Bleicher Tod pocht gleichen Fußes an der Armen Hütten

wie an der Herrscher Burgen: O glücklicher Sestius,

Lebens Spanne, zu kurz, verwehrt und langwährende Hoffnung zu hegen.

Bald schon wird dich bedrängen die Nacht […] (I, 4)

Im dritten Buch des großen indischen Epos Mahabharata fragt der mächtige Geist Yaksha den ältesten der fünf Pandava-Brüder, Yudhishthira, welches das größte Mysterium sei. Die Antwort hallt Jahrtausende nach: «Jeden Tag sterben zahllose Menschen, und doch leben diejenigen, die am Leben bleiben, als wären sie unsterblich.»[130]

Ich möchte nicht leben, als sei ich unsterblich. Der Tod macht mir keine Angst. Ich fürchte mich vor dem Leiden. Und vor dem Alter, allerdings inzwischen weniger, wenn ich das schöne heitere Alter meines Vaters betrachte. Ich habe Angst vor Schwäche, vor fehlender Liebe. Aber nicht vor dem Tod. Er hat mich schon als Kind nicht erschreckt, was ich damals darauf zurückführte, dass er so weit weg schien. Jetzt, mit um die sechzig, hat sich die Angst immer noch nicht eingestellt. Ich liebe das Leben, selbst wenn es Mühen, Leiden und Schmerzen mit sich bringt. An den Tod denke ich als eine wohlverdiente Ruhe. Bach bezeichnet ihn in seiner herrlichen Kantate BWV 56 als «Schlafes Bruder». Ein freundlicher Bruder, der bald kommen wird, um meine Augen zu schließen und mir über den Kopf zu streichen.

Hiob starb, als er «an Lebenstagen satt» war – eine wunderschöne Formulierung (Hiob 42,17). Auch ich möchte an

Die Angst vor dem Tod erscheint mir als eine Fehlentwicklung der Evolution: Viele Tiere zeigen eine Schreck- und Fluchtreaktion, wenn ein Räuber naht. Eine gesunde Reaktion, die es ihnen ermöglicht, Gefahren zu entrinnen. Aber dieser Schreck währt immer nur kurz. Dieselbe Selektion hat diese unbehaarten großen Affen mit riesenwüchsigen Frontallappen hervorgebracht, ausgestattet mit der übertriebenen Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen. Hilfreich beim Überleben, hält uns dieses Privileg allerdings auch den Spiegel des unausweichlichen Todes vor. Und diese Zukunftsaussicht löst denselben Schreck- und Fluchtinstinkt aus wie der Anblick jenes Raubtieres. Kurzum: Ich meine, dass die Angst vor dem Tod ein zufälliges und unsinniges Störfeuer ist, entstanden aus einem Selektionsdruck, der in zwei verschiedene Richtungen gewirkt hat: das Ergebnis schlechter Verschaltungen in unserem Gehirn, die für Automatismen sorgen, ohne dass

Das ist die rationale Deutung. Aber im Leben geben uns nicht die rationalen Argumente den Antrieb. Der Verstand dient dazu, sich Klarheit zu verschaffen, Irrtümer aufzuspüren. Aber eben er zeigt uns, dass die Motive, aus denen wir handeln, unserer inneren Struktur als Säugetiere, Jäger und soziale Wesen eingeschrieben sind: Der Verstand erhellt diese Verbindungen, bringt sie aber nicht hervor. Rationale Wesen sind wir nicht an erster Stelle, sondern können es, mehr oder weniger, vielleicht an zweiter werden. In erster Instanz treiben uns Lebenslust, Hunger, Liebesdurst und das Bedürfnis um, in der menschlichen Gesellschaft unseren Platz zu finden … Und ohne die erste gibt es die zweite Instanz erst gar nicht. Der Verstand richtet zwischen Instinkten, nutzt aber selbst die Instinkte als oberste Kriterien für seinen Richterspruch. Er gibt den Dingen und dem Durst Namen, ermöglicht es uns, Hindernisse zu vermeiden und Verborgenes zu sehen, versetzt uns in die Lage, unwirksame Strategien, irrige Überzeugungen und Vorurteile zu erkennen, die wir unzählig mit uns herumtragen. Er hat sich herausgebildet, um uns zur Einsicht zu verhelfen, dass die Spuren, die uns auf der Pirsch scheinbar zu den Antilopen leiten, in die Irre führen. Aber was er uns bringt, ist nicht das Nachdenken über das Leben, sondern letztlich Leben.

Was also bringt er uns wirklich? Schwer zu sagen. Vielleicht wissen wir es gar nicht. Wir erkennen in uns Antriebe,

Woher kommt all dies? Daraus, wie und was wir sind. Produkte einer langen Selektion, bestehend aus chemischen, biologischen, sozialen und kulturellen Strukturen, die auf unterschiedlichen Ebenen lange Zeit miteinander in Wechselwirkung standen und diese ulkigen Prozesse hervorbrachten, die uns Menschen ausmachen. Von denen wir in der Reflexion über uns selbst, beim Blick in den Spiegel, nur wenig verstehen. Wir sind komplexer, als unsere geistigen Fähigkeiten fassen können. Die gewaltige Hypertrophie unserer Stirnlappen hat es uns ermöglicht, zum Mond zu reisen, Schwarze Löcher zu entdecken und uns als ganz entfernte Verwandte der Marienkäfer zu erkennen. Aber noch reicht sie nicht hin, damit wir uns selbst erkennen.

Die ureigene Bedeutung von «verstehen» ist uns noch nicht klar. Wir sehen die Welt, beschreiben sie und bringen sie in eine Ordnung. Wenig wissen wir von der vollständigen Beziehung zwischen dem, was wir von der Welt wahrnehmen, und von der Welt selbst. Dass unser Blick nicht sehr weit reicht, wissen wir sehr wohl. Vom weiten, von Objekten emittierten elektromagnetischen Spektrum sehen wird nur einen kleinen Ausschnitt. Die Atomstruktur der Materie wie auch die Krümmung des Raums bleibt unseren Augen

Aber unser Denken ist nicht nur Opfer der eigenen Schwäche, sondern mehr noch der eigenen Grammatik. Wenige Jahrhunderte genügen, damit sich die Welt verändert: Einst von Dämonen, Engeln und Hexen bevölkert, füllt sie sich jetzt mit Atomen und elektromagnetischen Wellen. Wenige Gramm Pilze genügen, damit sich vor unseren Augen die gesamte Realität auflöst und auf verblüffende Weise neuorganisiert. Man muss sich nur wenige Wochen lang bemüht haben, zu einer Freundin durchzudringen, die einen schizophrenen Schub erlitten hat, um zu erkennen, dass der Wahn eine Theatermaschinerie ist, welche die Welt auf ganz neue Weise strukturieren kann. Und nur schwer lassen sich Argumente finden, um ihn von den kollektiven Wahnvorstellungen zu unterscheiden, auf denen unser soziales und spirituelles Leben sowie unser Weltverständnis beruht – abgesehen wohl von der Einsamkeit und Verletzlichkeit dessen, der sich von der gemeinsamen Ordnung entfernt …[132] Die Sicht von der Realität ist der kollektive Wahn, den wir organisiert haben. Er hat sich im Verlauf seiner Entwicklung als ausreichend effizient erwiesen, um uns immerhin bis an den gegenwärtigen Punkt zu führen. Von den vielen Instrumenten, die wir entdeckt haben, um ihn zu leiten und im Zaum zu halten, hat sich der Verstand als eines der besten erwiesen. Er ist eine kostbare Gabe.

Aber er ist eben ein Werkzeug, eine Zange, mit der sich

Mir scheint, dass das Leben, dieses kurze Dasein, nur dies ist: das ständige Rufen dieser Emotionen, das uns mit sich reißt, das wir zuweilen in einen Namen für Gott zu kleiden versuchen, in eine politische Überzeugung, in einen Ritus, der uns die Sicherheit gibt, dass alles am Ende in Ordnung ist, eine große gewaltige Liebe. Und der Ruf ist schön. Zuweilen äußert er sich als Schmerz, zuweilen als Gesang.

Gesang ist, wie Augustinus bemerkte, das Bewusstsein von Zeit. Er ist die Zeit, ist wie der vedische Hymnus, der selbst das Erblühen von Zeit ist.[133] Im Benedictus von Beethovens Missa Solemnis entfaltet sich der Gesang der Violine als reine Schönheit, reine Verzweiflung, reines Glück. Gespannt halten wir den Atem an, spüren auf geheimnisvolle Weise, dass hier die Quelle des Sinns, der Urquell der Zeit liegt.

Dann flaut der Gesang ab und verklingt. «Die silberne Schnur zerreißt, die goldene Schale bricht, der Krug [wird] an der Quelle zerschmettert […], das Rad [fällt] zerbrochen in die Grube […], der Staub [fällt] auf die Erde zurück […]»[134] Und so ist es auch gut. Wir dürfen die Augen schließen, ruhen. Dies alles erscheint mir süß und schön. Das ist die Zeit.