Gutshot

Sara stürzte schnell einen schwarzen Kaffee an der Bar hinunter, während sich die Spieler wieder am Tisch einfanden. Nach Dixons Tod hatte sie die von den Kellnerinnen ausgeschenkten Kaltgetränke gemieden.

Ihre Gegner, die sich nach und nach versammelten, sahen allesamt so erschöpft aus, wie Sara sich fühlte. Sie hatten zwei Tage Pokern hinter sich, das zehrte nicht nur an den Nerven, sondern forderte auch Kondition.

Früher hatte Sara über Leute gelacht, die Schach als Sport bezeichneten. Man saß doch nur herum – sie erinnerte sich daran, das als Jugendliche zu einem Schach spielenden Mitschüler gesagt zu haben. Sara war immer sportlich gewesen. Für Sitzsportler hatte sie daher wenig übrig gehabt. Heute würde sie diese Aussage zurücknehmen. Pokern war zwar kaum mit einem Dauerlauf vergleichbar, aber es forderte dennoch Konzentration, Ausdauer und Nervenstärke. Beim Schach war es sicher genauso.

»Hallo Sara«, begrüßte Liam Newton sie, als Sara sich setzte. Grigori Jarun, der den Platz zwischen ihnen hatte, telefonierte ein Stück weit entfernt.

»Hallo, Herr Newton.« Sara widerstrebte es, ihre Mitspieler zu duzen, also blieb sie dabei, sie mit dem Nachnamen anzusprechen.

»Das ist dein erstes großes Turnier, oder?«

Newton wollte sie ausloten, das war Sara klar. Sie zuckte mit den Schultern. »Und wenn es so wäre?«

»Wenn es so wäre, schlägst du dich wirklich gut. Glückwunsch!« Newtons Sonnenbrille lag vor ihm auf dem Tisch, sodass Sara in seine blassgrauen Augen blicken konnte. Es kam ihr vor, als spiegelte sich in ihnen echtes Interesse wider.

»Ich habe viel online gespielt«, log sie. »Stimmt es, dass Sie eine Plattform mit Joel Dixon aufmachen wollten?«

Er kniff kurz die Augen zusammen. »Wer hat das denn erzählt?«

»Och, man schnappt hier und da mal was auf. Wieso? War es ein Geheimprojekt?«

Der Brite schob sich die Sonnenbrille auf die Nase, ehe er antwortete. »Publik war es jedenfalls nicht. Du bist eine ziemlich neugierige Person, kann das sein?« Er klang nicht ärgerlich, als er das sagte, sondern eher amüsiert.

In diesem Moment schob sich Grigori Jarun zwischen sie, daher antwortete sie Newton nicht mehr. Die Dealerin, die nun den Tisch übernommen hatte, verteilte die ersten Karten. Ihre Haare waren schon mehr grau als schwarz, doch sie sah ansonsten eher jung aus. Wie ihre Kollegen trug sie eine schlichte dunkle Hose, Hemd, Weste und Handschuhe.

»Die Einsätze bitte und viel Glück allerseits«, sagte die Frau mit überraschend tiefer Stimme. Damit war sie Sara schon nach einer Minute sympathischer als ihr verkniffener Kollege, den sie abgelöst hatte. Aber im Prinzip war ihr das egal. Hauptsache, die Karten stimmten.

Acht und Neun in Karo waren die ersten Handkarten. Suited Connectors, es gab Schlechteres. Alle vor ihr foldeten, hinter Sara blieben nur Jarun und Newton, der Small Blind war. Big Blind war Joel Dixon, dessen Stack bald aufgebraucht sein würde.

Sara setzte den dreifachen Big Blind, ein klassischer Zug. Jarun ging mit. Newton auch. Ärgerlich, das lief anders als erhofft.

Herz-Fünf, Pik-Sieben und Kreuz-Dame.

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Newton beugte sich vor. »Ach, so viel zum Flush-Draw, nicht wahr, Sara?«

Sie schluckte. Das konnte er doch jetzt nicht wissen, oder? Ihre Augen mussten sich etwas geweitet haben, als sie Newton anblickte. Sie sah ihn grinsen. Verdammt, fluchte Sara innerlich, sie hatte ihm etwas verraten. Beim nächsten Mal würde sie auch auf ihre Chips oder in die Tiefe des Raumes gucken anstatt zu Liam Newton, nahm sie sich vor.

Newton setzte, Sara bezahlte, Jarun stieg aus.

Die Dealerin legte einen Kreuz-König in die Tischmitte.

Newton setzte wieder. Sara begann zu rechnen. Das einzige, was sie jetzt noch rettete, war eine Sechs, mit der sie eine Straße hätte. Der Brite hatte getroffen, da war sie sich sicher. Es blieben also vier mögliche Karten im gesamten Deck, die ihr Blatt nach vorn katapultierten. Mit allen anderen würde sie verlieren. ›Gut­shot‹ hieß es, wenn man so seine Straße komplettierte. Bauchschuss. Sara hatte anfangs sehr gestaunt, wie reich die Pokersprache an brutalen Synonymen war. Inzwischen fand sie es passend. Es war ein brutales Spiel. »Das wird mir zu teuer«, murmelte sie, als sie ihre Karten wegwarf.

Innerlich seufzend setzte sie den nächsten Ante, als die Dealerin wieder Karten austeilte und beendete die Grübelei, ob sie den Gut­shot vielleicht getroffen hätte.

Linus bestellte sich ein Bier und trank es zur Hälfte aus, ehe er die erste Frage stellte. Der Tisch, an dem Sara und die anderen spielten, war von seiner Position aus zwar zu sehen, aber zu weit weg, um das Geschehen dort mitzubekommen. Sara saß zudem mit dem Rücken in seine Richtung, weshalb ihr bis jetzt entgangen war, dass er an der Bar saß.

Die Barfrau sah umwerfend aus. Sie glitt eher hinter dem langen Tresen entlang, als dass sie ging. Linus nahm an, dass sie ein gutes Stück kleiner war als er, doch weil der Bereich hinter der Bar erhöht lag, schaute sie auf ihn hinab. Ihre kurzen dunkelblonden Haare waren mit Gel zurechtgezupft, ihre Augen umgab ein feines Netz winzigster Lachfältchen. Als sie ihn anlächelte, formte sich ein Grübchen auf ihrer rechten Wange. Wie die Kellnerinnen trug sie einen kurzen dunkelblauen Rock. Sara zeigte in ihrem Outfit heute genauso viel Bein. Das hatte ihm gefallen. Linus stoppte diesen Gedankengang sofort. Mit ihnen beiden hatte es nicht funktioniert. Es war unsinnig, sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen. Er mochte Sara immer noch und es freute ihn, dass sie ihn heute angerufen hatte. Aber es war richtig, dass sie sich getrennt hatten.

Er nahm noch einen Schluck. Dass Polizisten bei ihren Ermittlungen keinen Alkohol trinken durften, erschien Linus als echter Nachteil. Wie viele Geschichten ihm erst nach ein paar Flaschen Bier oder mehreren Runden Schnaps erzählt worden waren!

Er winkte der Barfrau. Viel hatte sie um diese Uhrzeit nicht mehr zu tun.

»Ich bin Linus Milkrath«, stellte er sich vor. »Kann ich Sie etwas fragen?«

Sie verdrehte kurz die Augen.

»Keine Sorge, ich will Sie nicht angraben«, schob er deshalb hinterher. »Mich würde bloß interessieren, ob Ihnen heute etwas Seltsames aufgefallen ist. Ich bin Journalist.«

Sie guckte ihn forschend an. »Etwas Seltsames? Allerdings! Vorhin ist einer der Pokerspieler gestorben. Das haben Sie mitbekommen?«

Er nickte. »Ja, von dem Todesfall weiß ich. Das Drumherum würde mich interessieren.«

Sie legte die Unterarme auf den Tresen und stützte sich ab. »Ich habe von hier aus kaum etwas gesehen. War damit beschäftigt, ein paar Cocktails zu mixen, als es passiert ist.« Sie schob eine Pause ein. »Lisa hatte gerade Getränke an den Tisch gebracht.«

»Kann ich mit ihr sprechen?«

»Nein, sie hat schon Feierabend.«

»Könnte ich dann Lisas Telefonnummer bekommen?«

Die Barfrau lachte. »Auf gar keinen Fall.«

Linus fischte sein Portemonnaie aus der Jackentasche, doch sie legte ihre Hand auf seine, ehe er einen Schein herausholen konnte.

»Lassen Sie das mal stecken. Für kein Trinkgeld der Welt gebe ich die Nummer einer Kollegin heraus.«

»Schade. Ihre eigene vielleicht?« Linus lächelte sie an.

»Nachdem Sie nicht einmal nach meinem Namen gefragt haben?« Sie klang eher belustigt als verärgert, als sie das sagte, deshalb hakte Linus sofort nach.

»Ich habe mich vorgestellt. Sie waren nur nicht höflich genug, das gleiche zu tun.« Er zeigte mit dem Finger auf sie und legte den Kopf etwas schief. Das wirkte.

»Gutes Argument. Ich bin Pia«, sie reichte ihm die Hand.

»Freut mich, Pia. Es würde mir sehr weiterhelfen, wenn du mir erzählst, ob dir vorhin etwas aufgefallen ist.«

Jetzt schien sie tatsächlich zu überlegen. »Ich habe gesehen, wie der ältere Amerikaner die Frau geohrfeigt hat, als sie hysterisch schrie. Und ich habe einen anderen Spieler weinen sehen«, sagte Pia.

Ihr Blick ging in Richtung des Pokertisches. Linus war klar, dass die hysterische Frau Korhonen gewesen sein musste. Aber welcher Mann hatte geweint?

»Wer war das?«, fragte er.

»Der niedliche Blonde, der aussieht, als wäre er noch minderjährig.« Sie musste Mads Richardsen meinen.

»Was hat er denn genau getan?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht mehr genau. Es war ein ziemliches Durcheinander. Ich erinnere mich nur, wie er an der Bar vorbei in Richtung der Toiletten ging und wie ihm dabei die Tränen die Wangen hinunter liefen.«

»Danke«, er lächelte sie an.

Linus bestellte sich noch ein Bier, bevor er weiter im Netz Informationen über die Spieler suchte. Dabei fielen ihm als Erstes seine Notizen auf.

»Eine Frage noch«, rief er Pia zu, obwohl er keine große Hoffnung hegte, eine hilfreiche Antwort zu bekommen. »Kennst du zufällig Jenna?«

Sie hielt an, drehte sich langsam zu ihm. »Ja.« Mehr sagte sie nicht.

»Wirklich? Großartig! Woher?«

»Sie hat hier gearbeitet, wenn wir dieselbe meinen. Heißt eigentlich Jennifer, aber alle nannten sie Jenna.«

»Aber jetzt arbeitet sie nicht mehr hier?«

»Nein, sie hat vergangenes Jahr gekündigt.«

»Und wo ist sie jetzt?«

»Keine Ahnung. Wir haben seitdem keinen Kontakt mehr. Und du kennst sie – oder willst du bloß was von ihr?«

»Ach, das ist eine lange und öde Geschichte«, wich Linus aus. »Weißt du noch, wie lange es genau her ist, dass sie gekündigt hat?«

Jetzt zögerte Pia. »Warum interessiert dich das eigentlich alles?«

»Ist alles Teil einer großen Story.«

»Echt?« Sie klang skeptisch.

Linus überlegte, ob er Pia doch mit Trinkgeld überzeugen konnte, entschied sich aber gegen den Bestechungsversuch. Wäre sie auf Trinkgeld scharf, hätte sie sich erst einmal etwas geben lassen und ihn dann abgewimmelt. »Wirklich, glaub mir. Es wäre grandios, wenn du noch etwas über Jenna weißt.«

Pia schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber das war’s. Wir waren nur lose befreundet, so als Kolleginnen.«

»Ach komm, dann weißt du doch etwas.« Er hob die Hände hoch, als würde er beweisen wollen, wie harmlos er war. »Danach hast du was gut bei mir, versprochen.«

Sie hatten offensichtlich einen Draht zueinander, denn Pia lenkte erneut ein. »Sie war verlobt, wenn ich mich richtig erinnere«, sagte sie. »Schräg, oder? Wer verlobt sich heute noch so richtig offiziell mit Ringen und allem? Dabei wirkte Jenna eigentlich alles andere als konservativ.«

»Wie meinst du das?«

»Wie soll ich das wohl meinen?« Pia verdrehte die Augen.

»Verstehe. Und sonst?«

»Nee, mehr fällt mir wirklich nicht ein. Außerdem habe ich schon genug ausgeplaudert. Wenn du dich so sehr für Jenna interessierst, musst du sie selbst ausfragen.«

Das würde er ja gern, dachte Linus. Er musterte die Barfrau. Sara mochte auf ihren Polizisteninstinkt schwören, so viel sie wollte, er traute seinem eigenen mehr. Und Pia verschwieg ihm etwas. Vielleicht hatte sie bloß genug von seiner Fragerei. Vielleicht hatte seine Frage auch einen Punkt berührt, der ihr unangenehm war. Schade. Aber trotzdem würde er Sara etwas berichten können. Er lächelte. Beim kleinen Wettbewerb, wer mehr herausfand, lag er vorn, glaubte Linus.

Oder sollte er ihr doch bei der nächsten Gelegenheit vom Betablocker erzählen und damit das Spiel beenden? Nein, beschloss Linus endgültig. Er wollte Saras Theorie nicht zerstören. Vielleicht würde sie sich danach so sehr ärgern, dass sie postwendend beim Pokern verlor. Das würde sie ihm ewig nachtragen.

Linus nahm sein Tablet wieder zur Hand und begann, sich durch weitere Artikel über die Spieler zu wühlen. Bis zu diesem Abend hatte Linus Poker vollkommen ignoriert, was er gerade bereute. Einiges wäre garantiert leichter zu verstehen, wenn er das Spiel begriffen hätte und nicht zum ersten Mal etwas über Joel Dixon, Ted Ashen und die anderen lesen würde.

Sobald sich die Gelegenheit ergab, würde er die anderen Kellnerinnen nach Jenna fragen. Dass sie hier gearbeitet hatte, konnte erklären, wie sie das Geschenk in Dixons Zimmer hatte schmuggeln können. Linus bezweifelte allerdings, dass diese Ex-Kellnerin etwas mit dem angeblichen Mord zu tun hatte. Sicher war sie bloß eine der vielen Liebschaften von Joel Dixon gewesen.

Und dann starb der Herzensbrecher an einem Herzinfarkt. So profan war es wohl gewesen, dachte Linus.

*

Der Stack von Joel Dixon war aufgebraucht. Sara fühlte für einen Moment, auch wenn es ihr absurd erschien, einen Kloß im Hals.

»Jetzt endet sein letztes Turnier«, murmelte Tanja Korhonen.

»Ich hätte ihn zu gerne besser kennengelernt«, sagte Sara.

Ted Ashen schaute sie an, lächelnd und dennoch traurig. »Sie hätten ihn gemocht«, sagte er. »Und er sie.« Dann schwieg er wieder. Sara reichte ein Blick in seine Richtung, um zu wissen, das momentan nicht mehr aus ihm herauszubekommen war.