UND WO SITZT er jetzt, während er an sie denkt? All die Jahre später. Ein Stein der Geschichte, der übers Wasser hüpft, aufspringt, und sie und er sind älter geworden, bevor der Stein erneut die Wasseroberfläche berührt und versinkt.

Wo sitzt er in seinem Garten, während er wieder einmal denkt, er sollte hineingehen und einen Brief schreiben oder vielleicht zum Fernmeldeamt laufen, ein Formular ausfüllen und versuchen, sich mit ihr in einem anderen Land in Verbindung zu setzen. Dieser Garten, dieses viereckige Stück trokkenenen, gemähten Rasens, sie versetzen ihn zurück in die Monate, die er mit Hana und Caravaggio und dem englischen Patienten in der Villa San Girolamo, nördlich von Florenz, verbracht hat. Er ist Arzt, hat zwei Kinder und eine lachende Frau. Die Arbeit reißt nicht ab in dieser Stadt. Um sechs Uhr abends zieht er den weißen Arztkittel aus. Darunter trägt er eine dunkle Hose und ein kurzärmliges Hemd. Er macht die Ambulanz hinter sich zu, wo auf allen Schreibarbeiten die verschiedensten Beschwerer liegen – Steine, Tintenfässer, ein Spielzeugauto, mit dem sein Sohn nicht mehr spielt –, um zu verhindern, daß sie vom Ventilator weggefegt werden. Er steigt aufs Fahrrad und fährt die sechs Kilometer nach Hause, durch den Basar. Wann immer es geht, lenkt er das Fahrrad auf die schattige Seite der Straße. Er ist in dem Alter, wo ihm mit einemmal bewußt wird, daß ihn die Sonne Indiens erschöpft.

Er fährt unter den Weiden am Kanal entlang und hält dann vor einer Häuserzeile, entfernt die Hosenklammern und trägt das Fahrrad die Stufen hinunter in den kleinen Garten, um den sich seine Frau liebevoll kümmert.

Und etwas an diesem Abend hat den Stein aus dem Wasser geholt und ihn durch die Lüfte zurück zu dem italienischen Bergstädtchen fliegen lassen. Vielleicht war es die chemische Verbrennung auf dem Arm des Mädchens, das er heute behandelt hat. Oder die Steintreppe, wo braunes Unkraut neben den Stufen wuchert. Er trug sein Fahrrad und war schon halb die Stufen hoch, bevor er sich erinnerte. Auf dem Weg zur Arbeit war das, und so wurde die Erinnerung aufgeschoben, als er ins Krankenhaus kam und sieben lange Stunden Patienten betreute und Verwaltungskram erledigte. Oder es war doch die Verbrennung auf dem Arm des jungen Mädchens gewesen.

Er sitzt im Garten. Und er beobachtet Hana, inzwischen mit längerem Haar, im eigenen Land jetzt. Und was tut sie? Er sieht sie immer, ihr Gesicht und ihren Körper, aber er weiß nicht, welchen Beruf sie hat oder in welchen Verhältnissen sie lebt, obwohl er ihre Reaktionen auf andere sieht, wie sie sich hinunterbeugt zu Kindern, eine weiße Kühlschranktür hinter sich, lautlose Straßenbahnwagen im Hintergrund. Es ist eine begrenzte Fähigkeit, mit der er da ausgestattet ist, als zeigte ein Film Hana, doch nur sie, stumm. Er kann den Kreis, in dem sie sich bewegt, nicht erkennen, auch nicht ihre Ansichten; er nimmt einzig ihren Charakter wahr und das Längerwerden ihres dunklen Haars, das ihr immer wieder in die Augen fällt.

Sie wird, wie ihm jetzt klar wird, stets ein ernstes Gesicht haben. Sie hat sich aus der jungen Frau zu einer Frau mit der Gesetztheit einer Königin entwickelt, zu einer, die ihr Gesicht durch den Willen geformt hat, eine ganz bestimmte Art Person zu sein. Er mag das immer noch an ihr. Ihre Gewitztheit, die Tatsache, daß sie nicht zufällig diesen Gesichtsausdruck oder diese Schönheit geerbt hat, sondern daß das gewollt war und immer ihre augenblickliche Verfassung wiedergeben wird. Es scheint, daß er so sie alle zwei Monate auf diese Weise wahrnimmt, als wären diese Momente der Offenbarung eine Fortsetzung der Briefe, die sie ihm ein Jahr lang geschrieben hat, ohne eine Antwort zu erhalten, bis sie damit aufhörte, abgewiesen von seinem Schweigen. Von seinem Charakter, vermutete er.

Jetzt hat er oft das Bedürfnis, mit ihr während einer Mahlzeit zu sprechen und zu dem Stadium zurückzukehren, als sie am vertrautesten miteinander waren, im Zelt oder im Zimmer des englischen Patienten, beides Orte, die die heftige Strömung des Raums zwischen ihnen eindämmten. Wenn er sich an die Zeit erinnert, ist er von sich ebenso gebannt wie von ihr – jungenhaft und ernst, sein biegsamer Arm bewegt sich durch die Luft zu dem Mädchen hin, in das er sich verliebt hat. Seine nassen Stiefel stehen an der Tür der italienischen Villa, die Schnürsenkel zusammengebunden, sein Arm berührt ihre Schulter, da ist die auf dem Bett ausgestreckte Gestalt.

Während des Abendessens schaut er seiner Tochter zu, wie sie mit dem Besteck kämpft und die großen Waffen in ihren kleinen Händen zu halten versucht. An diesem Tisch sind alle Hände braun. Sie bewegen sich unbefangen in ihren Sitten, Gebräuchen. Und seine Frau hat ihnen allen einen ausgelassenen Humor beigebracht, den sein Sohn geerbt hat. Er liebt es, die Pfiffigkeit seines Sohnes in diesem Haus zu sehen, die ihn ständig verblüfft, die sein eigenes Wissen und seinen Humor und den seiner Frau übertrifft – die Art, wie er sich auf der Straße zu Hunden verhält, ihren Gang nachahmt, ihr Aussehen. Er liebt es, daß dieser Junge die Wünsche eines Hundes fast erraten kann anhand der Ausdruckspalette, die einem Hund zur Verfügung steht.

 

Und Hana bewegt sich möglicherweise in einem Kreis, den sie sich nicht ausgewählt hat. Sie, selbst in diesem Alter von vierunddreißig, hat nicht ihresgleichen gefunden, diejenigen, die sie hat haben wollen. Sie ist eine Frau mit Ehrgefühl und Gewitztheit, deren wilde Liebe das Glück ausläßt, immer waghalsig, und etwas ist jetzt in ihrer Miene, das nur sie im Spiegel erkennen kann. Ideales und Idealistisches in diesem glänzenden dunklen Haar! Die Leute verlieben sich in sie. Sie erinnert sich noch an Verse, die der Engländer ihr aus seinem Notizbuch vorlas. Sie ist eine Frau, die ich nicht gut genug kenne, um sie unter meine Fittiche zu nehmen, sollten denn Schriftsteller Flügel haben, und ihr für den Rest meines Lebens Schutz zu gewähren.

Und so bewegt sich Hana, und ihr Gesicht wendet sich ab, und mit Bedauern löst sie das Haar. Ihre Schulter stößt an die Kante eines Geschirrschranks, und ein Glas rutscht heraus. Kirpals linke Hand saust herab und fängt die fallende Gabel wenige Zentimeter vom Boden entfernt auf und schiebt sie sanft in die Finger seiner Tochter, Fältchen an seinen Augenwinkeln hinter der Brille.