Als der Dealer verkündete, dass die Pause begann, holte Sara sofort ihr Handy.
Erst nach dem vierten Klingeln hob jemand ab. »Bäseke?«
»Sara Hansen hier. Frau Bäseke, wir hatten vorhin im H3 miteinander zu tun. Ich wollte mich erkundigen, ob Sie schon etwas Neues haben – wegen der Mineralwasserflasche.«
»Oh. Ja, Frau Hansen.« Pause.
Das klang nicht gut.
»Was meinen Sie mit ›Oh‹?«
»Oh, es tut mir leid. Ich hatte Sie längst anrufen wollen, wir sind nur von einem Einsatz zum nächsten gehetzt. Eine verrückte Schicht heute. Sobald wir es dazwischen schieben können, fahren wir in die Rechtsmedizin.« Sie räusperte sich. »So eilig wird es ja schon nicht sein.«
Sara hätte vor Frustration schreien können. ›Sie haben mir versprochen, umgehend in die Rechtsmedizin zu fahren, Frau Bäseke‹, hätte sie sagen können, um der Kollegin ins Gewissen zu reden. Doch Sara bezweifelte, dass das etwas nutzen würde. Wenn sie Pech hatte, würde die Polizistin auf stur schalten und die Flasche am Ende erst morgen abliefern. Oder überhaupt nicht. Es war ja schließlich kein echtes Beweisstück, sondern nur eine Gefälligkeit für eine Kollegin. Also verkniff sie sich sämtliche unfreundlichen Kommentare, die ihr auf der Zunge lagen, und sagte stattdessen: »Oh, verstehe.«
»Untersucht wird das sowieso frühestens am Montag«, hörte sie die Kollegin sagen und es schien, als wolle sie noch weiter sprechen. Aber Sara war nicht in der Stimmung für dieses Gespräch.
»Es würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie demnächst die Zeit finden, die Flasche abzugeben, Frau Bäseke«, sagte sie deshalb nur. »Zur Not können Sie sie auch zurück ins H3 bringen, damit ich mich selbst später drum kümmere.«
Ihr Tonfall entging Bäseke nicht. »Kein Grund schnippisch zu werden, Frau Hansen. Wir erledigen das schon noch, wie wir gesagt haben.«
»Danke«, sagte Sara, »und ein ruhiges Schichtende für Sie beide.« Wehe, sie brachten die Flasche nicht weg, dachte sie.
Linus lachte. Selbstverständlich traf es seinen Sinn für Humor, dass die Streifenpolizisten ihre inoffiziellen Ermittlungen verschleppten. Sara hatte sich mit ihm unten in der Lobby getroffen. Es war bereits weit nach Mitternacht. Einige Pokerspieler waren auf der 18. Etage geblieben, einige kurz in ihre Zimmer gegangen. Außer zwei Frauen am Empfang war gerade niemand in der Eingangshalle. Sara konnte sich vorstellen, wie sie das unter anderen Umständen genossen hätte. Mitten in Hamburg in einem schicken Hotel. Alles ruhig, fast allein. Mit Linus. Hör auf zu grübeln, stoppte sie ihre abschweifenden Gedanken selbst.
Linus wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, während er lachte. Sara hätte ihn am liebsten gepackt und geschüttelt und, nein, danach hätte sie ihn nicht geküsst. Sie kniff die Lippen zusammen.
»Wir haben es mit einem Mord zu tun, Linus. Daran ist nichts komisch.«
»Ja, ja, schon gut, ich zeige dir, was ich in der Zwischenzeit alles herausgefunden habe. Deine Ausbeute war ja anscheinend ziemlich mager.«
»Ich bezweifle, dass sie dir mehr erzählt hätten.« In Saras Stimme klang ihre Zerknirschung an.
»Diesen Velasquez fand ich recht zugänglich. Er hat das mit der Pokerplattform bestätigt und gesagt, Liam Newton sei involviert. Newton war lange bei einem der anderen großen Anbieter unter Vertrag, bevor er für das Projekt mit Dixon dort ausgeschieden ist. Könnte mir vorstellen, dass ihn die Angelegenheit eine Menge Geld gekostet hat.«
»Was hast du über Korhonen herausgefunden?«
»Sie fährt gern Langlauf. Ich weiß, wenig überraschend für eine Finnin.«
»Hat das etwas mit unserem Fall zu tun?«
»Vielleicht. Es scheint leider nicht viele Homestorys von Pokerspielern zu geben. Nur Hunderte YouTube-Videos von irgendwelchen Turniermitschnitten. Aber ich habe das hier gefunden.« Er rief einen Artikel aus einer finnischen Zeitung auf, den er im Netz entdeckt hatte. Das Übersetzungsprogramm hatte zwar keine perfekte deutsche Fassung liefern können, aber es reichte, um den Inhalt zu verstehen. Wichtiger war jedoch eines der Fotos, das Linus ihr nun lächelnd zeigte: Korhonen vor einer Winterlandschaft auf Skiern, in dicker Jacke und roter Mütze. Und neben ihr – grinste ein ähnlich gekleideter Joel Dixon in die Kamera.
»Ich wette, die zwei waren mehr als nur Bekannte oder Kollegen«, sagte Linus.
»Sieht ganz so aus«, sagte Sara. »Von wann ist die Geschichte?«
»Anderthalb Jahre her.«
»Hast du noch mehr Bilder von den beiden zusammen gefunden?«
»Die wenigsten hätten das hier entdeckt«, sagte er.
Sara verdrehte die Augen, anstatt ihm ein Kompliment zu machen.
»Okay«, sagte er. »Nur das eine.«
»Vielleicht war es schnell wieder vorbei zwischen ihnen?«
»Ja, so was kann passieren«, sagte Linus und seufzte betont. »Schade ist das. Wirklich schade.«
Saras Kinnlade klappte runter. Redete er noch über Korhonen und Dixon? Oder über sie beide?
»Du … Wir«, sie schloss den Mund, ehe sie weiterstammelte, schluckte. »Du sagtest ja schon, dass Dixon wechselnde Liebschaften hatte.«
»Ja, das passt ins Bild. Was hältst du von Korhonen?«, fragte Linus.
»Ich weiß nicht so recht … Erst dachte ich, sie ist völlig aus der Fassung, weil sie um Dixon trauert. Aber jetzt würde ich sagen, dass sie etwas verheimlicht.« Die Hand, die sie gegen Korhonen verloren hatte, verschwieg sie. Die Poker-Details würden Linus kaum interessieren.
»Hast du schon mit Ted Ashen gesprochen?« Linus’ Frage überraschte Sara.
»Nein, wieso?«
»Er kannte Dixon am längsten. Wenn es etwas Ungewöhnliches in Dixons Leben gab, dann wird er es am ehesten wissen. Außerdem bieten lange Bekanntschaften auch die meiste Zeit, um einen Groll gegen jemanden zu entwickeln.«
»Ja, keine schlechte Idee«, sagte Sara. »Ach ja, was weißt du über Clemens Bahring?«
»Den Reedersohn? Wo soll ich anfangen?«
Sara schlug sich die Hand an die Stirn. »Oh mein Gott. Daher kenne ich ihn.«
»Sag jetzt nicht, du hast ihn nicht erkannt?«
Die Bahrings waren eine bekannte Hamburger Familie. Mit ihren Millionen aus dem Reedereigeschäft unterstützten sie diverse soziale Projekte. Frau Bahring war Schirmherrin von gut einem Dutzend Stiftungen. Clemens war das schwarze Schaf der Familie. Man hatte ihn schon des Öfteren bei Straßenkontrollen aus dem Verkehr ziehen müssen, weil er betrunken gefahren war. Sara erinnerte sich dunkel, dass Clemens Bahring vor einer Weile einen Club auf der Großen Freiheit eröffnet hatte, der wenig später Pleite gegangen war. Es hieß, seine Kompagnons hätten ihn übers Ohr gehauen. Nachdem sie ihn heute kennengelernt hatte, war Sara gewillt, das zu glauben.
»Wie spielt er denn?«, fragte Linus.
»Es ist ein Wunder, dass er so weit gekommen ist, der Fish.«
»Fisch?«
»Nein. Ef, Ii, Es, Ha«, buchstabierte Sara. Und übersetzte: »Fish. Total schlechter Spieler.«
»Ihr Pokerspieler habt eine lustige Geheimsprache entwickelt. Warum sagst du nicht einfach Verlierer? Idiot? Spacken?«
»Weil er ein Fish ist!«
»Und kein Spacken?«
Sie verdrehte die Augen.
»Wie hat der Fish denn so lange durchgehalten?«, fragte Linus.
»Glück.« Sara zuckte mit den Schultern »Außerdem hat er einigen Leuten ihre Stacks abgekauft. Ein teurer Spaß.«
»Eine besondere Verbindung zu Dixon hatte er wohl nicht?« Linus schwankte zwischen Frage und Feststellung.
»Das wissen wir nicht«, meinte Sara nur.
Linus rief noch ein paar Artikel und Fotos auf, die er entdeckt hatte, aber es war nichts dabei, was Saras Aufmerksamkeit weckte. Mads Richardsen, der stille Däne, hatte in den vergangenen Monaten eine Erfolgsserie bei kleineren europäischen Turnieren hingelegt. Völlig blank war Linus bei Kurt Hofmann. »Das ist kein Name, sondern ein Sammelbegriff«, sagte er. »Falls er Profile in den üblichen Netzwerken hat, dann ohne Fotos und genauere Angaben – ich konnte ihn nirgends entdecken.«
»Der Typ ist nicht koscher«, sagte Sara.
»Du wirst etwas paranoid.« Linus lächelte, aber die Bemerkung traf Sara trotzdem.
»Ich sitze wahrscheinlich mit einem Mörder am Tisch. Eigentlich hätten die Kollegen von der Kripo die achtzehnte Etage längst absperren und alle Anwesenden befragen sollen.«
»Aber die Kripo ist nicht hier. Und du musst zugeben«, Linus senkte seine Stimme weiter, sodass er beinahe flüsterte, »etwas Spaß bringt es dir schon.«
Sara schnaubte. Linus kannte die Antwort. Manchmal bereute Sara, dass sie zu Schutzpolizei gegangen war statt zur Kripo. Sie träumte von solchen Fällen, in denen es um Gerechtigkeit ging und darum, einen Tick schlauer zu sein als der Täter. Stattdessen nahm sie an den immer gleichen Bahnstationen die immer gleichen Jugendlichen fest und rückte bei den immer gleichen aufgeregten nächtlichen Anrufern an, die sich darüber beschwerten, dass die Nachbarn – wie immer – zu laute Partys feierten. Sara hatte den Anspruch, mit ihrer Arbeit dazu beizutragen, aus der Welt einen etwas besseren, etwas sichereren Ort zu machen. Aber manchmal bezweifelte sie, dass ihre tägliche Routine irgendeinen Sinn ergab. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte einen Mörder jagen. Und heute Abend tat sie genau das.
»Ja, ja«, sagte sie schließlich zu Linus. »Aber verrate es keinem.«
»Ich werde schweigen wie ein Grab.« Er runzelte die Stirn, als er das sagte. Um dann betont breit zu grinsen. »Du kannst mir vertrauen, weißt du doch«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
Sara kam das seltsam vor, als würde er sie von etwas ablenken wollen. Aber sie hatte gerade keine Zeit, sich um Linus’ Innenleben zu kümmern.
Als Sara sich noch einmal das Foto von Korhonen und Dixon auf dem Tablet ansah, streifte ihre Hand seine. Sara spürte ein Kribbeln ihren Arm hochlaufen und hielt einen Moment die Luft an. Sie durfte jetzt bloß nicht rot werden, dachte sie, doch da war es schon zu spät. Linus blickte zu ihr hinüber. Sara biss sich auf die Zunge und zog ihre Hand zurück. Sie hatte gerade mehr als genug Informationen zu verarbeiten. Da musste ihr nicht noch Linus dazwischenfunken.
Sie bat ihn, sich endlich bei den Kellnerinnen umzuhören.
»In Ordnung, wird erledigt. Es gibt sicher noch einiges, was ich im Netz zu Dixon ausgraben könnte. Aber vielleicht gucke ich dir einfach eine Weile beim Spielen zu«, sagte er.
»Das wirst du nicht!«
»Wieso? Mache ich dich nervös?«
Beinahe hätte sie ihn getreten.