The Hammer

Sara entspannte sich, als sie den Flop sah.

Pik-Dame, Kreuz-Fünf, Kreuz-König.

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Sie hatte Kreuz-Junge und Pik-König auf der Hand. Kurt Hofmann zeigte keine Reaktion.

»Wissen Sie«, sagte Sara mit Blick auf den anderen Spieler, »wenn ich diese Hand gegen Dixon gespielt hätte, hätte ich jetzt gedacht, er hält garantiert Fünfen oder Damen. Ist Ihnen das auch so gegangen?« Sie hatte beschlossen, auch dem Schweizer auf den Zahn zu fühlen. Lieber eine Frage zu viel als eine zu wenig.

Hofmann zuckte mit den Schultern. Gut, das war immerhin eine Reaktion. Damit konnte Sara arbeiten.

»Kannten Sie ihn eigentlich?«

Hofmann ließ weiter drei Chips zwischen seinen Fingern hin- und hergleiten. Aber er antwortete. Leicht nuschelnd, den Kopf etwas geneigt, sodass er wohl eher auf seine Hände sah als zu Sara. Wegen seiner verspiegelten Sonnenbrille konnte sie seine Blickrichtung nur erahnen. »Hab’ ihn heute das erste Mal gesehen.«

Sara war fest davon überzeugt, dass Hofmann log. Sie hoffte, ihn aus der Reserve zu locken.

»Echt? Sie haben ihn nie im Fernsehen gesehen?«, fragte sie, mit einem möglichst naiv klingendem Ton.

Jetzt hob Hofmann leicht den Kopf. Einen Moment wirkte er irritiert. Sara hätte gewettet, dass seine Augen sich weiteten, was leider die Sonnenbrille verbarg. Treffer! So reagierte nur jemand, der sich bei einer Lüge ertappt fühlte.

Er fing sich natürlich schnell, murmelte: »Im Fernsehen, ja, klar. Wenn Sie meinen, dass das zählt.«

Sara konnte er damit nichts vormachen. Er war Dixon schon begegnet. Damit war er noch nicht in den Kreis der Verdächtigen aufgerückt, aber ein sinnvolleres Ziel für einige Fragen geworden.

Der Dealer drehte den Karo-König um, besser konnte es gar nicht laufen.

Hofmann checkte nur und zahlte brav, nachdem Sara gesetzt hatte.

»Wenn Sie hier gewinnen, bekommen Sie ruckzuck bei einem der großen Anbieter einen Vertrag«, sagte Sara.

Hofmann schnaubte kurz. Er kaschierte diese Reaktion durch ein gekünsteltes Hüsteln, aber da war es schon zu spät.

»Ach, den haben Sie schon längst«, sagte sie. Je länger Sara den Schweizer betrachtete, desto mehr verfestige sich eine Theorie in ihrem Kopf. Hofmann tat so, als sei er ein Laie, der seit Kurzem online spielte, was definitiv gelogen war. Ein bekannter Profi war er jedoch nicht.

Doch es gab im Poker eine andere Art von Profis. Sie konnte sich vorstellen, dass Hofmann auf einer Pokerplattform tagein, tagaus spielte und davon gut leben konnte. Es gab viele solcher Leute: Sehr erfolgreich, aber nicht auffällig genug, als dass sie sich einen Namen machen würden. Diese Profis spielten ein Dutzend Tische oder mehr gleichzeitig. Dabei hatten sie ein Statistikprogramm laufen, dass ihre Chancen bei einer Hand ausrechnete und die Züge der Gegner einordnete. Wer konsequent so spielte, machte letztendlich einen Gewinn. Denn im Gegensatz zu diesen Profis verhielten sich die anderen Spieler selbst bei größter Selbstbeherrschung irgendwann irrational, sodass sie auf lange Sicht verloren. Selbst wenn die anderen manchmal Glück hatten, unterm Strich floss das Geld immer in eine Richtung: die des Profis. Vielleicht hatte Hofmann tatsächlich einen Vertrag mit einem Plattformbetreiber, Sara hatte gehört, dass es so etwas gab.

Doch jetzt ließ sich Hofmann keine weitere Reaktion mehr entlocken. Er foldete, als Sara wieder setzte, und zog sich die Kapuze noch tiefer ins Gesicht.

Newton und Hofmann waren im Spiel, auf dem Tisch lagen zwei Zehnen, Neun, und ein Ass.

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Sara hatte Acht und Sieben weggeworfen und hätte jetzt einen Straight-Draw gebabt – einen auf die potenziell schlechtere Straße. Aber das war irrelevant, da sie aus der Partie ausgestiegen war. Stattdessen grübelte sie, was die beiden in der Hand hielten. Gute Blätter, ohne Frage, in der Mitte hatte sich ein schwindelerregender Pot aufgetürmt. Sie vermutete, am Ende einen Zehner-Drilling oder besseres zu sehen, falls beide aufdeckten. Wobei es auch möglich war, dass die beiden einen Straight- oder Flush-Draw hielten.

Newton plauderte wieder, eben hatte er sogar die Sonnenbrille seines Gegners als besonders hübsches Exemplar gelobt und gefragt, woher er sie denn habe.

»Online gekauft«, hatte Hofmann nur gemurmelt.

»Was arbeiten Sie eigentlich?«, fragte Newton.

Sara hielt die Luft an. Wie großartig war das denn! Newton griff den Faden ihres Gesprächs mit Hofmann auf. Sie blickte zu ihm und merkte, dass er in ihre Richtung lächelte.

Hofmann verschränkte die Arme. »Das geht euch alle gar nichts an.«

Herrlich, er ließ sich in die Defensive drängen.

»Aber wie Sie dabei Dixon kennengelernt haben, das könnten Sie schon erzählen«, warf Sara ein.

»Ja, das würde mich auch interessieren«, sagte Newton. Dass der Dealer gerade eine Kreuz-Acht umdrehte, schien ihm da gerade recht zu kommen. Er war ja als Erster an der Reihe. »Nun sagen Sie schon.«

Ted Ashen hatte sich ebenfalls nach vorn gelehnt und musterte, die Augen leicht zusammengekniffen, den Schweizer. Der Amerikaner schien allein durch sein auffälliges Schweigen Hofmanns offensichtliches Unbehagen weiter zu steigern.

»Ey, damit ihr endlich Ruhe gebt«, platzte es aus Hofmann heraus. »Ich erzähle es. Ich lebe seit Jahren vom Pokern, okay? Online. Ein Bekannter von mir ist Geschäftsführer bei einer der großen Plattformen, deshalb bekomme ich da einiges mit. Nein, ich werde nicht sagen, welche, so weit kommt’s noch! Vor ein paar Wochen hat er mir erzählt, dass Dixon einen Vertrag mit ihm aushandeln wollte. Ich war bei einem Geschäfts­essen mit, wollte den Mann einmal live erleben. Wir haben ein paar Sätze gewechselt, das war’s. Da kam ich auch auf die Idee, endlich mal ein großes Turnier live mitzuspielen. Vorhin hat er mich nicht mal erkannt.«

Oder Dixon hatte nur so getan, um seinen Gegner zu verunsichern, dachte Sara sofort.

Das Pokerspiel lief weiter. Newton wählte diesen Moment, um die Summe im Pot zu verdoppeln.

Hofmann sah das, doch er blickte gleich wieder rundum die Spieler an und sprach weiter. »Ich fand es ziemlich gerissen, dass er den Preis für sich hochgetrieben hat – mit diesem Gespenst einer neuen Plattform, der großen Konkurrenz«, sagte der Schweizer.

Sara hörte Hofmann nur, ihre Augen hatte sie auf Liam Newton gerichtet. Der war ganz still geworden, äußerst ungewöhnlich für ihn. Nun faltete er die Hände, anstatt weiter mit Chips herumzuspielen.

Hofmann überlegte nur kurz, bevor er den Einsatz bezahlte, was sich als Fehler herausstellte. Newton drehte Dame und Junge um, womit er eine Straße hatte: von der Acht bis zur Dame. Hofmann zeigte seine Karten, obwohl er das nicht mehr musste – Zehn und Dame, er hatte also den Zehner-Drilling. Gut, aber nicht gut genug. Sara grinste, sie hatte richtig gelegen, wieder einmal. Langsam gelang es ihr, diese Leute einzuschätzen. Und nach und nach gaben sie auch ihr Wissen über Dixon preis.

Sie würde den Mörder noch entlarven.

Sara foldete das nächste Handblatt gleich – Sieben und zwei unsuited. Die Kombination war das schlechteste Blatt, das man aufnehmen konnte. Manche spielten es gerade deswegen gern, weil kein Gegner damit rechnete. Aber das hier war ein schlechter Moment für solche verrückten Aktionen. Sara war zufrieden, dass sie ein wenig nachdenken und Newton weiter beobachten konnte.

Hofmanns Geschichte klang, als hätte Joel Dixon seinen ›Geschäftspartner‹ Newton nur ausgenutzt, um mit dem Gespenst einer neuen, ernst zu nehmenden Konkurrenz seine eigene Position bei der Verhandlung mit den schon bestehenden Plattformen zu verbessern. Ein klassischer Bluff. Sara konnte sich vorstellen, dass Dixon diese Vorgehensweise von vornherein geplant und nie vorgehabt hatte, das Projekt mit Newton durchzuziehen. Und selbst wenn das nicht der Fall war, war der alte Amerikaner zumindest im passenden Moment abgesprungen, um das Beste aus der Situation zu machen. Nach allem, was sie inzwischen über Dixon gehört hatte, glaubte Sara eher an die erste Möglichkeit.

Sara nahm an, dass es in Liam Newton gerade brodelte. Um das zu verbergen, schwieg er. Er war wütend, an diesen Verrat erinnert zu werden. War er wütend genug gewesen, Dixon zu ermorden? Sie beschloss, dass es möglich wäre. Aber sie hoffte, dass der Brite nicht der Mörder hier am Tisch war. Irgendwie mochte sie ihn – auch wenn er sie höchstwahrscheinlich nur anlächelte, um sie beim Spiel zu verunsichern.

*

Miguel Peres stand, eine Zigarette rauchend, vor der Einfahrt zur Rechtsmedizin. Drinnen in seinem Büro warteten zwei Dutzend Bücher veralteter medizinischer Literatur und Fachzeitschriften auf ihn. Er gönnte sich nur eine kurze Pause, ehe er sich ihnen wieder widmen wollte. Der Mediziner nutzte die ruhigen Nachtstunden oft für die Arbeit an seiner Habilitation. Tagsüber kam doch immer was dazwischen.

Ein feiner Sprühregen hatte genau in dem Moment eingesetzt, in dem er vor die Tür getreten war. Er hatte sich trotzdem nicht untergestellt. Er arbeitete daran, sich dem Verhalten der Hamburger anzupassen. Keine leichte Aufgabe. Peres, der seine Kindheit in Portugal verbracht hatte, hätte bis vor Kurzem bei solch einem Wetter die Flucht nach drinnen angetreten – oder wenigstens unter einen Regenschirm. Aber die Norddeutschen, die zuckten bloß mit den Schultern und erduldeten den Guss. Und wenn dazu noch ein Sturm ausbrach, schienen sie das Wetter erst richtig zu genießen. Seine Freundin Jule zerrte ihn bei den schlimmsten Wetterlagen zum Spaziergang vor die Tür. »Schau dir den Himmel an, das sieht doch fantastisch aus!«, rief sie dann. Sie nannte es auch nicht spazieren, sondern auslüften. Da er nicht als Memme gelten wollte, musste Miguel Peres sich also abhärten.

Peres wollte den Zigarettenstummel gerade ausdrücken und wieder reingehen, als ein Streifenwagen in die Einfahrt bog und dort – den Weg versperrend – stehenblieb. Zwei Polizisten stiegen aus, ein jüngerer Mann und eine etwas ältere Frau. Der Polizist beugte sich noch einmal zurück ins Auto, um etwas herauszuholen, da stapfte seine Kollegin bereits quer über den Rasen auf den Eingang zu.

Peres hatte erwartet, die zwei würden an ihm vorbei hineingehen, doch die Polizistin blieb vor ihm stehen.

»Guten Abend«, sagte sie. »Mein Name ist Bäseke.« Sie reichte ihm die Hand. Ihr Begleiter Rust stellte sich kurz darauf ebenfalls vor.

»Guten Abend«, antwortete Peres. Gute Nacht hätte es natürlich besser getroffen. »Was gibt es denn?«

»Was uns zu Ihnen führt ist, nun ja, halboffiziell«, setzte die Polizistin an.

»Halboffiziell?« Peres zog eine Augenbraue hoch. So etwas war ihm hier noch nicht untergekommen. Dafür lohnte sich die Unterbrechung vielleicht.

Die beiden Polizisten wechselten kurz einen Blick, es schien eine stumme Verhandlung zu sein, wer die Angelegenheit vortragen musste. Offensichtlich gewann Bäseke.

»Nennen wir es einen Gefallen für eine Kollegin«, sagte Rust. Er hielt die Flasche nach vorn. »Vor ein paar Stunden ist ein US-amerikanischer Staatsbürger im Hotel H3 gestorben, ein gewisser Joel Dixon. Der Leichnam müsste schon hier sein. Die vorläufige Diagnose des Notarztes lautete: Infarkt. Nichts Ungewöhnliches also, abgesehen vom Ort, an dem es passierte. Aber eine Kollegin, die privat im Hotel war, vermutete …«, er geriet ins Stocken.

»Wir fanden ihre Vermutung nicht sehr schlüssig«, fiel ihm Bäseke ins Wort.

»Nein, fanden wir nicht«, sagte Rust. »Die Kripo wurde bisher nicht eingeschaltet, es gab ja keinen Grund, das dringend an die Bereitschaft zu geben. Die können sich morgen früh in aller Ruhe mit dem Vorgang befassen. Um ihn dann höchstwahrscheinlich zu den Akten zu legen. Aber wir haben trotzdem gesagt, wir bringen die Flasche vorbei und lassen sie mal überprüfen. Als Gefallen unter Kollegen, Sie wissen schon.«

»Sie hatte wohl das Gefühl, dass heute Nacht noch etwas passieren muss«, mischte sich Bäseke ein. »Sie war ziemlich aufgekratzt, wenn Sie mich fragen. Da lief so ein … Pokerturnier.« Sie spuckte das letzte Wort förmlich aus, als wolle sie sich schnellstmöglich davon distanzieren.

Peres sah von einem zum anderen. »Und darum stehen Sie jetzt mit einer Wasserflasche vor mir? Um was geht es denn genau?«

»Die Kollegin vermutete, der Mann wurde vergiftet.« Rust lief leicht rot an, als er das sagte.

Peres stieß einen kurzen Pfiff aus. »Interessant.«

Bäseke klappte die Kinnlade herunter. »Finden Sie? Der Notarzt fand es abwegig. Meinen Sie etwa, das war gar kein Humbug?«

»Da müssen Sie mich später noch einmal fragen. Wir machen keine Ferndiagnosen.« Der Scherz kam bei Rust und Bäseke offensichtlich nicht an. »Wie kam Ihre Kollegin auf diese Idee?«

»Eine gute Frage!«, rief Bäseke.

»Das haben wir sie nämlich auch gefragt«, sagte Rust, da fiel ihm die Polizistin wieder ins Wort.

»Instinkt, hat sie gesagt. Mehr nicht. Das ist doch keine Grundlage! Instinkt!« Sie fing dabei an, zu gestikulieren. »Wo kämen wir denn hin, wenn alle bloß ihrem Instinkt folgen?«

Rust hielt immer noch die Flasche leicht von sich weg, wohl in der Hoffnung, dass sie ihm endlich abgenommen werden würde. Miguel Peres tat ihm den Gefallen.

»Ich brauche aber etwas Schriftliches.«

»Hab ich dir doch gesagt«, sagte Rust zu Bäseke. »Auch halboffiziell ist irgendwie offiziell.«

Sie seufzte. »Ja, aber vorbereitet hast du trotzdem nichts, du Schnacker.« Ohne einen weiteren Blick auf die beiden Männer lief Bäseke wieder quer über den Rasen zum Streifenwagen.

»Und was hat Ihre Kollegin im H3 gemacht?«, fragte Peres den Polizisten.

»Die Bäseke, also, …«, fing er an.

Peres seufzte. »Nein, die andere. Die mit dem Verdacht.«

Rust grinste. Peres fragte sich, ob der Polizist ihn gerade auf den Arm genommen hatte.

»Ach so, Sie meinen die Frau Hansen. Die hat Poker gespielt. Bei diesem Turnier, wegen dem auch der Tote angereist war.«

»Ach was, der Mann war schon tot, als er angereist ist?«, sagte Peres. »Das ist ja ein Ding.«

»Sie wissen schon, was ich meine.« Rust verdrehte die Augen. »Spaß beiseite, Frau Hansen schien den Verstorbenen zu kennen«, sagte er dann. »Kam mir vor, als würde sie das persönlich sehr mitnehmen. Ich hoffe ja, sie hat da keine Ermittlung auf eigene Faust gestartet, so à la ›Tatort‹ – allein und ohne richtige Befugnis.«

»So Wasserflaschen-mäßig halboffiziell, meinen Sie«, sagte Peres.

»Wenn Sie das so sagen wollen: Ja, genau so was meine ich.«

Bäseke kam mit einem Zettel zurück. »Bitte sehr. Und die Karte der Kollegin bekommen Sie gleich dazu. Wir sind dann nämlich raus aus der Sache. In zehn Minuten haben wir sowieso Schichtende.«

Peres stellte die Flasche auf den Tresen.

»Lässt du dir jetzt Getränke von Polizisten liefern?«, fragte Jochen, der heute die Nachtschicht hatte.

»Schön wär’s. Die ist für die Toxikologie.«

»Soll ich…«

»Nein, die bringe ich gleich selbst vorbei. Liegt unten ein Joel Dixon?«

»Ja.«

»Okay, danke.«

Vom Empfang zu seinem Büro war es nur ein kleiner Umweg zu den Kühlschränken, in denen Beweismittel für die Toxikologie aufbewahrt wurden. Wegen einer ›halboffiziellen‹ Angelegenheit würde er die Toxikologen nicht in einer Sonntagnacht aufschrecken. Dass die Polizisten die Flasche noch in der Nacht vorbeigebracht hatten, war sicher eine nette Geste unter Kollegen. Aber das war’s dann auch. Ob heute Nacht oder morgen früh mit der Analyse begonnen würde, machte bei dem Zeitaufwand der üblichen Tests kaum einen Unterschied aus.

Falls sich tatsächlich Gift in dem Wasser befinden sollte, wäre das ein interessanter Fall, dachte Miguel Peres. Giftmorde kamen einem selten unter. Er würde sich den Leichnam allein deshalb gleich ansehen.

*

Sara eilte zu Linus, der ihr eine SMS geschickt hatte, dass er im 16. Stock auf sie wartete. Sie wollte die Neuigkeiten mit ihm besprechen. Außerdem klang es so, als hätte er selbst etwas herausgefunden. Sie musste sich beeilen, jede Minute jenseits des Tisches ließ ihren Stack schrumpfen.

»Organisiertes Verbrechen«, sagte sie kühl, als Linus von seinem Chat mit Mr. P. berichtete. »Wer denn genau? Mafia? Yakuza? Triaden?« Sie verzog keine Miene. Linus überlegte, ob sie sich lustig über ihn machte.

»Hey, keine Ahnung. Wahrscheinlich nichts davon. Ich gebe nur weiter, was ich zusammengetragen habe. Ich bin doch bloß der zweite Ermittler, den du herbeordert hast.« Er hob abwehrend die Hände, als er das sagte. »Und ich mache einen verdammt guten Job, wenn man bedenkt, dass ich keinen müden Cent dafür bekomme.« Es klang auch in Linus’ Ohren unnötig weinerlich, was er da sagte.

»Ach komm, Linus. Organisiertes Verbrechen ist also deine heiße Spur? Du willst mich auf den Arm nehmen.« Sie funkelte ihn an.

»Nein, wirklich nicht. Das hat er geschrieben. Wahrscheinlich ist es Unsinn, aber ich wollte es dir nicht vorenthalten. Entschuldigung.« Wieso rechtfertigte er sich eigentlich?, fragte sich Linus noch während er antwortete. Er tat Sara schließlich einen Gefallen. Als er gerade den Mund öffnen wollte, grinste sie plötzlich.

»Keine Ursache, du musst dich nicht entschuldigen.«

Linus schüttelte den Kopf. Sie hatte ihn reingelegt. Früher, wenn sie sich geneckt hatten, war das immer das Hauptziel gewesen: Dass der andere sich für etwas entschuldigt, obwohl es gar nicht zu verzeihen gab.

»Miststück«, sagte er also. Sie ließ es an sich abperlen.

»Gern geschehen.« Ihr Blick wurde ernst. »Hat der Typ dir irgendetwas Plausibles erzählt?«

»Nein, leider nicht. Ich bin auch mit Jenna nicht weitergekommen. Sie war kein Kind von Traurigkeit. Und dann war sie plötzlich verlobt. Und später hat Jenna ebenso plötzlich gekündigt und ist abgetaucht. Klingt nach einer ziemlich sprunghaften Person.« Linus zuckte mit den Schultern. »Die anderen Kellnerinnen wissen nichts über Jenna. Und solange ich keinen Nachnamen habe, werde ich im Internet kaum etwas über ihren jetzigen Aufenthaltsort finden. ›Jenna‹ oder Jennifer allein ist zu unspezifisch.«

»Schade«, sagte Sara. »Zum Glück war ich erfolgreicher als du.« Sara erzählte von Hofmanns Bericht, demzufolge Dixon wohl seinen Geschäftspartner Liam Newton reingelegt hatte.

»Dein Held, der Betrüger«, sagte Linus.

»Hey«, setzte Sara an, doch dann wurde sie still.

Tanja Korhonen kam den Gang entlang direkt auf sie zu. Warum war sie nicht am Tisch? Die Finnin blieb ein Stück entfernt stehen.

»Tut mir leid, ich bin Ihnen gefolgt, als Sie aufgestanden sind und habe gesehen, dass Sie in diesen Stock fahren. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Aber es kann auch nicht warten. Können wir reden?«, fragte sie Sara mit leiser Stimme.

»Sicher.«

Korhonen blickte zu Linus.

»Ein Bekannter von mir«, erklärte Sara. »Würdest du uns einen Moment allein lassen, Linus?«

»Klar. Bin schon weg«

Linus sammelte seine Sachen ein und ging ein Stück den Flur entlang, wo er sich gegen die Wand lehnte. Das musste den beiden als Privatsphäre reichen.

»Ich habe über unser Gespräch vorhin nachgedacht.« Korhonen knetete den Ringfinger ihrer rechten Hand, während sie sprach. »Das ist jetzt keine Verdächtigung, was ich Ihnen erzähle. Verstehen Sie es also bitte nicht falsch.«

Sara nickte nur, sie wollte die Finnin auf keinen Fall unterbrechen. Sonst würde sie es sich noch anders überlegen und gehen, ohne etwas verraten zu haben. Denn offensichtlich rang sie mit sich, ob sie überhaupt auspacken sollte.

Korhonen atmete tief durch. »Ich kann nicht recht glauben, dass Joel ermordet wurde. Aber da sie ja nun einmal Polizistin sind und das vermuten und sicher nur das Beste wollen, für Joel und für alle anderen …« Sie stockte wieder und blickte auf ihren Finger, den sie immer noch knetete.

Sie brauchte offensichtlich einen Schubs. Sara streckte ihre Hände vor und ergriff die von Korhonen. »Sie können es mir sagen.«

»Ted«, sagte Korhonen, »Ted hatte etwas mit Dixons Frau Francine.«

»Oh nein«, murmelte Sara, zu überrascht, um etwas Vernünftiges zu antworten.

»Nicht dass jemand deswegen Joel hätte umbringen wollen«, sagte Korhonen. »Ich dachte nur, es sei besser, Ihnen das zu sagen.«

»Können Sie mir mehr darüber erzählen? Wie lange hatten die beiden eine Affäre? Wusste Joel Dixon davon?«

Korhonen zuckte mit den Schultern. Sie zog ihre Hände zurück, was Sara geschehen ließ. Jetzt redete die Finnin ja. »Ich weiß es nicht genau. Es ist nicht so, dass ich beide darüber ausgefragt hätte. Ich habe es nur mitbekommen, eher zufällig.«

»Wie lange ist das her?«

»Ein halbes Jahr ungefähr.«

»Aber sie waren doch befreundet, Joel Dixon und Ted Ashen?«

Korhonen nickte. »Ja.«

»Das Verhältnis von Ashen und Dixon war also unverändert?«

»Ich habe keinen Unterschied bemerkt, wenn ich beide zusammen gesehen habe, doch ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie lange das schon lief. Vielleicht schon länger, als ich die beiden kenne.«

»Glauben Sie, Joel Dixon wusste es?«

»Das wäre möglich. Immerhin hat er sich alle Freiheiten genommen, die er …« Korhonen brach den Satz ab.

»Wie haben Sie überhaupt davon erfahren?«

»Ted hat sich verplappert, was eigentlich nicht seine Art ist. Wir waren beide bei einem Turnier in Moskau früh ausgeschieden und hatten eine Menge Wodka intus.« Korhonen grinste. »Er noch mehr als ich. Ich habe nicht nach Details gefragt.«

»Kennen Sie Francine Dixon persönlich?«

»Nein, ich habe ihr ein paarmal die Hand geschüttelt, wenn sie bei Turnieren in den USA mit angereist war. Aber jenseits von ›Hi‹ und ›Bye‹ haben wir nie ein Wort miteinander gewechselt. Ich weiß auch nicht, ob sie von Joel und mir wusste.«

Klar, dachte Sara, es war Korhonen peinlich gewesen.

»Danke, dass Sie mir das anvertraut haben«, sagte Sara.

»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte die Finnin.

»Erst einmal weiter beobachten – und fragen. Verraten Sie niemandem etwas. Bitte!«

»Nein, das werde ich nicht.« Korhonen blickte auf eine der Uhren an der Wand. »Wir sollten wieder hoch.«

»Gehen Sie schon vor, ich komme gleich nach.«

Korhonen war gerade erst aufgestanden, da stand Linus wieder neben Sara. »Und?«

Sara war froh, dass auf Linus’ Neugier derart Verlass war. Es tat ihr gut, mit jemandem ihre Gedanken auszutauschen. Er schlug sofort vor, Francine Dixon noch einmal anzurufen.

»Was willst du sie denn fragen?«

»Alles Mögliche. Ob sie tatsächlich etwas mit Ted Ashen hatte. Deine Spielerfreundin kann ja lügen. Ob der Verblichene tatsächlich so wenig Geld hinterlassen hat, wie sie zuerst behauptet hat. Vielleicht höre ich raus, ob sie etwas verschweigt – und damit auf deiner Liste der Verdächtigen landet. Zumindest als Komplizin oder Auftraggeberin.«

»Ein weiterer Anruf kann jedenfalls nicht schaden. Nach dem, was Hofmann erzählt hat, bezweifle ich, dass Dixon mit der Pokerplattform wirklich Geld verbrannt hat. Es klang eher, als hätte er am Ende gut daran verdient.«

»Der Mann wird mir immer unsympathischer«, sagte Linus. Sara bemerkte, wie Linus kurz die Stirn runzelte. Es kam ihr vor, als würde er noch etwas sagen wollen. Doch er zuckte nur mit den Schultern und meinte: »Wirklich unsympathisch.«

»So etwas hat der Mörder wohl auch gedacht.«

»Oder die Mörderin. Verdächtigst du Korhonen gar nicht mehr? Oder Francine Dixon?«

»Meinetwegen«, seufzte Sara, »wenn du mir jetzt mit sprachlich korrekten Gleichberechtigungsformulierungen kommen willst. Der oder die Mordende dachte wohl auch so etwas. Entschuldige diesen Fauxpas meinerseits. Es ist ziemlich spät, weißt du?«

»Ach komm, dafür musst du dich doch nicht entschuldigen.« Linus zwinkerte. »Gleichstand. Und jetzt fahr wieder nach oben, ich begleite dich.«

»Ja, ich habe genug vom Spiel verpasst.«

»Vielleicht bekomme ich noch etwas über Jenna heraus. Diese Barfrau verschweigt mir etwas.«

»Ist das so? Oder macht sie sich bloß dadurch verdächtig, dass sie so gut aussieht?« Sara biss sich auf die Lippen, als sie den Satz zu Ende gesprochen hatte. Was war nur in sie gefahren?

»Ach, Sara«, sagte Linus lediglich.

Sie konnte die Frage nicht zurücknehmen, aber wenigstens schnell hinter sich lassen. »Wie kommst du darauf, dass sie dir etwas verschweigt?«

»Instinkt.«

Dass der eine dünne Basis für Verdächtigungen war, konnte Sara heute natürlich nicht sagen, also meinte sie bloß: »Dann viel Erfolg.«

»Dir auch. Mach sie fertig, oder was auch immer man beim Pokern wünscht.«

Er strich mit der Handaußenfläche über ihre Schulter, beugte sich ein bisschen nach vorn und zuckte dann zurück. Es war eine seltsame Geste, eine völlig verpatzte Berührung. Linus merkte erst danach, dass er drauf und dran gewesen war, Sara einen Kuss auf die Wange zu drücken. Wie in alten Zeiten. Sie hatte nicht darauf reagiert. Zum Glück, ging Linus als Erstes durch den Kopf. Dann ärgerte es ihn ein bisschen.