36

Kindra

Verbindungen

Toryns Finger lagen fest um mein Handgelenk, als er mich den dunklen Korridor entlang und zurück zur Kammer zerrte, in der ich die letzten Wochen verbracht hatte. Hastig umschloss ich den Türrahmen und brachte uns damit zum Stehen.

»Ich will nicht wieder hier rein«, presste ich hervor.

Seine Finger glitten von meinem Arm und er stand mit dem Rücken zu mir. »Du hast keine Ahnung, was du da draußen getan hast, oder?«

»Woher auch?«, fragte ich aufgebracht.

»Wie kann es sein, dass du schon so weit bist!«

»Wie weit?«

Brummend schüttelte er den Kopf und fuhr fort. »Das dauert Jahre.« Über die Schulter warf er mir einen schnellen Blick zu. »Ich fand die Verbindung erst letztes Jahr!«

In seinem Gesicht kämpfte sich verletzter Stolz an die Oberfläche und rang mit der Neugier in seinen Augen. Toryn zeigte gern, was er konnte. Wie stark seine Kraft war oder wie viel die große Schwester von ihm hielt.

»Von welcher Verbindung sprichst du?«

Er rieb sich den Nacken und ging einige Schritte ins Innere. »Wir nennen sie Die Magie der Natur. Sie gleicht der Magie, die uns durchdringt, und sie befindet sich in allem – jedem Grashalm und jedem Stein. Du hast nach ihr gegriffen und eine Verbindung hergestellt.«

»Sie ist wie unsere eigene Kraft?«

Sein Blick huschte über mein Gesicht. »Wir glauben, dass die Drachen in ihre Elemente zurückgekehrt sind und diese mit ihrer Magie gespeist haben. Diese Macht durchdringt unsere Welt.«

Goldene Funken tanzten vor meinen Augen. Der Mann in der Sonne. Meine Halluzination. Hatte ich mir das nicht nur eingebildet? Ich packte Toryn am Oberarm. »Die Drachen existieren noch?«

Er schob meine Hand fort. »Keine Ahnung, Kindra.« Seine Stimme nahm einen genervten Klang an. »Es gibt Magie in jedem winzigen Stück der Welt. Jeder Teil von Odre hat einen Kern und seine eigene Kraft. Die Farben …« Energisch zuckte er mit den Schultern. »Es deutet auf die Drachen hin, aber keiner weiß etwas Konkretes.«

Magische Kerne, die unsere Welt erfüllen. Mir wurde schwindelig. »Ich glaube, ich habe einen von ihnen getroffen.«

Toryns zog die Augenbrauen zusammen. »Wen?«

»Unseren Vater. Den Sommerdrachen.«

Über sein Gesicht huschten die unterschiedlichsten Regungen. Seine Lippen öffneten sich zu einem erstaunten Oh. Doch dann verengte er die Augen. »Das kann nicht sein.«

Ich seufzte und setzte mich auf den Boden. Der Ausflug nach draußen hatte an meiner Kraft gezehrt. Oder war es die Verbindung gewesen, die ich eingegangen war?

»Wie sah er aus?«, fragte Toryn und setzte sich mir gegenüber hin. Seine Neugier siegte.

»Irgendwie menschlich und gleichzeitig fremdartig.« Ich suchte nach Worten, während Toryn sich zu mir beugte. »Schuppen bedeckten seine Haut und er war wie goldenes Licht.«

Toryn nahm die Hände ans Kinn und starrte auf den Boden zwischen uns. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Du darfst die Verbindung dennoch nie wieder eingehen.«

»Warum?« Das Bild des Mannes kreiste durch meine Gedanken. War es wirklich der Sommerdrache gewesen? Hatte ich meinen Vater in seiner menschlichen Gestalt getroffen? Oder war es nur eine Vision meiner Ohnmacht gewesen?

»Kindra«, sagte Toryn ernst und griff nach meinen Schultern. Seine Augen sahen mir fest entgegen. »Das ist die zweite Stufe unserer Lehre. Zuerst die eigene Kraft beherrschen. Dann sich vor der Kraft der Natur schützen.«

»Aber warum?«

»Es ist gefährlich«, beharrte er.

»Das sagtest du bereits.«

»Kindra!« Toryn seufzte genervt. Sein Gesicht kam mir näher, war so dicht vor meinem, dass ich seinen Atem spüren konnte.

Mein Körper versteifte sich und ich wandte mich ab.

Leise flüsternd drang seine Stimme zu mir. »Selbst die erfahrensten Krieger sind daran gescheitert. Die Verbindung wieder zu lösen ist unmöglich.«

»Aber du hast sie gelöst«, erwiderte ich.

»Ja, ich. Aber hättest du es selbst gekonnt?«

Die Macht hatte meinen Kern fest umklammert. Bevor es mir gelang, mich zu befreien, hatte Toryn reagiert. Aber nach meinem eigenen Kern hatte ich im Training so oft vergeblich gesucht. Hier musste ich es auch erst lernen.

»Ich …«, setzte ich an, doch Toryns Blick ließ mich verstummen. »Vermutlich nicht«, antwortete ich. Auch wenn mir etwas anderes auf der Zunge brannte. »Was ist mit denen passiert, die die Verbindung eingegangen sind?«, fragte ich stattdessen.

Seine Miene verfinsterte sich. »Sie erlangten unglaubliche Macht und starben.«

»Wie?«

»Was eben passiert, wenn die Macht überhandnimmt. Explosionen, Implosionen.« Toryn warf die Hände in die Luft. »Der eigene Kern ist für manche schon zu mächtig«, meinte er und bedachte mich mit einem Blick, der mich an das Schicksal erinnerte, das mir die letzten Wochen so kurz bevorgestanden hatte. »Deine Magie ist ein Witz verglichen mit der Größe dieser Macht.«

»Starben alle?«

»Fast alle.« Wir starrten uns eine Weile an, führten ein stummes Duell, bis er seufzte und weitersprach. »Alle, die sich wieder lösen konnten oder Hilfe bekamen, zahlten einen Preis dafür, dass sie von der Macht der Welt gekostet hatten.«

»Was für einen Preis?«

»Ihre Magie verschwand. Sie verloren Gliedmaßen. Erblindeten.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern, das mir eine Gänsehaut über die Arme jagte. »Sie waren nie wieder wie vorher.«

Ich schlang die Arme um den Körper. Zum einen verängstigt von den Folgen, die mich hätten treffen können. Aber auch vor Ehrfurcht. In jedem Teil unserer Welt schlummerte eine beispiellose Kraft. Wenn jemand diese entdeckte oder sogar nutzte, wohin würde uns das führen?

»Wir müssen Tanidra davon erzählen«, raunte Toryn und erhob sich. »Von der Verbindung, die du eingegangen bist, aber auch von deiner Begegnung.«

»Wird sie mir glauben?«, fragte ich und folgte ihm aus der Kammer.

»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Darüber hat sie sich oft mit Omb gestritten.«

Die Tür knarrte in den Angeln, als sie zur Seite schwang und den Blick auf die große Schwester freigab. Tanidra beugte sich über den Schreibtisch, die Hände links und rechts neben einem Stück Papier abgestützt.

Toryn trat ein und ich folgte ihm mit einem Schritt Abstand. »Bitte verzeih die Störung«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. »Was wollt ihr? Ich habe keine Zeit.« Ihre Finger gruben sich leicht in das Papier und das Material knisterte.

»Kindra hat die Verbindung zur Natur gefunden.«

»Was?«, fragte sie und hob den Blick, um mich anzusehen. Im Halbdunkel, nur mit dem Licht der magischen Lampe auf den Gesichtszügen, wirkte sie wie eine Katze, die zum Sprung ansetzte.

»Heute«, antwortete ich, während ihre Musterung mich durchdrang. »Es war ein Versehen«, fügte ich hinzu.

»Ich konnte die Verbindung schnell lösen«, warf Toryn ein und trat näher an den Schreibtisch.

»Gut«, sagte sie knapp. »Fahrt mit dem Training fort.« Sie wandte sich wieder dem Papier zu. Die Schrift war krakelig und schwer zu entziffern. Ich legte den Kopf schräg. Benachrichtigung, stand in der ersten Zeile. Darunter: Odissa.

Toryn wechselte einen Blick mit mir. In seinem Gesicht stand deutlich, wie sehr ihn Tanidras Reaktion irritierte. Was konnte so wichtig sein, dass sie etwas Gefährliches wie die Verbindung zur Welt mit einem Gut abtat? »Es gibt noch etwas«, sagte Toryn dennoch und hielt an seinem Vorhaben fest. Er klopfte mir leicht auf die Schulter und signalisierte mir, von meiner Vision zu erzählen.

Tanidras Verhalten verunsicherte mich. »Ich habe zuvor einmal Magie gesehen. Es begegnete mir ein Mann aus goldener Energie. Übersät mit Schuppen und mehr Drache als Mensch.«

Aufmerksam sah mich Tanidra an und ließ sich langsam auf ihrem Stuhl nach hinten sinken. Als wäre sie aus ihrer Starre erwacht, fragte sie mich nach jedem Detail, bis ich keine Fragen mehr beantworten konnte.

Ihr Blick verlor sich in der Ferne, während sie gedankenverloren über die Nachricht strich, die auf ihrem Tisch lag. Vergilbtes Pergament, zusammenhanglose Worte, die zuerst keinen Sinn ergaben. Wieder las ich Odissa, den Namen der eisernen Hauptstadt. Hügel, Blomdeck, Angriff.

Plötzlich fügten sich die Bruchstücke zu einem Bild.

Mit den Handflächen schlug ich auf den Tisch und beugte mich vor. »Die Eisenmänner marschieren?«, rief ich aus. »Sie greifen Blomdeck an?«

Mit meinem Aufschrei riss ich Tanidra aus ihren Gedanken und sie sah erst mich an, dann die Nachricht. »Ja.«

»Was?« Toryn trat an den Schreibtisch und fasste mich an der Schulter.

Zitternd deutete ich auf das Papier, während der Boden unter meinen Füßen schwankte. Mein Kopf war wie leer gefegt. »Die Truppen in Odissa rüsten auf. Sie wollen einmarschieren«, hauchte ich, und auch als ich es zum zweiten Mal aussprach, konnte ich es nicht so recht begreifen.

Toryn riss seine Augen auf und klammerte sich an die Tischkante. »Ist das wahr?«

Tanidra nickte trocken.

Die Wände rückten auf mich zu, machten mir das Atmen schwer. Um Halt zu finden, stützte ich mich auf den Schreibtisch. »Wir müssen etwas unternehmen.«

»Sind wir hier sicher?«, fragte Toryn zur selben Zeit.

Ich warf ihm einen schnellen Blick zu. Das war nicht sein Ernst! »Keiner ist mehr sicher, wenn der König hier einfällt!«, zischte ich. »Wir müssen sie aufhalten.«

»Wie stellst du dir das vor?«, begehrte Toryn auf.

Bestimmt hob Tanidra die Hände und wir verstummten. »Wir werden nichts tun.«

Sofort öffnete ich den Mund, um zu protestieren, aber sie fuhr fort: »Wir können nichts tun. Es sind zu viele!«

Meine Beine wurden jeden Moment schwerer und drohten unter mir zusammenzubrechen.

»Aber …« Ihre Stimme klang sanfter, als sie sich an Toryn wandte. »Wir sind hier in Sicherheit.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Während unser Land unterworfen wurde, sahen sie zu?

»Kindra.« Sie stand auf. »Wir sind vielleicht fünfzig Goldkinder in diesem Dorf, von denen sich einige in den Städten befinden, um einzukaufen und unsere Ressourcen aufzustocken. Der Kriegszug wird nicht durch die Wüste marschieren, sondern nördlich von hier über die grünen Hügel.«

»Und du glaubst, das schützt euch?«, blaffte ich sie an und starrte auf die Nachricht. »Glaubt ihr, es wird aufhören? Sie werden das Land auseinandernehmen, bis sie jedes Goldkind in den Fingern haben!«

»Die Reise durch die Wüste ist anstrengend. Sie werden nur kleine Trupps zur Erkundung schicken.«

Toryn beruhigte sich und fand sein Selbstvertrauen wieder. »Mit kleineren Gruppen werden wir problemlos fertig.«

Angewidert wich ich einen Schritt nach hinten aus. »Ihr wollt euch verstecken.« Meine Schultern bebten. »Während unser Land untergeht.«

Es war falsch, Toryn, Tanidra und die anderen zu verurteilen, dass sie in Ruhe leben wollten. Damals hatte ich dasselbe in Grünfrey gemacht. Ich war sogar hierhergekommen, um Zuflucht zu finden.

Aber ich konnte den König nicht ungestraft ziehen lassen. Nicht, nachdem ich die Ernte am eigenen Leib erfahren hatte. Ihn in unserem Land zu wissen, war, als würde ich eine Seuche unkontrolliert über meine Heimat ziehen lassen.

Das ließ ich nicht zu!

Selbst wenn ich mich ihm allein gegenüberstellen musste.

Ich war bereit, ihn meine Magie spüren zu lassen. Wenn es sein musste, sogar die der ganzen Welt.