Was hatte Ted Ashen bloß auf der Hand? Sara sah sich plötzlich dem älteren Amerikaner gegenüber. In der Tischmitte lagen Karo-Sechs, Karo-Vier und Herz-Sieben. Sie hatte König und Dame in Herz. Ashen saß vor ihr und hatte gesetzt. Sara wollte callen, aber sie zögerte es hinaus und musterte stattdessen ihren Gegner.
Ashen blickte schräg nach unten, sodass es Sara unmöglich war, in seine Augen zu schauen. Wie Sara, Korhonen und Mads Richardsen verzichtete er auf die Sonnenbrille. Seine Hände lagen ineinander gefaltet mittig vor ihm. Er sah aus, als könne er jeden Moment in dieser Position einschlafen, so entspannt wirkte der Mann.
Wenn Sara ein sehr gutes Blatt hatte, fingen ihre Hände oft an zu zittern, das ging den meisten Spielern so. Sie bezweifelte, dass dies bei Ashen noch der Fall war. Im Gegensatz zu Newton begann er kein Gespräch mit ihr, sondern wartete still auf ihre Reaktion.
Ted Ashen und Joel Dixon waren viele Jahre befreundet gewesen. Trotzdem hatte Dixon sein Internetprojekt anscheinend mit Newton aufziehen wollen, nicht mit Ashen. Vielleicht hatte das einen Keil zwischen sie getrieben? Gleichzeitig ging Ashen sehr vertraut mit Tanja Korhonen um, die eine Affäre mit Dixon gehabt hatte. Verbarg sich dort irgendwo das Mordmotiv?
»Sie haben überhaupt noch nicht über Joel Dixon gesprochen«, sagte Sara zu ihm, während sie ihre Chips abzählte und in die Mitte schob.
Ashen schüttelte den Kopf, es war nur eine minimale Bewegung, die allerkleinste Neigung nach links, dann nach rechts, dennoch war die Geste ein deutliches Signal. Doch Sara blieb hartnäckig. »Er war doch Ihr Freund, oder?«
Rote Äderchen zogen sich durch das Weiß von Ashens Augen, als er Sara ansah.
»Ja«, sagte er. »Das war er.« Ashen atmete tief durch. »Und ich habe keine Worte dafür, wie sehr es schmerzt, dass er tot ist.«
Alle am Tisch blickten zu Ashen. Die Dealerin, die nächste Karte schon in der Hand, zögerte offensichtlich, diese umzudrehen.
»Wenigstens ist er bei dem gestorben, was ihm am liebsten war«, murmelte der Pokerprofi. Dann sah er zur Dealerin. »Bekommen wir endlich die nächste Karte?«
»Selbstverständlich«, sagte die Dealerin, und drehte den Pik-Buben um.
Ashen setzte wieder, allerdings nicht genug, um Sara aus dem Spiel zu drücken. Als die Dealerin als letzte Karte – eine Dame – umdrehte, klopfte Ashen nur und warf seine Karten weg, nachdem Sara die Mindestmenge an Chips gesetzt hatte. Sie fragte sich, was sie anstellen musste, damit die anderen sie nicht so leicht durchschauten, wie das offensichtlich momentan der Fall war. Gleichzeitig war sie aber froh über den gewonnenen Pot.
Wenige Hände später ging Clemens Bahring wieder All-In, diesmal ging Jarun mit. Der Deutsche verdoppelte seinen Stack erneut. Er gewann mit einem Paar Sechsen gegen Ass-König. Anna Kurnikowa, dachte Sara. Bei den Pokerspielern hatte sich der Name der hübschen russischen Tennisspielerin als Synonym für die Kartenkombination Ass-König durchgesetzt. Sie hatte in ihrer Karriere nicht eines der ProTour-Turniere gewonnen. Sah toll aus, verlor trotzdem.
Bahring hatte drei weitere Gläser Wein geleert. Demnächst musste ihn sein Glück einfach verlassen und damit wäre die Partie für ihn dann beendet. Sara hoffte, sie würde seine Chips einstreichen. Der Typ war nur noch ein Opfer in dieser Runde.
Etwa fünf Hände später sah Sara endlich wieder zusammen mit Korhonen einen Flop. Die Finnin hatte die gesamte Zeit davor nicht einmal in Saras Richtung geblickt. Sie wich ihr aus, dachte Sara, die immer fester davon überzeugt war, dass die Frau etwas verbarg. Sara hatte mit Junge-Zehn in Pik erhöht, als Korhonen im Big Blind saß.
Pik-Ass, Karo-König, Kreuz-König. Wo war Anna Kurnikowa, wenn man sie brauchte? Sara schluckte unwillkürlich, als sie den Flop sah und blickte dann sofort zu Korhonen, die sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt hatte.
Sara begann, Chips abzuzählen. Sie wollte zwar nur einen kleineren Betrag setzen, aber das sollte Korhonen ja nicht gleich wissen. Schließlich erhöhte sie um die Hälfte der Summe, die bereits im Pot lag.
Die Finnin musterte Sara, noch immer mit verschränkten Armen und ohne eine Miene zu verziehen.
»Ich habe ein Foto von Ihnen und Joel Dixon beim Skifahren gesehen«, sagte Sara.
Korhonens Augen wurden einen Moment sehr groß, ganz kurz biss sie sich auf die Lippen. Sara lächelte breit. Sie hatte ihre Gegnerin verunsichert. Mit einem Ruck löste sich Korhonen von der Stuhllehne, zählte die nötigen Chips ab und warf sie in die Mitte.
Als nächstes landete das Karo-Ass auf dem Tisch. Clemens Bahring raufte sich die Haare und rief »Ach, nein, das kann doch nicht angehen!«, während er mit der Hand gegen die Tischkante schlug. Ein Ass oder einen König hatte er also weggeworfen. Das verringerte das Risiko, dass Korhonen eines hatte.
Für einen kurzen Augenblick schien sich Sara mit Korhonen bestens zu verstehen, als sich ihre Blicke trafen. Sie hofften beide, dass der Hamburger zügig den Tisch verließ.
»Würden Sie das bitte unterlassen«, ermahnte die Dealerin Bahring.
»Ja, ja, schon klar.«
Korhonen hatte ihre Frage ignoriert. Sara dachte an die Hand zurück, bei der die Finnin redselig geworden war und sie ausgebootet hatte. Nun schwieg sie also – gut. Sara erhöhte. Ihr Junge war plötzlich ein guter Kicker, zu den zwei auf dem Tisch liegenden Paaren. In ihren Handflächen fühlte Sara den Schweiß, der sich dort gebildet hatte. Sie vertraute zwar ihrem Instinkt, doch die Anspannung blieb an diesem Abend ihre stetige Begleiterin.
Korhonen foldete. Lächelnd sammelte Sara ihre Chips ein.
»Das Foto von Ihnen und Dixon ist wirklich charmant«, sagte sie dabei. Korhonen funkelte sie an.
Die nächste Pause war noch weit entfernt. Sara stand trotzdem auf. Es nutzte nichts, sie musste auf Toilette. Schnellen Schrittes eilte sie quer durch den Raum. An der Bar sah sie Linus sitzen, der sich auf sein Tablet konzentrierte.
In seiner Nähe stand die Barfrau, die gerade ein paar Gläser einsortierte, aber dabei zweimal zu Linus blickte. Sara schnaubte leise. Sie bat ihn, einen Mord mit aufzuklären. Und das Erste, was er tat, war alle anwesenden Frauen verrückt zu machen, sie selbst inklusive. Typisch.
Sara hörte jemand anderen die Toilette betreten, dachte sich jedoch nichts dabei. Als sie die Tür ihrer Kabine wieder öffnete, stand Tanja Korhonen direkt vor ihr. Die Finnin hatte die Hände in die Hüften gepresst, es sah aus, als wolle sie sich gleich auf Sara stürzen. Ihr Gesicht und ihr Dekolleté waren von roten Flecken übersät. Korhonen war ein paar Zentimeter größer als Sara und wog mindestens zehn Kilo mehr. Allerdings jagte ihre Pose Sara keine Angst ein. Sie absolvierte regelmäßig Nahkampftraining. Falls Korhonen handgreiflich werden sollte, würde sie das sehr schnell bereuen.
Doch die Finnin starrte sie bloß an.
»Ja?«, fragte Sara daher nach einem Moment unbehaglichen Schweigens.
»Was wollen Sie von mir?«, presste Korhonen heraus. »Warum hören Sie nicht auf, nach Joel und mir zu fragen? Wollen Sie mich demütigen?« Ihre Stimme überschlug sich dabei vor Aufregung.
»Nein«, antwortete Sara sofort. Sie sah Tränen in Korhonens Augen aufblitzen.
»Dann hören Sie mit Ihren Fragen auf!«
Sara schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, so einfach ist das nicht.«
»Was wollen Sie denn hören?« Korhonen schrie jetzt. »Dass ich ihn geliebt habe? Dass er mich hat sitzen lassen? Damit es auch der Letzte weiß, der es damals nicht mitbekommen hat?« Ein Schluchzen entwich ihrer Kehle. »Ich habe ihn geliebt, immer noch. Und jetzt ist er tot. Ich fühle mich die ganze Zeit wie in einem schlechten Traum da draußen am Tisch, weil ich denke, jede Minute müsste Joel zurückkommen, sich wieder setzen und die nächste Hand gewinnen.« Korhonens Schultern sackten nach vorn, ihre Hände schlug sie vors Gesicht. Es sah aus, als würde die ganze Frau in sich zusammensacken.
Sara ging langsam einen Schritt auf die Finnin zu. Ihr Kummer wirkte echt. Hatte sie keine Mörderin, sondern eine trauernde, verlassene Frau vor sich? Vorhin, als Dixon tot am Boden lag, hatte sie ihrem Instinkt vertraut, dass er ermordet worden war. Sollte sie das wieder tun? Die Kollegen von der Kripo würden sie wahrscheinlich auslachen, wenn sie sie jetzt sehen könnten, dachte sie. Aber Sara beschloss, trotzdem ihrem Gefühl zu folgen und nahm Korhonen in die Arme, die sofort noch lauter schluchzte.
»Die Skitour damals war die schönste meines Lebens. Wir hatten uns ein paar Wochen vorher richtig kennengelernt und ich hatte ihn dazu überredet, mich zu Hause zu besuchen. Er war ein Naturtalent auf Skiern.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Sara trat wieder einen Schritt zurück »Joel war in fast allem ein gottverdammtes Naturtalent.«
»Wussten Sie nicht, dass er verheiratet war?«
»Es war mir egal. Er klang so, als sei es ihm egal. Er hat mir den Hof gemacht, richtig altmodisch mit Blumen und Überraschungsgeschenken.« Sie blickte zu Boden. »Ich dachte, es wäre ihm genauso ernst wie mir.«
»Aber das war es nicht.«
»Nein. Nach ein paar Wochen fing ich wohl an, langweilig zu werden. Plötzlich hatte er keine Zeit mehr für mich. ›Du warst nicht die Erste und die wirst nicht die Letzte sein, die wegen Joel weint‹, hat Ted Ashen irgendwann zu mir gesagt. Und dann hat er sich von mir unter den Tisch saufen lassen. Der gute Ted.« Korhonen versuchte ein Lächeln, das jedoch sofort wieder verschwand. »Irgendwann hat mich Joel noch einmal beiseite genommen und gesagt, er wäre nicht gut für mich. Ich sollte mir einen Jüngeren suchen, einen Besseren. Ich sagte ihm, dass ich ihn wolle, aber er beharrte darauf, nicht der Richtige für mich zu sein. ›Du bist eine tolle Frau, Tanja‹, hat er zu mir gesagt. Das weiß ich noch.« Sie lächelte traurig, als sie das erzählte.
»Ich habe mich daran gewöhnt, Joel wieder zu begegnen, am selben Tisch wie er zu sitzen und nicht nervös zu werden. Aber wirklich darüber hinweggekommen bin ich nicht.«
»Das tut mir leid«, sagte Sara. »Wirklich.«
Korhonen nickte. Als sie aufblickte, verengten sich ihre Augen. »Eigentlich wollte ich das gar nicht alles sagen. Ich will wissen, warum Sie diese Fragen stellen.«
Sara hatte befürchtet, dass die Finnin darauf zurückkommen würde. Sie war unsicher, ob sie ihre Befürchtungen mit ihr teilen sollte. Falls sie sich irrte und Korhonen doch in den Mord verwickelt war, konnte sie damit all ihre Bemühungen zunichtemachen. Sara blickte Korhonen forschend in die Augen. Sie waren gerötet von der Aufregung und vom Weinen, genau wie ihr Gesicht. Sara atmete tief durch. Sie hatte die Entscheidung getroffen, ihrem Gefühl zu folgen, das würde sie weiter tun.
»Ich fürchte, Joel Dixon wurde ermordet.«
Korhonen schlug die Hände vor den Mund. »Was? Wieso?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich habe noch keinen eindeutigen Beweis, nur Vermutungen.« Als Erklärung schob sie hinterher: »Ich bin Polizistin.«
Korhonen war schnell von Begriff. »Und Sie haben mich verdächtigt?«
Sara nickte. »Sie und jeden anderen am Tisch.«
»Oh.« Die Finnin schien nach den richtigen Worten zu suchen. Sie fand sie nicht. »Oh«, sagte sie noch einmal. Korhonen ging drei, vier Schritte zurück, wodurch sie sich gegen die Wand lehnen konnte. Anscheinend hatte sie die Stütze nötig. Sie tat Sara leid, doch die Fragen, die sie hatte, konnten nicht warten.
»Halten Sie es für möglich, dass einer der anderen Spieler Joel Dixon ermordet hat?«
Korhonen stützte ihr Kinn in die linke Hand. Es dauerte, ehe sie antwortete. »Keine Ahnung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ermordet wurde. Wer sollte Joel töten? Und warum?«
»Es gibt immer jemanden, der profitiert. Seine Erben zum Beispiel. Oder jemand wollte sich rächen.«
Korhonen stockte, blieb aber still. »Das ist mir zu viel«, sagte sie schließlich. »Ich gehe wieder an den Tisch.«
»Ja, ich auch. Behalten Sie bitte die Mordtheorie für sich.«
Die Finnin nickte. »Gehen Sie ruhig vor. Ich brauche noch einen Moment.«
Sie hatten das Ausscheiden von Clemens Bahring verpasst. Mads Richardsen hatte die Glückssträhne des Deutschen beendet, sagte Jarun zu Sara, als sie sich wieder setzte. Bahring war mit Vier-Drei suited All-In gegangen und in Richardsens Achter-Paar gelaufen. Jarun grinste breit. »Sehr schade! Eigentlich wollte ich die Chips einsacken«, flüsterte er Sara zwinkernd zu.
Sie schenkte dem Russen weniger Aufmerksamkeit als Korhonen, die mit noch immer rotfleckigem Gesicht zurück zum Tisch kam. Sobald sie saß, begann sie, ihre Chips zu zählen, neu zu stapeln und dann noch einmal zu zählen. Zwischendurch linste die Finnin zu den anderen Spielern hinüber. Vor allem bei Ted Ashen verweilte ihr Blick lange.
Sara ging im Kopf die Liste ihrer Verdächtigen durch.
Sie war gewillt, Korhonen zu streichen. Damit rückte Liam Newton, Dixons unglücklicher Geschäftspartner, in den Mittelpunkt des Interesses.
Grigori Jarun hatte schlecht über Dixon geredet, doch das allein machte ihn nicht verdächtig.
Ein ihr bislang unbekanntes Motiv vermutete sie am ehesten bei Ted Ashen. Da die beiden sich lange gekannt hatten, hatten sie auch reichlich Zeit gehabt, sich zu überwerfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass zwischen Freunden eine Feindschaft entstünde.
Sara ließ ihren Blick schweifen. Rechts von ihr saß der mit Kapuzenpulli und Sonnenbrille vermummte Kurt Hofmann, der vielleicht nichts mit Dixon zu tun gehabt, aber dennoch Dreck am Stecken hatte. Der Letzte in der Runde, ihr quer gegenüber, war der junge Däne. Trotz des eben eingestrichenen Gewinns sah Mads Richardsen unglücklich aus. Ob das, was ihn bedrückte, mit dem Mord an Joel Dixon zusammenhing?