WESTBURY, ENGLAND, 1940
Kirpal Singh stand da, wo der Pferdesattel auf den Tierrücken gelegt worden wäre. Zuerst stand er nur auf dem Rücken des Pferdes, hielt inne und winkte denen zu, die er zwar nicht sehen konnte, von denen er aber wußte, daß sie alles beobachteten. Lord Suffolk beobachtete ihn durchs Fernglas, sah den jungen Mann winken und die Arme über den Kopf schwenken.
Dann stieg er hinunter, in das riesenhafte weiße Kalkpferd von Westbury hinein, in die Weiße des Pferdes, das in den Hügel eingeritzt war. Jetzt war er eine schwarze Figur, da der Hintergrund die Dunkelheit seiner Haut und seiner Khakiuniform ins Extreme steigerte. Falls die Scharfeinstellung des Fernglases stimmte, würde Lord Suffolk die dünne Linie der karmesinroten Kordel auf Singhs Schulter sehen, die seine Pioniereinheit anzeigte. Ihm und den anderen würde es so vorkommen, als stiefelte er eine Landkarte aus Papier hinunter, die als Tierform ausgeschnitten war. Singh war sich aber nur seiner Stiefel bewußt, die den harten Kalk abscharrten, als er den Hang hinunterstieg.
Miss Morden, hinter ihm, kam ebenfalls langsam den Hügel hinunter, eine Tasche über die Schulter gehängt, und behalf sich mit einem zusammengeklappten Regenschirm. Sie blieb etwa drei Meter oberhalb des Pferdes stehen, spannte den Schirm auf und setzte sich in seinen Schatten. Dann schlug sie die Notizbücher auf.
»Können Sie mich hören?« fragte er.
»Ja, gut.« Sie rieb sich am Rock den Kalk von den Händen und rückte die Brille zurecht. Sie schaute nach oben in die Ferne und winkte, wie Singh zuvor, denen zu, die sie nicht sehen konnte.
Singh mochte sie. Sie war praktisch die erste Engländerin, mit der er, seit er in England war, richtig gesprochen hatte. Die meiste Zeit hatte er in einer Kaserne in Woolwich verbracht. In den drei Monaten hatte er dort nur andere Inder und englische Offiziere kennengelernt. Es kam zwar vor, daß in der NAAFI-Feldküche eine Frau auf eine Frage antwortete, aber Gespäche mit Frauen beschränkten sich auf wenige Sätze.
Er war der zweite Sohn. Der älteste Sohn ging immer zum Militär, der nächste Bruder wurde Arzt, der dritte Geschäftsmann. Eine alte Tradition in seiner Familie. Doch das alles hatte sich mit dem Krieg geändert. Er schloß sich einem Sikh-Regiment an und wurde nach England verschifft. Nach den ersten Monaten in London hatte er sich freiwillig zu einer Pioniereinheit gemeldet, deren Aufgabe es sein sollte, sich mit Verzögerungszündern und nichtdetonierten Bomben zu befassen. Die oberste Verlautbarung von 1939 war naiv: »Nichtdetonierte Bomben gehören in den Verantwortungsbereich des Innenministeriums, welches erklärt, daß diese von Luftschutzwarten und Polizei aufgesammelt und an geeignete Depots abgeliefert werden, wo sie von Angehörigen der Streitkräfte zu gegebener Zeit zur Explosion gebracht werden.«
Erst 1940 übernahm das Kriegsministerium die Verantwortung für die Bombenräumung, um sie ihrerseits dann an die Königlichen Pioniere weiterzuleiten. Fünfundzwanzig Sprengkommandos wurden aufgestellt. Es fehlte an technischer Ausrüstung, und in ihrem Besitz befanden sich nur Hämmer, Meißel und Werkzeuge zum Straßenbau. Sie waren keine Spezialisten.
Eine Bombe ist eine Kombination folgender Teile:
1) Das Bombenmagazin oder die Bombenhülle.
2) Der Zünder.
3) Die Zünd- oder Übertragungsladung.
4) Die Hauptsprengladung.
5) Aufbauzubehör – Steuerschwanz, Heber, Kopfringe, etc.
Achtzig Prozent der von Kriegsflugzeugen über England abgeworfenen Bomben waren dünnwandig, Mehrzweckbomben. Sie lagen zwischen hundert und tausend Pfund. Eine zweitausend Pfund schwere Bombe hieß »Hermann« oder »Esau«. Eine Viertausend-Pfund-Bombe hieß »Satan«.
Singh schlief nach langen Ausbildungstagen meist noch mit Diagrammen und Plänen in der Hand ein. Halb träumend, trat er ein in das Labyrinth eines Zylinders längsseits der Pikrinsäure und der Übertragungsladung und der Kondensatoren, bis er zum Zünder tief im Innern des Hauptkörpers kam. Dann war er plötzlich hellwach.
Wenn eine Bombe ihr Ziel traf, aktivierte der Widerstand einen Gleichstromunterbrecher, der die Zündkirsche zündete. Die winzige Explosion sprang auf die Übertragungsladung über und ließ das Paraffinwachs detonieren. Dieses ließ die Pikrinsäure explodieren, die wiederum den Hauptsprengstoff aus TNT, Ammoniumnitrat und Aluminiumoxyd zur Explosion brachte. Die Reise vom Gleichstromunterbrecher bis zur Entladung dauerte eine Mikrosekunde.
Die gefährlichsten Bomben waren die aus geringer Höhe abgeworfenen, die erst scharf wurden, wenn sie gelandet waren. Diese nichtdetonierten Bomben gruben sich ein in Städte und Felder und ruhten, bis ihr Gleichstromunterbrecher-Kontaktstück gestört wurde – vom Stock eines Bauern, vom Anstoß eines Wagenrads, vom Aufprall eines Tennisballs gegen die Umhüllung –, und dann explodierten sie.
Singh wurde mit den anderen Freiwilligen im Lastwagen zur Forschungsabteilung in Woolwich gebracht. Das geschah in einer Zeit, als die Verlustrate beim Bombenräumen erschreckend hoch war, bedenkt man, wie wenig nichtexplodierte Bomben es gab. Ab 1940, nachdem Frankreich erobert war und England sich im Belagerungszustand befand, wurde es noch schlimmer.
Im August hatte der deutsche Luftangriff auf London begonnen, und in einem Monat gab es plötzlich zweitausendfünfhundert nichtexplodierte Bomben, um die man sich kümmern mußte. Straßen wurden abgeriegelt, Fabriken geräumt. Bis September war die Zahl der scharfen Bomben auf dreitausendsiebenhundert angestiegen. Einhundert neue Sprengkommandos wurden aufgestellt, aber noch immer fehlte es an praktischem Wissen darüber, wie die Bomben funktionierten. Die Lebenserwartung in diesen Einheiten betrug zehn Wochen.
»Dies war das heroische Zeitalter der Bombenräumung, eine Zeit individueller Tapferkeit, in der Dringlichkeit und Mangel an Wissen und Ausrüstung dazu führten, unsinnige Risiken einzugehen ... Es war jedoch ein heroisches Zeitalter, dessen Hauptpersonen im dunkeln blieben, da ihr Handeln aus Sicherheitsgründen der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. Es war verständlicherweise unerwünscht, daß Berichte veröffentlicht wurden, die dem Feind helfen konnten, die Fertigkeit im Umgang mit Waffen einzuschätzen.«
Im Auto, das nach Westbury fuhr, hatte Singh vorne mit Mr. Harts gesessen, während Miss Morden mit Lord Suffolk hinten saß. Der khakifarbene Humber war weithin bekannt. Die Kotflügel waren knallrot gestrichen – wie bei allen fahrbaren Räumungskommandos –, und nachts war ein blauer Filter über dem linken Begrenzungslicht. Zwei Tage zuvor war ein Mann, der nicht weit weg vom berühmten Kalkpferd in den Downs spazierte, in die Luft gesprengt worden. Als Pioniere auf dem Gelände ankamen, entdeckten sie, daß eine zweite Bombe inmitten der historischen Stätte niedergegangen war – im Bauch des riesigen weißen Pferdes von Westbury, das 1778 in die welligen Kalkhügel eingeritzt worden war. Nach diesem Vorfall hatten wenig später alle Kalkpferde in den Downs – es gab deren sieben – Tarnnetze erhalten, nicht so sehr, um sie zu schützen, als vielmehr, um zu verhindern, daß sie zu deutlichen Zielen für Bombenangriffe auf England wurden.
Vom Rücksitz aus plauderte Lord Suffolk über das Abwandern der Rotkehlchen aus den Kriegszonen Europas, die Geschichte des Bombenräumens, die dicke Devon-Sahne. Er stellte dem jungen Sikh die Bräuche Englands vor, als wären sie eine erst jüngst entdeckte Kultur. War er auch Lord Suffolk, lebte er doch in Devon, und bis zum Kriegsausbruch galt seine Leidenschaft dem Studium von Lorna Doone und der Frage, wie authentisch der Roman hinsichtlich Geschichte und Geographie war. Die meisten Winter verbrachte er damit, rund um die Dörfer Brandon und Porlock zu stromern, und er hatte die Regierung überzeugt, daß Exmoor das ideale Gelände war zur Ausbildung von Bombenräumern. Zwölf Männer unterstanden seinem Kommando – aus den Talentiertesten verschiedener Einheiten zusammengesetzt, Pioniere und Sappeure, und Singh war einer von ihnen. Den größten Teil der Woche waren sie im Richmond Park in London stationiert, wo sie in neue Verfahren oder Techniken über nichtexplodierte Bomben eingeweiht wurden, während Damwild um sie herumstakste. Aber am Wochenende kamen sie immer nach Exmoor, wo sie tagsüber ihre Ausbildung fortsetzten und später dann von Lord Suffolk zu der Kirche gefahren wurden, in der Lorna Doone während ihrer Hochzeitszeremonie angeschossen wurde. »Entweder von dem Fenster da oder von der Hintertür ... Hat genau das Seitenschiff runter gezielt – in ihre Schulter. Ausgezeichneter Schuß das, wenn auch zu tadeln. Der Schurke wurde ins Moor gejagt, und man riß ihm die Muskeln vom Leib.« Singh klang das nach einer vertrauten indischen Sage.
Lord Suffolks engste Freundin in der Region war eine Fliegerin, die die bessere Gesellschaft haßte, Lord Suffolk aber liebte. Sie gingen zusammen auf die Jagd. Sie wohnte in einem kleinen Cottage in Countisbury auf einer Klippe, mit Blick auf den Bristol-Kanal. Jedes Dorf, das sie im Humber passierten, wurde von Lord Suffolk hinsichtlich seiner Exotika beschrieben. »Der beste Ort überhaupt, um Spazierstöcke aus Schwarzdorn zu kaufen.« Als dächte Singh daran, mit Uniform und Turban in den Tudor-Eckladen einzutreten, um mit den Inhabern lässig über Stöcke zu plaudern. Lord Suffolk war der beste aller Engländer, erzählte er später Hana. Wäre kein Krieg gewesen, er hätte sich nie fortgerührt aus Countisbury, aus seinem Schlupfwinkel namens Home Farm, wo er beim Wein herumgrübelte, in Gesellschaft der Fliegen in der alten Waschküche hinterm Haus, fünfzig Jahre alt, verheiratet, aber im Grunde eingefleischter Junggeselle, und jeden Tag zu den Klippen spazierte, um seine Fliegerfreundin zu besuchen. Er reparierte gerne irgendwelche Dinge – alte Waschzuber und Gaskessel und Bratspieße, die von einem Wasserrad angetrieben wurden. Miss Swift, der Fliegerin, hatte er geholfen, Wissenswertes über das Verhalten von Dachsen zu sammeln.
Somit war die Fahrt zum Kalkpferd bei Westbury von Anekdoten und Informationen belebt. Selbst in dieser Kriegszeit kannte er die jeweils beste Teestube weit und breit. Er rauschte in Pamela’s Tea Room, den Arm noch in einer Schlinge nach einem Unfall mit Nitrozellulose, und bugsierte sein Grüppchen zu den Plätzen – Sekretärin, Chauffeur und Pionier –, als wären es seine Kinder. Wie Lord Suffolk den UXB-Ausschuß dazu bewegt hatte, ihm die Erlaubnis für seine experimentelle Bombenräumeinheit zu geben, war niemandem klar, aber mit seiner Vergangenheit als Erfinder war er wahrscheinlich besser qualifiziert als die meisten. Er war Autodidakt, und er glaubte, daß er die Motive und die Gesinnung hinter jeder Erfindung deuten konnte. Unverzüglich hatte er das Hemd mit Taschen erdacht, das es dem arbeitenden Pionier ermöglichte, Zünder und sonstiges Zubehör bequem darin unterzubringen.
Sie tranken Tee und warteten auf die Scones, während sie das Entschärfen von Bomben in situ besprachen.
»Ich traue Ihnen das zu, Mr. Singh, das wissen Sie doch, nicht?«
»Ja, Sir.« Singh bewunderte ihn. Was ihn betraf, so war Lord Suffolk der erste wirkliche Gentleman, den er in England kennengelernt hatte.
»Wissen Sie, ich traue Ihnen zu, daß Sie es genauso gut machen wie ich. Miss Morden wird bei Ihnen sein, um sich Notizen zu machen. Mr. Harts bleibt weiter hinten. Wenn Sie zusätzliches Gerät benötigen oder Verstärkung, gebrauchen Sie die Trillerpfeife, und er kommt zu Ihnen. Er gibt keine Ratschläge, aber er versteht alles. Wenn er etwas nicht tut, heißt das, er hat eine andere Meinung als Sie, und ich würde seinem Rat folgen. Doch Sie haben alle Vollmacht an Ort und Stelle. Hier ist meine Pistole. Die Zünder sind heutzutage wahrscheinlich noch raffinierter, aber man weiß nie, vielleicht haben Sie ja Glück.«
Lord Suffolk spielte auf einen Zwischenfall an, der ihn berühmt gemacht hatte. Er hatte ein Verfahren entdeckt, um einen Verzögerungszünder außer Kraft zu setzen, indem er seinen Militärrevolver zog und eine Kugel durch den Zündkopf feuerte, womit er die Bewegung der eingebauten Uhr zum Stillstand brachte. Das Verfahren wurde aufgegeben, als die Deutschen einen neuen Zünder einführten, bei dem das Zündhütchen zuoberst war, und nicht die Uhr.
Man hatte Kirpal Singh freundschaftlich behandelt, und er würde das nie vergessen. Die Hälfte seiner Zeit im Krieg hatte er im Windschatten dieses Lords verbracht, der kein einziges Mal aus England herausgekommen war und auch nicht vorhatte, seinen Fuß über die Grenzen von Countisbury zu setzen, wenn der Krieg vorbei war. Singh war in England angekommen, ohne eine Menschenseele zu kennen, weit entfernt von seiner Familie im Pandschab. Er war einundzwanzig Jahre alt. Er hatte immer nur mit Soldaten zu tun gehabt. So daß er, als er die Anzeige las, die sich an Freiwillige für einen experimentellen Bombenräumtrupp richtete, auch wenn er andere Pioniere von Lord Suffolk als von einem Verrückten hatte reden hören, bereits entschlossen war, im Krieg die Zügel selbst in die Hand zu nehmen, zumal die Aussicht, wählen zu können und am Leben zu bleiben, neben einer ausgeprägten Einzelpersönlichkeit viel größer war.
Er war der einzige Inder unter den Bewerbern, und Lord Suffolk verspätete sich. Fünfzehn von ihnen wurden in die Bibliothek geführt, und die Sekretärin bat sie zu warten. Sie blieb am Schreibtisch und schrieb die Namen in eine Liste, während die Soldaten über das Einstellungsgespräch und die Prüfung witzelten. Er kannte niemanden. Er schlenderte zu einer Wand hinüber und starrte auf ein Barometer, wollte es gerade berühren, zog dann aber die Hand zurück und ging bloß mit dem Gesicht ganz nah heran. Sehr trocken – Schön – Stürmisch. Er murmelte die Wörter vor sich hin in seiner neuen Aussprache. »Sturmisch. Stürmisch.« Er sah sich nach den anderen um, schaute prüfend im Zimmer umher und fing den Blick der Sekretärin mittleren Alters auf. Sie beobachtete ihn genau. Ein indischer Junge. Er lächelte und trat zu den Bücherregalen. Wieder berührte er nichts. Einmal ging er mit der Nase ganz nah an einen Band mit dem Titel Raymond oder Leben und Tod von Sir Oliver Hodge. Er entdeckte einen ähnlich lautenden Titel. Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten. Er wandte sich um und fing wieder den Blick der Frau auf. Er fühlte sich schuldbewußt, als hätte er das Buch in die Tasche gesteckt. Sie hatte vermutlich noch nie zuvor einen Turban gesehen. Diese Engländer! Sie erwarten von einem, daß man für sie kämpft, aber sie reden nicht mit einem. Singh. Und die Doppeldeutigkeiten.
Sie trafen beim Mittagessen auf einen jovialen Lord Suffolk, der jedem, der nur wollte, Wein einschenkte und laut schon beim Ansatz eines Witzes von seiten der Novizen lachte. Am Nachmittag wurden alle einer seltsamen Prüfung unterzogen, bei der Teile eines Apparates zusammengesetzt werden mußten, ohne daß sie irgendwelche Informationen bekamen, wozu er überhaupt diente. Sie hatten zwei Stunden zur Verfügung, konnten aber gehen, sobald das Problem gelöst war. Singh war rasch mit der Prüfung fertig und verbrachte den Rest der Zeit damit, andere Gegenstände zu ersinnen, die aus den verschiedenen Bauelementen hergestellt werden konnten. Er hatte das Gefühl, daß er ohne weiteres zugelassen würde, wäre da nicht seine Rasse. Er kam aus einem Land, in dem Rechenkünste und angewandte Mechanik etwas Naturgegebenes waren. Autos kamen nicht einfach auf den Schrottplatz. Ihre Teile wurden durchs Dorf getragen und Nähmaschinen oder Wasserpumpen einverleibt. Der Rücksitz eines Fords wurde neu gepolstert und zum Sofa gemacht. Die meisten in seinem Dorf trugen eher einen Schraubenschlüssel oder Schraubenzieher bei sich als einen Bleistift. Zubehörteile eines Autos gelangten so in eine Standuhr oder in den Flaschenzug einer Bewässerungsanlage oder in den Drehmechanismus eines Bürostuhls. Abhilfe bei mechanischen Mißgeschicken fand sich leicht. Ein überhitzter Automotor wurde nicht mit neuen Schläuchen gekühlt, sondern indem man frische Kuhfladen aufschaufelte und sorgsam an den Kondensator drückte. Was er in England sah, war eine Unmenge an Ersatzteilen, die ganz Indien zweihundert Jahre in Gang halten könnten.
Er war einer der drei Bewerber, die von Lord Suffolk ausgewählt wurden. Dieser Mann, der nicht einmal mit ihm gesprochen hatte (und auch nicht gelacht, einfach deshalb nicht, weil er keine Witze gemacht hatte), kam zu ihm durchs Zimmer und legte den Arm um seine Schulter. Die gestrenge Sekretärin stellte sich als Miss Morden heraus, und sie eilte mit einem Tablett herein, auf dem zwei große Gläser Sherry standen, reichte eines Lord Suffolk und sagte: »Ich weiß, Sie trinken nicht«, nahm das zweite für sich und erhob das Glas auf ihn. »Glückwunsch, Sie haben die Prüfung glanzvoll bestanden. Mir war allerdings schon klar, daß Sie gewählt würden, noch bevor Sie angefangen haben.«
»Miss Morden versteht es vorzüglich, Charaktere zu beurteilen. Sie hat eine Nase für durchdringenden Verstand und Charakter.«
»Charakter, Sir?«
»Ja. Nicht eigentlich notwendig, natürlich, aber immerhin werden wir schließlich zusammenarbeiten. Wir sind hier so etwas wie eine Familie. Schon vor dem Mittagessen hatte Miss Morden Sie ausgewählt.«
»Ich fand es ausgesprochen anstrengend, Mr. Singh, Ihnen nicht zublinzeln zu können.«
Lord Suffolk legte wieder den Arm um Singh und ging mit ihm zum Fenster.
»Ich habe mir gedacht, da wir nicht vor Mitte nächster Woche anfangen müssen, wäre es schön, wenn einige von der Einheit mit zur Home Farm kämen. Wir können unser Wissen in Devon koordinieren und einander kennenlernen. Sie können im Humber mit uns dorthinfahren.«
Und so wurde ihm Zugang gewährt, und er war befreit von der chaotischen Maschinerie des Krieges. Er kam zu einer Familie, nach einem Jahr in der Fremde, als wäre der verlorene Sohn zurückgekehrt, erhielte einen Platz am Tisch, aufgenommen in vertraute Gesellschaft.
Es war beinahe dunkel, als sie auf der Küstenstraße mit Aussicht auf den Bristol-Kanal das Grenzgebiet zwischen Somerset und Devon passierten. Mr. Harts bog in einen schmalen Weg ein, gesäumt von Heidekraut und Rhododendren, einem tiefen Blutrot in diesem letzten Licht. Die Zufahrt war fast fünf Kilometer lang.
Außer der Dreifaltigkeit von Suffolk, Morden und Harts waren da sechs Pioniere, die die Einheit bildeten. Sie wanderten übers Wochenende durch die Moore rund um das steinerne Cottage. Zum Samstagsdinner mit Miss Morden, Lord Suffolk und seiner Frau gesellte sich die Pilotin hinzu. Miss Swift erzählte Singh, immer habe sie den Wunsch gehabt, nach Indien zu fliegen. Fern seiner Kaserne hatte Singh keine Vorstellung, wo er sich befand. An einer Rollvorrichtung hoch oben an der Decke gab es eine Landkarte. Eines Vormittags, er war allein, zog er die Karte herunter, bis sie den Boden berührte. Countisbury und Umland. Kartographiert von R. Fones. Gezeichnet auf Wunsch von Mr. James Halliday.
»Gezeichnet auf Wunsch ...« – was auch bedeuten konnte: »getrieben von Sehnsucht«. Er begann die Engländer zu lieben.
Er ist mit Hana im Nachtzelt, als er ihr von der Explosion in Erith erzählt. Eine zweihundertfünfzig Kilogramm schwere Bombe ging bei Lord Suffolks Versuch, sie zu entschärfen, hoch. Sie tötete auch Mr. Fred Harts und Miss Morden und vier Pioniere, die Lord Suffolk ausbildete. Mai 1941. Singh war schon ein Jahr bei Suffolks Einheit. An jenem Tag arbeitete er mit Leutnant Blackler in London, räumte im Gebiet von Elephant-and-Castle eine Satansbombe. Sie hatten gemeinsam am Entschärfen der Viertausend-Pfund-Bombe gearbeitet und waren erschöpft. Er erinnerte sich, wie er auf halber Strecke hochgeschaut und einige Offiziere vom Sprengkommando gesehen hatte, die in seine Richtung zeigten, und er hatte sich gefragt, was da wohl los war. Wahrscheinlich bedeutete es, daß sie eine weitere Bombe gesichtet hatten. Es war nach zweiundzwanzig Uhr, und er war gefährlich müde. Eine weitere Bombe wartete auf ihn. Er wandte sich wieder der Arbeit zu.
Als sie mit der Satansbombe fertig waren, entschloß er sich, Zeit zu sparen, und ging zu einem der Offiziere, der sich zuerst halb abgewandt hatte, als wolle er gehen.
»Ja. Wo ist sie?«
Der Mann nahm seine rechte Hand, und er wußte, etwas stimmte nicht. Leutnant Blackler stand hinter ihm, und der Offizier teilte ihnen mit, was passiert war, und Leutnant Blackler legte die Hände auf Singhs Schulter und hielt ihn fest.
Er fuhr nach Erith. Er hatte erraten, worum ihn der Offizier nicht recht zu bitten wagte. Es war ihm klar, daß der Mann nicht hergekommen wäre, bloß um ihm die Todesfälle mitzuteilen. Sie befanden sich schließlich im Krieg. Es hieß, irgendwo in unmittelbarer Nähe lag eine zweite Bombe, wahrscheinlich vom selben Typ, und das war die einzige Möglichkeit herauszufinden, was schiefgelaufen war.
Er wollte das allein erledigen. Leutnant Blackler würde in London bleiben. Sie waren die zwei letzten, die von der Einheit übriggeblieben waren, und es wäre töricht, ihrer beider Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn Lord Suffolk die Sache mißglückt war, bedeutete dies, daß Neues im Spiel war. So oder so, er wollte das allein erledigen. Wenn zwei Männer zusammenarbeiteten, mußte es eine Basis der Logik geben. Man mußte sich bei Entscheidungen entgegenkommen und sie gemeinsam tragen.
Er hielt während der Nachtfahrt alles von der Oberfläche seiner Gefühle fern. Um einen klaren Kopf zu bewahren, mußten sie einfach noch am Leben sein. Miss Morden, wie sie ein großes Glas hochprozentigen Whiskys trank, bevor sie zum Sherry überging. Auf diese Weise konnte sie langsamer trinken, für den Rest des Abends etwas mehr ladylike erscheinen. »Sie trinken nicht, Mr. Singh, aber wenn Sie es täten, würden Sie es genauso machen wie ich. Ein volles Glas Whisky, und danach kann man seelenruhig am Glas nippen wie bei einer hochanständigen Party.« Dem folgte ihr träges rauhes Lachen. Sie war die einzige Frau, der er im Leben begegnen sollte, die zwei silberne Taschenflaschen mit sich trug. Und so trank sie noch, und Lord Suffolk knabberte noch an seinem Kipling-Kuchen.
Die zweite Bombe war anderthalb Kilometer enfernt gefallen. Auch eine SC, zweihundertfünfzig Kilogramm schwer. Sie sah wie die anderen aus. Sie hatten Hunderte von ihnen entschärft, die meisten routinemäßig. Und so entwickelte sich der Krieg weiter. Alle sechs Monate etwa veränderte der Feind etwas. Der Trick wurde herausgefunden, der wunderliche Einfall, die leichte Variante, und den übrigen Einheiten übermittelt. Sie befanden sich jetzt in einem neuen Stadium.
Er nahm niemanden mit. Er mußte sich eben jeden Schritt merken. Der Sergeant, der ihn fuhr, war ein Mann namens Hardy, und er sollte beim Jeep bleiben. Man schlug ihm vor, bis zum nächsten Morgen zu warten, aber er wußte, ihnen war es lieber, wenn er gleich an die Arbeit ging. Die zweihundertfünfzig Kilogrammm schwere SC war zu gewöhnlich. Sollte es eine Abweichung geben, dann mußten sie es rasch erfahren. Er ließ sie im voraus telefonisch für Beleuchtung sorgen. Es machte ihm nichts aus, zu arbeiten, so müde er auch war, doch wollte er richtige Scheinwerfer, nicht bloß das Fernlicht zweier Jeeps.
Als er in Erith ankam, war das Bombengebiet bereits erleuchtet. Bei Tageslicht, an einem harmlosen Tag, wäre es ein Feld gewesen. Hecken, vielleicht ein Teich. Jetzt war es eine Arena. Wegen der Kälte borgte er sich Hardys Pullover und zog ihn über den eigenen. Die Scheinwerfer würden Hardy sowieso warm halten. Als er zu der Bombe ging, waren in ihm die Toten noch am Leben. Prüfung.
In dem hellen Licht trat die Körnung des Metalls scharf vor Augen. Jetzt vergaß er alles, außer seinem Mißtrauen. Lord Suffolk hatte gesagt, ein brillanter Schachspieler könne man schon mit siebzehn, sogar mit dreizehn Jahren sein, fähig, einen Großmeister zu schlagen. Aber niemals ein brillanter Bridgespieler in dem Alter. Bridge hängt vom Charakter ab. Vom eigenen Charakter und von dem Charakter der Gegenspieler. Man muß den Charakter des Gegners in Betracht ziehen. Das gleiche gilt fürs Bombenräumen. Ein Zwei-Mann-Bridge. Man hat einen einzigen Gegner. Und keinen Partner. Manchmal lasse ich sie für meine Prüfung Bridge spielen. Die Leute glauben, eine Bombe sei eine rein technische Sache, ein technischer Gegner. Aber man muß sich klarmachen, daß jemand sie hergestellt hat.
Die Wand der Bombe war durch den Aufprall am Boden aufgerissen worden, und Singh konnte das Sprengmittel im Innern sehen. Er hatte das Gefühl, er werde beobachtet, und weigerte sich zu entscheiden, ob es Suffolk war oder der Erfinder dieses komplizierten Apparats. Das Ungewohnte des künstlichen Lichts hatte ihn belebt. Er ging um die Bombe herum und sah sie sich von jedem Winkel aus genau an. Um den Zünder zu entfernen, würde er die Hauptkammer öffnen und am Sprengstoff vorbeiarbeiten müssen. Er knöpfte seine Schultertasche auf und drehte mit einem Universalschraubenschlüssel den Deckel am Boden der Bombenhülle ab. Beim Hineinschauen entdeckte er, daß die Zündkapsel aus ihrer Hülle herausgestoßen war. Glück – oder Pech; er konnte es noch nicht sagen. Das Problem war, er wußte nicht, ob der Mechanismus bereits lief, ob er schon ausgelöst war. Er war auf den Knien, beugte sich darüber, froh, allein zu sein, zurück in der Welt der eindeutigen Wahl. Dreh nach links oder dreh nach rechts. Schneide dies durch oder schneide das durch. Aber er war müde, und es war noch Wut in ihm.
Er wußte nicht, wieviel Zeit er hatte. Die Gefahr wurde größer, wenn man zu lange wartete. Die Geschoßspitze mit den Stiefeln festhaltend, tastete er hinein, riß den Zünder mit einem Ruck heraus und entfernte ihn von der Bombe. Noch während er das tat, begann er zu zittern. Er hatte ihn rausgeholt. Die Bombe war im Grunde jetzt harmlos. Er legte den Zünder mit seinem Gewirr von Drähten auf das Gras; in diesem Licht traten sie einzeln mit ihren Farben hervor.
Er begann, die Bombenhülle zum Lastauto zu schleifen, rund fünfzig Meter entfernt, wo die Männer ihr den Rohsprengstoff entnehmen konnten. Während er sie mit sich zog, explodierte eine dritte Bombe zirka einen halben Kilometer entfernt, und der Himmel wurde so hell, daß selbst das Bogenlicht zart und menschlich erschien.
Ein Offizier reichte ihm einen Becher Horlicks, in den auch irgendein Alkohol gemischt war, und er kehrte allein zu der Zündröhre zurück. Er atmete den Dampf des Getränks ein.
Es bestand keine ernsthafte Gefahr mehr. Falls er sich irren sollte, würde ihm die kleine Explosion die Hand absprengen. Sofern er aber den Zünder im entscheidenden Moment nicht gerade an die Brust gepreßt hielt, würde er nicht sterben. Das Problem war jetzt einfach das Problem. Der Zünder. Der neue »Scherz« in der Bombe.
Er mußte das Labyrinth der Drähte wieder in die ursprüngliche Ordnung bringen. Er ging zu dem Offizier mit der Thermosflasche und bat ihn um den Rest des warmen Getränks. Dann kehrte er zurück und setzte sich wieder mit dem Zünder hin. Es war etwa halb zwei morgens. Das war nur geschätzt, er trug keine Uhr. Eine halbe Stunde lang betrachtete er den Zünder bloß mit einem Vergrößerungsglas, einer Art Monokel, das vom Knopfloch baumelte. Er beugte sich vor und spähte nach Spuren von Kratzern auf dem Messing, die von einer Zwinge hätte stammen können. Nichts.
Später sollte er dabei Ablenkung brauchen. Später, wenn es in seinem Kopf eine vollständige persönliche Geschichte von Ereignissen und Augenblicken gäbe, sollte er etwas brauchen, was einem Hintergrundsrauschen gleichkäme und alles verbrannte oder begrub, während er die Schwierigkeiten durchdachte, die unmittelbar vor ihm lagen. Das Radio oder der Detektor und seine laute Tanzmusik sollten später kommen, eine Plane, um den Regen des realen Lebens von ihm abzuhalten.
Jetzt aber registrierte sein Bewußtsein etwas in weiter Ferne, wie Widerschein eines Blitzes auf einer Wolke. Harts und Morden und Suffolk waren tot, plötzlich nur noch Namen. Seine Augen konzentrierten sich erneut auf das Zündergehäuse.
Im Geiste stellte er den Zünder auf den Kopf und erwog die logischen Möglichkeiten. Dann wieder brachte er ihn in die Horizontale. Er begann die Übertragungsladung herauszuschrauben, vornübergebeugt und mit dem Ohr so nahe daran, daß er jedes leichte Kratzen im Metall hören konnte. Kein Klicken. Sie fiel lautlos auseinander. Behutsam trennte er die Teile des Uhrwerkzünders ab und legte sie alle hin. Er hob die Zündröhre auf und schaute wieder hinein. Er sah nichts. Gerade wollte er sie aufs Gras legen, als er zögerte und sie wieder ins volle Licht hielt. Er hätte nichts Ungewöhnliches bemerkt, wäre da nicht das Gewicht gewesen. Und nie hätte er über das Gewicht nachgedacht, wenn er nicht nach dem Scherz gesucht hätte. Alles, was Pioniere gewöhnlich taten, war lauschen oder genau hinsehen. Er kippte vorsichtig die Röhre, und das Gewicht verlagerte sich zur Öffnung. Es war eine zweite Übertragungsladung – ein kompletter, separater Mechanismus –, der jeden Versuch, die Bombe zu entschärfen, zunichte machen sollte.
Er ließ den Mechanismus vorsichtig zu sich herausgleiten und schraubte die Übertragungsladung ab. Aus dem Objekt kam ein weißgrünes Aufblitzen und ein Peitschenlaut. Der zweite Sprengzünder war explodiert. Er zog ihn heraus und legte ihn neben die anderen Teile aufs Gras. Er ging zum Jeep zurück.
»Eine zweite Übertragungsladung«, murmelte er. »Ich hatte Riesenglück, daß ich die Drähte rausziehen konnte. Sprechen Sie mit dem Hauptquartier, und finden Sie heraus, ob es noch weitere Bomben gibt.«
Er wies die Soldaten an, sich vom Jeep zu entfernen, baute dort eine Art Werkbank auf und bat, daß man das Bogenlicht darauf richtete. Er bückte sich und hob die drei Bestandteile auf und plazierte sie in Abständen von jeweils dreißig Zentimetern auf der Behelfsbank. Ihn fror jetzt, und er atmete einen Federhauch warmer Körperluft aus. Er blickte auf. Weiter weg waren Soldaten noch dabei, den Sprengstoff der Bombenhülle zu entnehmen. Rasch kritzelte er ein paar Notizen und reichte einem Offizier die Lösung für die neue Bombe. Ihm war natürlich noch nicht alles klar, aber immerhin hätten sie diese Information.
Wenn Sonnenlicht in ein Zimmer scheint, in dem ein Kaminfeuer brennt, erlischt das Feuer. Er hatte Lord Suffolk und seine seltsamen kleinen Informationen geliebt. Aber seine Abwesenheit hier bedeutete, daß nun alles von Singh abhing, bedeutete, daß Singhs Wachsamkeit sich auf alle Bomben dieser Sorte in London erstrecken mußte. Er hatte plötzlich einen Verantwortungs-Plan, etwas, das Lord Suffolk, wie ihm klar wurde, immer in sich getragen hatte. Es war diese Wachsamkeit, die später das Bedürfnis in ihm erzeugte, möglichst viel auszublenden, sobald er an einer Bombe arbeitete. Er war einer von denen, die nie Interesse an der Choreographie der Macht hatten. Er verspürte Unbehagen dabei, Pläne und Lösungen hin- und herzubefördern. Er fühlte sich in seinem Element, wenn er auf Erkundung war, eine Lösung aufspürte. Als ihm die Realität von Lord Suffolks Tod deutlich wurde, gab er die ihm übertragene Arbeit auf und gliederte sich wieder dem anonymen Heeresapparat ein. Er war auf dem Truppentransporter Macdonald, der hundert andere Pioniere zum Feldzug nach Italien brachte. Hier wurden sie nicht bloß für die Bomben gebraucht, sondern zum Bau von Brücken, Wegräumen von Schutt und Verlegen von Gleisen für Panzerzüge. Er verbarg sich dort für den Rest des Krieges. Nur wenige erinnerten sich an den Sikh von Suffolks Einheit. Innerhalb eines Jahres war die gesamte Einheit aufgelöst und vergessen. Leutnant Blackler war der einzige, der dank seines Talents aufstieg.
Doch in der Nacht, als Singh an Lewisham und Blackheath vorbei nach Erith fuhr, wußte er, daß er, mehr als jeder andere Pionier, Lord Suffolks Kenntnisse in sich trug. Von ihm erwartete man, daß er Ersatz für dessen Vision werde.
Er stand noch immer am Jeep, als er das Pfeifsignal hörte, das bedeutete, daß sie die Bogenlampen ausmachen würden. Innerhalb von dreißig Sekunden war das metallene Licht abgelöst worden von schwefelgelben Leuchtfackeln im hinteren Teil des Jeeps. Ein weiterer Bombenangriff. Dieses schwächere Licht konnte gelöscht werden, sobald man die Flugzeuge hörte. Er setzte sich auf den leeren Benzinkanister, den drei Bestandteilen zugewandt, die er der SC-250-kg entnommen hatte, und das Zischen der Fackeln um ihn herum kam ihm laut vor nach der Stille der Bogenlampen.
Er saß da, beobachtend und lauschend, und wartete, daß sie klickten. Die anderen Männer stumm, etwa fünfzig Meter entfernt. Er wußte, im Augenblick war er der König, ein Marionettenherrscher, der sich alles kommen lassen konnte, einen Eimer Sand, ein Obsttörtchen, falls er das brauchte, und diese Männer, die, wenn sie keinen Dienst hatten, in einer leeren Bar nicht zu ihm hinübergehen würden, um mit ihm zu sprechen, würden tun, was er verlangte. Das war seltsam für ihn. Als hätte man ihm einen übergroßen Anzug gereicht, in dem er fast verschwand und dessen Ärmel hinter ihm herschleiften. Aber er wußte, ihm lag nicht daran. Er hatte sich an seine Unsichtbarkeit gewöhnt. In England hatte man ihn in den verschiedenen Kasernen nicht beachtet, und mit der Zeit war ihm das auch lieber. Die Selbstgenügsamkeit und die Zurückgezogenheit, die Hana später an ihm bemerkte, kamen nicht allein daher, daß er Pionier im italienischen Feldzug gewesen war. Sie ergaben sich ebenso daraus, daß er anonymes Mitglied einer anderen Rasse war, Teil der unsichtbaren Welt. Er hatte gegen das alles Schutzbarrieren in sich errichtet, vertraute nur denen, die freundschaftlich mit ihm umgingen. Aber in dieser Nacht in Erith wußte er, daß er über geheime Fäden gebieten konnte, die alle um ihn herum lenkten, die nicht sein spezielles Talent besaßen.
Wenige Monate später war er nach Italien entkommen, hatte den Schatten seines Lehrers in den Tornister gepackt, so wie er es den grüngekleideten Jungen im »Hippodrome« bei seinem ersten Urlaub an Weihnachten hatte tun sehen. Lord Suffolk und Miss Morden hatten angeboten, ihn in ein englisches Theaterstück zu führen. Er hatte sich Peter Pan ausgewählt, und sie, kommentarlos, hatten sich gefügt und waren mit ihm zu einer kinderlärmenden Aufführung gegangen. Derart waren die Schatten seiner Erinnerung, als er mit Hana im Zelt in dem italienischen Bergstädtchen lag.
Seine Vergangenheit oder Eigenarten seines Charakters zu enthüllen wäre eine zu laute Geste gewesen. Genauso wie er nie auf die Idee gekommen wäre, sie zu fragen, was im tiefsten der Grund für diese Beziehung war. Er hatte für sie dieselbe starke Liebe, die er für die drei seltsamen Engländer gefühlt hatte, die mit ihm an einem Tisch gesessen und sein Entzücken und sein Lachen und Staunen miterlebt hatten, als der grüne Junge die Arme hob und in die Dunkelheit hoch über der Bühne flog und dann zurückkehrte, um das junge Mädchen der erdgebundenen Familie auch solche Wunder zu lehren.
In der fackelerhellten Dunkelheit von Erith legte er eine Pause ein, sobald Flugzeuge zu hören waren, und die schwefelgelben Fackeln wurden eine nach der anderen in die Eimer mit Sand gesteckt. Er saß da in der brummenden Dunkelheit, verrückte den Sitz, damit er sich vorbeugen und das Ohr nahe an die tickende Mechanik halten konnte, und suchte noch immer das Klicken zeitlich zu bestimmen, bemüht, es unter dem Gedröhn deutscher Bomber zu hören.
Dann passierte, worauf er gewartet hatte. Nach genau einer Stunde schaltete der Zeitgeber, und das Zündhütchen explodierte. Das Entfernen der Übertragungsladung hatte einen unsichtbaren Schlagbolzen ausgelöst, der die zweite, versteckte Übertragungsladung scharf machte. Sie war so eingestellt worden, daß sie sechzig Minuten später explodierte – wenn ein Pionier normalerweise längst angenommen hätte, daß die Bombe völlig entschärft war.
Dieser neue Trick sollte die Richtlinien der Bombenräumung bei den Alliierten radikal verändern. Von nun an barg jede Bombe mit Verzögerungszünder die Gefahr einer zweiten Übertragungsladung in sich. Es war für die Pioniere nicht mehr möglich, eine Bombe zu entschärfen, indem sie einfach den Zünder entfernten. Bomben mußten nun mit intaktem Zünder neutralisiert werden. Irgendwie, schon vor einiger Zeit, hatte er, noch umgeben von Bogenlampen und in seiner Wut, den abgeschnittenen zweiten Zünder aus der versteckten Sprengladung herausgeholt. In der schwefelfarbenen Dunkelheit unter dem Bombenangriff erlebte er jetzt das weißgrüne handgroße Aufflammmen. Um eine Stunde verzögert. Er hatte nur durch Glück überlebt. Er ging zu dem Offizier zurück und sagte: »Ich brauche einen weiteren Zünder, um mich zu vergewissern.«
Sie entfachten wieder die Fackeln um ihn herum. Und erneut ergoß sich Licht in den Kreis seines Dunkels. Er prüfte in der Nacht noch zwei Stunden lang die neuen Zünder. Die Sechzigminutenverzögerung erwies sich als gleichbleibend.
Den größten Teil der Nacht verbrachte er in Erith. Am nächsten Tag wachte er auf und merkte, daß er in London war. Er konnte sich nicht erinnern, daß man ihn zurückgefahren hatte. Er wachte auf, ging an einen Tisch und begann, den Umriß der Bombe zu skizzieren, die Übertragungsladung, die Sprengkapsel, das ganze ZUS-40-Problem, vom Zünder bis zu den Schraubenringen. Dann bedeckte er die Ausgangszeichnung mit allen Angriffslinien, die es zur Entschärfung der Bombe gab. Jeder Pfeil exakt gezeichnet, der Text sauber ausgeschrieben, so wie man es ihm beigebracht hatte.
Was er die Nacht zuvor entdeckt hatte, traf genau zu. Er hatte nur durch Glück überlebt. Es gab keine Möglichkeit, eine solche Bombe in situ zu entschärfen, außer daß man sie eben in die Luft sprengte. Er zeichnete und schrieb alles, was er wußte, auf ein großes Blatt Millimeterpapier. Unten schrieb er hin: Gezeichnet auf Wunsch von Lord Suffolk, von seinem Schüler Leutnant Kirpal Singh, 10. Mai 1941.
Nach Suffolks Tod arbeitete er auf Hochtouren, besessen. Die Bomben veränderten sich schnell, neue Techniken, neue Tricks. Er war mit Leutnant Blackler und drei anderen Spezialisten im Regent’s Park kaserniert, arbeitete an Lösungen und machte von jeder neu auftauchenden Bombe eine genaue Skizze auf Millimeterpapier.
Nach zwölf Tagen Arbeit im Forschungsdirektorium stießen sie auf die Antwort. Ignoriere den Zünder ganz und gar. Ignoriere den ersten Grundsatz, der bis dahin gelautet hatte: »Entschärfe die Bombe«. Es war brillant. Alle lachten und applaudierten und beglückwünschten sich in der Offiziersmesse. Sie hatten keinen Schimmer, was die Alternative war, aber sie wußten, daß sie rein theoretisch recht hatten. Das Problem wird nicht gelöst, indem man ihm zu nahe tritt. Das war Leutnant Blacklers Devise. »Wenn du mit einem Problem im Zimmer bist, rede nicht mit ihm.« Eine hingeworfene Bemerkung. Singh kam zu ihm und gab der Aussage einen etwas anderen Dreh. »Dann berühren wir den Zünder eben überhaupt nicht.«
Als sie erst einmal so weit gekommen waren, arbeitete innerhalb einer Woche jemand die Lösung aus. Ein Dampf-Sterilisator. Man konnte ein Loch in die Bombenhülle schneiden, und danach konnte der Hauptsprengstoff mittels einer Dampfeinspritzung emulgiert und abgeleitet werden. Das behob fürs erste die Schwierigkeit. Aber da befand er sich bereits auf einem Schiff nach Italien.
»Immer ist seitlich an Bomben etwas mit gelber Kreide gekritzelt. Ist dir das aufgefallen? Genau wie etwas mit gelber Kreide auf unsere Körper gekritzelt war, als wir uns im Hof von Lahore in einer Linie aufstellten.
Wir bildeten eine Schlange, die sich von der Straße langsam ins amtsärztliche Gebäude vorschob und hinaus in den Hof, um uns freiwillig zu melden. Wir wollten uns verpflichten. Ein Arzt erklärte unseren Körper mit seinen Instrumenten für gesund oder verwarf ihn und erkundete mit den Händen unseren Hals. Die Zange glitt aus dem Dettol und packte sich Teile unserer Haut.
Jene, die angenommen waren, drängten sich im Hof. Die codierten Ergebnisse wurden mit gelber Kreide auf unsere Haut geschrieben. Später, in der Schlange, vermerkte ein indischer Offizier nach kurzer Befragung weiteres Kreidegelb auf Schiefertafeln, die uns um den Hals hingen. Gewicht, Alter, unseren Bezirk, unser Bildungsniveau, die Beschaffenheit unserer Zähne und die Einheit, für die wir am besten geeignet schienen.
Ich empfand das nicht als beleidigend. Mein Bruder hätte da ganz gewiß anders reagiert, wäre wütend zu dem Brunnen gegangen, hätte den Eimer hochgezogen und sich die Kreidemarkierungen abgewaschen. Ich war nicht wie er. Auch wenn ich ihn liebte. Ihn bewunderte. Ich hatte diese Seite an mir, daß ich in allem einen vernünftigen Grund sah. Ich war derjenige, der in der Schule feierlich ernsthaft dreinblickte, was er nachahmte und verspottete. Du verstehst natürlich, ich war weit weniger ernsthaft als er, es war nur, daß ich Konfrontationen haßte. Es hielt mich nicht davon ab, das zu tun, was ich wollte, und die Dinge so zu tun, wie es mir paßte. Schon recht früh hatte ich den unbeachteten Raum entdeckt, der uns ganz still Lebenden offensteht. Ich stritt nicht mit dem Polizisten, der mir sagte, ich dürfe über eine bestimmte Brücke nicht mit dem Fahrrad fahren oder durch ein bestimmtes Tor in der Festung – ich blieb einfach dort stehen, ganz still, bis ich unsichtbar war, und dann passierte ich. Wie eine Grille. Wie heimlich ein Becher Wasser. Verstehst du? Das habe ich aus den öffentlichen Kämpfen meines Bruders gelernt.
Aber für mich war mein Bruder immer der Held in der Familie. Ich segelte im Windschatten dessen, der als Unruhestifter galt. Ich war Zeuge seiner totalen Erschöpfung, die jedem Protest folgte, wenn sich sein Körper aufbäumte, in Reaktion auf diese Beleidigung oder jenes Gesetz. Er brach mit der Tradition in unserer Familie und weigerte sich, obwohl er der Älteste war, Soldat zu werden. Er weigerte sich, auch nur eine Situation gutzuheißen, bei der Engländer Macht ausübten. Und so zerrten sie ihn in ihre Gefängnisse. Ins Zentralgefängnis von Lahore. Später ins Gefängnis von Jatnagar. Nachts lehnte er sich auf dem Feldbett zurück, hielt den eingegipsten Arm hoch, den seine Freunde gebrochen hatten, um ihn zu schützen, ihn am Fliehen zu hindern. Im Gefängnis wurde er gelassen und gewieft. Mir ähnlicher. Er war nicht beleidigt, als er hörte, daß ich mich verpflichtet hatte, an seiner Stelle zum Militär zu gehen und nicht mehr Arzt zu werden, er lachte bloß und ließ mir durch unseren Vater mitteilen, ich solle vorsichtig sein. Er führte nie Krieg gegen mich oder das, was ich tat. Er war überzeugt, daß ich den Dreh raus hatte, wie man überlebte, die Fähigkeit, mich still zu verbergen.«
Er sitzt auf dem Tisch in der Küche, im Gespräch mit Hana. Caravaggio kommt auf seinem Weg nach draußen hineingeschneit, schwere Seile über die Schultern gepackt, seine Privatsache, wie er sagt, wenn jemand ihn befragt. Er zieht die Seile hinter sich her, und als er aus der Tür geht, sagt er: »Der englische Patient möchte dich sehen, boyo.«
»Okay, boyo.« Der Pionier springt vom Tisch, sein indischer Akzent gleitet über in Caravaggios unechtes Walisisch.
»Mein Vater hatte einen Vogel, einen kleinen Mauersegler, glaube ich, den er stets in der Nähe hatte, so unentbehrlich für sein Wohlbefinden wie die Brille oder das Glas Wasser zur Mahlzeit. Im Hause, selbst wenn er sein Schlafzimmer betrat, trug er ihn bei sich. Wenn er zur Arbeit ging, hing der kleine Käfig von der Lenkstange des Fahrrads.«
»Lebt dein Vater noch?«
»ja, doch. Ich denke schon. Ich habe seit einiger Zeit keine Briefe mehr bekommen. Und wahrscheinlich ist mein Bruder noch immer im Gefängnis.«
Etwas will ihm nicht aus dem Kopf. Er befindet sich in dem weißen Pferd. Ihm ist warm auf dem Kalkhügel, der weiße Staub wirbelt rings um ihn herum auf. Er arbeitet an einer Bombe, die unkompliziert ist, aber zum erstenmal arbeitet er allein. Miss Morden sitzt etwa zwanzig Meter oberhalb von ihm auf dem Hügel und macht sich Notizen über das, was er tut. Er weiß, daß weiter unten auf der anderen Seite des Tales Lord Suffolk ihn durchs Fernglas beobachtet.
Er arbeitet langsam. Der Kreidestaub hebt sich, läßt sich dann auf alles nieder, seine Hände, die Bombe, so daß er ihn ständig von den Zündkappen und Drähten wegpusten muß, wenn er Einzelheiten erkennen will. Ihm ist warm in der Uniform. Immer wieder streckt er die schwitzenden Handgelenke nach hinten, um sie am Hemdrücken abzuwischen. Die abgenommenen losen Bestandteile füllen die verschiedenen Brusttaschen aus. Er ist müde, kontrolliert die Gegenstände wiederholt. Er hört Miss Mordens Stimme. »Kip?« »Ja.« »Hören Sie kurz einmal auf mit dem, was Sie gerade tun, ich komme runter.« »Besser nicht, Miss Morden.« »Aber ja doch.« Er macht die Knöpfe an den zahlreichen Brusttaschen zu und legt ein Tuch über die Bombe; sie hangelt sich unbeholfen in das weiße Pferd hinunter und setzt sich dann neben ihn und öffnet ihre Schultertasche. Sie näßt ein Spitzentaschentuch mit dem Inhalt einer kleinen Flasche Kölnisch Wasser und reicht es ihm. »Wischen Sie sich das Gesicht damit ab. Lord Suffolk benutzt es, um sich zu erfrischen.« Er nimmt es zögernd, und unter ihrem auffordernden Blick betupft er sich die Stirn und den Hals und die Handgelenke. Sie schraubt die Thermosflasche auf und gießt jedem etwas Tee ein. Sie entfaltet Butterbrotpapier und bringt Stücke eines Kipling-Kuchens zum Vorschein.
Sie scheint es nicht eilig zu haben, den Hügel wieder hochzugehen, zurück in die Sicherheit. Und es würde unhöflich wirken, sie zum Umkehren zu ermahnen. Sie plaudert über die schreckliche Hitze und den glücklichen Umstand, daß sie wenigstens alle Zimmer mit Bad in der Stadt bestellt haben, auf die sie sich freuen können. Sie beginnt eine weitläufige Geschichte, wie sie Lord Suffolk kennengelernt hat. Kein Wort über die Bombe neben ihnen. Er war langsamer geworden, so wie jemand, schon halb eingeduselt, immerzu denselben Absatz wiederliest, im Bemühen, eine Beziehung zwischen den Sätzen zu finden. Sie hat ihn aus dem Strudel des Problems herausgezogen. Sie packt alles wieder sorgfältig in ihre Tasche, legt die Hand auf seine rechte Schulter und kehrt zu ihrem Platz auf der Decke oberhalb des Westbury-Pferds zurück. Sie läßt ihm eine Sonnenbrille da, aber er kann damit nicht deutlich genug sehen, und so legt er sie beiseite. Dann nimmt er die Arbeit wieder auf. Der Duft von Kölnisch Wasser. Er erinnert sich, ihn einmal als Kind gerochen zu haben. Er hatte Fieber, und jemand besprenkelte seinen Körper damit.