Das kleine Waisenhaus mit dem schönen Namen New Hope hatte wahrlich keinen guten Ruf. Jeder mit dem ich darüber gesprochen hatte, riet mir davon ab, die mir angebotene Stelle anzunehmen.
Die Kinder blieben nie lange dort, es war eigentlich nur ein besseres Durchgangslager auf dem Weg zu den Pflegefamilien. Umso wichtiger war es, an dieser Stelle für die Waisen da zu sein und sie aufzufangen.
Der Betreiber Derek Hayes war ein Mann Mitte fünfzig, der besser in eine Bank oder in den Senat gepasst hätte, als in ein Kinderheim, doch er war beim Bewerbungsgespräch sehr freundlich zu mir gewesen. Gut, seine Blicke waren stellenweise ein wenig unprofessionell, aber daran gewöhnte man sich schnell, wenn man als früheres Showgirl die Branche wechselte. Mir war durchaus bewusst, wie ich aussah, immerhin hatte ich damit mein Studium finanziert. Allein das blonde lange Haar, welches ich nicht ein einziges Mal in meinem Leben gefärbt hatte, zog bereits die Blicke der Männer an. Daher nahm ich es ihm nicht übel.
Es gab im Haus Platz für höchstens zehn Kinder, was bedeutete, man konnte den Alltag locker zu zweit bewältigen. Derzeit musste Carol Green, die Hausmutter, das alleine machen, was natürlich zu Lasten der Kinder ging. Das war auch der Hauptgrund, warum ich einfach nicht ablehnen konnte.
Der erste Monat verging wie im Flug. Wenn ich nicht gerade frei hatte, lebte ich mit im Haus. Neben Carol gab es noch Cindy, die sich ebenfalls um die Kinder kümmerte. Wir gingen uns jedoch so gut wie möglich aus dem Weg, da die Chemie zwischen uns so gar nicht passte. Während die Kinder mich bereits nach wenigen Stunden in ihre Herzen geschlossen hatten, fürchteten sie sich vor Cindy.
Zusätzlich zu uns Frauen gab es eine Köchin und drei Wachmänner, die sich regelmäßig ablösten.
Schon in den wenigen Wochen hier hatte ich gut ein Dutzend Kinder kommen und gehen sehen, wobei ich immer öfter den Eindruck hatte, als würden manche von ihnen einfach über Nacht verschwinden. Doch immer, wenn ich Carol verwundert darauf ansprach, erklärte sie mir, ich solle mich um meine Sachen kümmern, ich hätte keine Ahnung, wie der Ablauf hier sei.
Je länger ich hier war, desto mehr nagte dieses unbestimmte Gefühl an mir, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Eines Nachts wurde ich von Gepolter auf dem Flur geweckt und aus Sorge um die Kinder ging ich sofort hinaus, um nachzusehen. Das Bild, welches sich mir dann bot, verursachte mir Übelkeit. Drei Typen, die mir verdächtig nach Gangstern aussahen, standen mit Mr. Hayes auf dem Flur, was bis hierher nicht dramatisch gewesen wäre, wenn einer von ihnen nicht ein kleines schlafendes Mädchen auf dem Arm gehabt hätte. Lilian war gerade erst bei uns angekommen, nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.
Sie war ein wunderschönes achtjähriges Mädchen, dass mich extrem an eine Porzellanpuppe erinnerte.
»Was wird das hier, wenn es fertig ist?«, mischte ich mich in die Szenerie ein.
»Evelyn, geh zurück ins Bett und vergiss, was du gerade gesehen hast«, bemerkte Mr. Hayes von oben herab und endlich fielen die fehlenden Puzzleteile an ihre Stellen.
»Das werde ich ganz sicher nicht. Sie verkaufen diese Kinder, nicht wahr? Ich wusste, hier stimmt etwas nicht, aber das habe ich wirklich nicht von ihnen erwartet«, bemerkte ich, betätigte aber zeitgleich die Schnellwahltaste an meiner Smartwatch, die ich immer trug.
Mein Bruder arbeitete fürs FBI und sein Spezialgebiet war Menschenhandel. Dank ihm wusste ich viel zu viel über dieses Thema und mir war klar, dass ich aus der Sache hier nicht heil rauskommen konnte. Ich musste also darauf vertrauen, dass er begreifen würde, was hier vor sich ging und nach mir suchen würde.
»Blondie, tu, was dein Boss dir sagt und vergiss, was du hier gesehen hast«, grummelte einer der Gorillas.
»Sie wollen also, dass ich einfach dabei zusehe, wie sie ein kleines, unschuldiges Mädchen verschleppen und Gott weiß was mit ihr anstellen? Das glauben Sie doch selbst nicht.«
Keine Ahnung, wo ich den Mut hernahm. Möglicherweise war es das Wissen, dass Noah das Gespräch angenommen hatte und mich hören konnte.
»Du wärst nicht die erste neugierige Erzieherin, die wir kalt machen müssen, überleg dir also lieber gut, was du als Nächstes tust«, knurrte der, den ich insgeheim für den Boss dieser Idioten hielt. Er hatte dunkles Haar, und im Verhältnis dazu extrem helle Augen. Außerdem war er unheimlich gut gebaut und strahlte eine natürliche Dominanz aus, die den beiden anderen Trotteln fehlte. Der dunkle Bart verlieh ihm etwas Verwegenes, dass mich in einer anderen Situation sicher hätte schwach werden lassen. Dummerweise war er im Augenblick der Feind, also warf ich ihm nur einen abschätzenden Blick zu.
»Dann sollten wir herausfinden, was die Cops zu eurer kleinen Nacht und Nebel Aktion hier sagen«, rief ich, drehte mich auf dem Absatz um und rannte los.