft, in dessen Verlauf sich alle Dinge ereignen. Es gibt im ganzen Kosmos eine Gegenwart, ein «Jetzt», das die Realität ist. Die Vergangenheit ist fix, geschehen und für alle dasselbe, die Zukunft offen und noch unbestimmt. Die Realität verläuft von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Mit Blick auf Vergangenheit und Zukunft verläuft die Entwicklung der Dinge realerweise asymmetrisch. Dies, so dachten wir, sei die Grundstruktur der Welt.

Dieses vertraute Bild ist zerbröckelt, hat sich als reine Näherung einer Näherung an eine komplexere Realität erwiesen.

Eine dem gesamten Universum gemeinsame Gegenwart gibt es nicht (Kapitel 3). Die Ereignisse sind nicht alle in vergangene, gegenwärtige und zukünftige gegliedert: Sie sind nur «teilweise» geordnet. Es gibt eine Gegenwart in unserer Nähe, aber nichts dergleichen auf einem fernen Planeten. Gegenwart bezieht sich als Begriff aufs Lokale, nicht aufs Globale.

Der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft ist in den elementaren Gleichungen, welche die Ereignisse der Welt regieren, nicht enthalten (Kapitel 2). Er entspringt allein

Vor Ort vergeht die Zeit in unterschiedlichem Tempo, je nachdem, wo wir uns befinden und mit welcher Geschwindigkeit wir uns bewegen. Je näher wir einer Masse sind (Kapitel 1) oder je schneller wir reisen (Kapitel 3), desto stärker wird der Ablauf der Zeit gebremst: Es gibt keine einheitliche Dauer zwischen zwei Ereignissen, sondern viele mögliche.

Die Geschwindigkeiten, mit denen die Zeit zerrinnt, werden vom Gravitationsfeld bestimmt, das eine reale Entität darstellt und seine eigene, von Einsteins Gleichungen beschriebene Dynamik hat. Wenn wir Quanteneffekte vernachlässigen, sind Raum und Zeit Aspekte einer gewaltigen beweglichen Gelatine, in die wir eingebacken sind (Kapitel 4).

Aber die Welt ist gequantelt und die Gelatine der Raumzeit ebenfalls eine Näherung. In der elementaren Grammatik der Welt gibt es weder Raum noch Zeit: nur Prozesse, die physikalische Größen in andere verwandeln, deren Wahrscheinlichkeiten und Beziehungen wir berechnen können (Kapitel 5).

Auf der grundlegendsten Ebene, die wir heute kennen, gibt es somit wenig, was der Zeit aus unserer Erfahrungswelt ähnelt. Es gibt keine spezielle Variable «Zeit», keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft und keine Raumzeit (zweiter Teil). Dennoch können wir Gleichungen aufstellen, welche die Welt beschreiben. In ihnen entwickeln sich die Variablen in Beziehung zueinander (Kapitel 8). Es gibt keine «statische» Welt, auch kein «Blockuniversum», in dem Veränderung illusorisch wäre (Kapitel 7): Die Welt ist im Gegenteil eine der Geschehnisse, nicht der Dinge (Kapitel 6).

Dies war die Hinreise zu einem Universum ohne Zeit.

Vielleicht gehören wir einer besonderen Untermenge der Welt an, die mit dem Rest so interagiert, dass diese Entropie in einer Richtung unserer thermodynamischen Zeit niedrig ist. Die Ausrichtung der Zeit ist folglich real, aber perspektivisch bedingt (Kapitel 10): Die Entropie der Welt, bezogen auf uns, nimmt mit unserer thermodynamischen Zeit zu. Wir sehen ein Geschehen von Dingen, das nach der Variablen geordnet ist, die wir schlicht «Zeit» nennen. Und die Zunahme der Entropie macht für uns den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft aus und steuert die Entfaltung des Kosmos. Sie bestimmt die Existenz von Spuren, Überbleibseln und Erinnerungen an die Vergangenheit (Kapitel 11). Wir menschlichen Kreaturen sind eine Auswirkung dieser großen Geschichte des Wachstums der Entropie, zusammengehalten von Gedächtnisleistungen, die diese Spuren ermöglichen. Jeder von uns ist einzigartig, weil er die Welt reflektiert, weil wir uns in der Interaktion mit unseresgleichen ein Bild von einzigartigen Entitäten geschaffen haben und weil dieses Bild eine vom Gedächtnis vereinheitlichte Perspektive auf die Welt

Die Variable «Zeit» ist eine von vielen, welche die Welt beschreiben. Sie ist eine der Variablen des Gravitationsfeldes (Kapitel 4): Weil wir auf unserer Skala die Quantenfluktuationen nicht wahrnehmen (Kapitel 5), können wir sie uns als determiniert denken: als die Molluske Einsteins. Auf unserer Skala fallen die Zuckungen der Molluske so gering aus, dass wir sie vernachlässigen können. Wir können sie somit als einen starren Tisch denken. Dieser Tisch hat Richtungen, die wir Raum nennen, und die Richtung, entlang der die Entropie wächst, nennen wir Zeit. Verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit, bewegen wir uns im Alltagsleben träge voran, weshalb wir die Unterschiede zwischen den Eigenzeiten verschiedener Uhren nicht wahrnehmen. Auch sind die Unterschiede in den Geschwindigkeiten, mit denen die Zeit in differenten Entfernungen zu Massen vergeht, zu klein, als dass wir sie unterscheiden könnten.

Am Ende können wir somit anstatt von vielen möglichen Zeiten nur von einer einzigen reden: von derjenigen unserer Erfahrung: gleichförmig, universell, geordnet. Dies ist die Näherung einer Näherung einer Näherung einer Beschreibung der Welt, geschaffen aus der besonderen Perspektive von uns Kreaturen, die wir uns am Wachstum der Entropie nähren und die wir im Ablauf der Zeit verankert sind. Und für die es, wie es in Kohelet heißt, «eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben»[128] gibt.

Das ist die Zeit für uns: ein geschichtetes, komplexes Konzept mit vielfältigen unterschiedlichen Eigenschaften, die sich aus verschiedenen Näherungen ergeben.

Viele Diskussionen über den Zeitbegriff sind nur deshalb konfus, weil dessen komplizierter und vielschichtiger Aspekt

So verstehe ich die physikalische Struktur der Zeit, nachdem ich mich ein Leben lang mit ihr befasst habe.

Viele Aspekte dieser Sichtweise sind solide, andere plausibel und wieder andere gewagte Versuche, zu einem Verständnis des Gegenstands zu gelangen.

Durch zahllose Experimente abgesichert sind praktisch sämtliche Phänomene, die im ersten Teil des Buchs dargelegt wurden: die Beschleunigung des Zeitablaufs in der Höhe und seine Verlangsamung bei höherer Geschwindigkeit, die Nichtexistenz von Gegenwart, die Beziehung zwischen Zeit und Gravitationsfeld, die Tatsache, dass die Beziehungen zwischen verschiedenen Zeiten dynamisch sind, dass die Grundgleichungen keine Richtung der Zeit kennen, die Beziehung zwischen Entropie und der Richtung der Zeit und dass zwischen Entropie und Unschärfe eine Beziehung besteht. All dies ist gut abgesichert.[129]

Dass das Gravitationsfeld Quanteneigenschaften aufweist, ist eine allgemein geteilte Überzeugung in der Physik, auch wenn sie bislang allein durch theoretische Argumente und nicht durch Nachweise anhand von Experimenten gestützt wird.

Plausibel ist das Fehlen der Variablen Zeit in den Grundgleichungen, das ich im zweiten Teil dieses Buchs erörtert habe, auch wenn um die Form dieser Gleichungen eine Debatte entbrannt ist. Der Ursprung der Zeit in der Nicht-Kommutativität der Quanten, die thermodynamische Zeit und die Tatsache, dass die beobachtete Zunahme der Entropie von unserer Interaktion mit dem Universum abhängt, sind Ideen, die mich faszinieren, aber alles andere als gesichert sind.

Das Geheimnis der Zeit beunruhigt uns seit jeher und weckt tief verwurzelte Gefühle. Sie liegen so tief, dass sich aus ihnen Philosophien und Religionen speisen.

Parmenides (um 520/515–um 460/455 v. Chr.) wollte der Zeit die Realität absprechen, Platon (428/427–348/347 v. Chr.) ersann ein Reich der Ideen außerhalb der Zeit. Und Hegel (1770–1831) spricht von dem Augenblick, in dem der Geist die Zeitlichkeit überwindet. Mit Hans Reichenbach (1891–1953) in The Direction of Time, einem der scharfsinnigsten Werke über das Wesen der Zeit, bin ich überzeugt, dass diese Denker die Verunsicherung zu überwinden trachteten, welche die Zeit in uns auslöst. Um dieses beunruhigende Gefühl abzuschütteln, haben wir die Existenz der «Ewigkeit» ersonnen, eine seltsame Welt außerhalb der Zeit, nach unseren Wünschen bevölkert mit Göttern, einem einzigen Gott oder unsterblichen Seelen.[*] Unsere zutiefst emotionale Haltung gegenüber

Die Physik hilft uns, Schicht um Schicht in das Geheimnis vorzudringen. Sie zeigt, inwieweit sich die Zeitstruktur der Welt von der unserer intuitiven Vorstellung unterscheidet. Sie gibt uns Hoffnung, ins Wesen der Zeit vorzustoßen, wenn wir uns vom Nebel unserer Emotionen befreien.

Aber auf der Suche nach der Zeit, die in immer weitere Ferne rückte, haben wir am Ende vielleicht etwas von uns selbst gefunden, so wie Kopernikus, der die Bewegungen der Himmelssphären zu untersuchen meinte und am Ende erkannte, wie sich die Erde unter seinen Füßen bewegt. Am Ende sind die Gefühle, die das Phänomen Zeit in uns auslöst, vielleicht doch nicht die Nebelwand, die uns daran hindert, das objektive Wesen der Zeit zu erkennen.

Vielleicht ist die emotionale Haltung gegenüber der Zeit genau das, was für uns die Zeit ausmacht.

Ich glaube nicht, dass es sehr viel mehr zu verstehen gibt. Wir können uns weitere Fragen stellen, müssen aber darauf achten, dass sie sich gut formulieren lassen. Wenn wir auf

Werden wir zu einem besseren Verständnis gelangen? Ich glaube schon. Unser Verständnis von der Natur hat sich im Verlauf der Jahrhunderte in schwindelerregendem Tempo erweitert. Und wir lernen immer weiter. Aber etwas erahnen wir am Mysterium der Zeit. Wir können die Welt ohne Zeit sehen, uns vor unserem geistigen Auge die Tiefenstruktur vorstellen, in der die uns bekannte Zeit nicht mehr existiert, so wie in Paul McCartneys Song der Narr auf dem Berg die sich drehende Erde sieht, während er den Sonnenuntergang betrachtet. Und allmählich begreifen wir, dass wir die Zeit sind. Wir sind dieser Raum, diese offene Lichtung der Spuren der Erinnerung in den Verschaltungen unseres Nervensystems. Wir sind Erinnerung, Sehnsucht, Erwartung einer Zukunft, die nicht kommt. Dieser Raum, der in seiner Offenheit aus der Erinnerung und der Vorwegnahme stammt, ist jene Zeit, die uns bisweilen ängstigt, aber letztlich doch ein Geschenk ist.

Ein kostbares Wunder, das uns das unendliche Spiel der Kombinationen eröffnet hat. Indem es uns das Sein ermöglichte. Wir können lächeln, können wieder heiter in die Zeit eintauchen, in unsere, die endliche Zeit, um die klar spürbare Intensität jedes flüchtigen und kostbaren Augenblicks dieses kurzen Kreislaufs auszukosten.